Mittwoch, 24. April 2013

Glockenläuten zum Kirchentag

Liebe community, das Glockenläuten zum Kirchentag drang erst jetzt  an mein Blogger-desk.
Soeben erfuhr ich, dass bereits am 1. Mai der Evangelische Kirchentag  beginnt, just am Kampftag der  Arbeiterklasse, da gewöhnlich die Berliner Maifestspiele der arbeitsfreien Autonomen zwischen  Cotti und  Kollwitzplatz stattfinden.

Deshalb vorab meine Bitte um Nachsicht:  Ich will Sie beileibe nicht mit immer neuen News und Stuss überfluten. Doch da ich in den nächsten Tagen / Wochen womöglich gehindert bin, dem Weltgeist auf die Sprünge zu helfen, möchte ich noch schnell nachfolgenden Text in den digitalen Raum stellen.

Dazu noch eine Vorbemerkung: Es handelt sich um ein bislang unveröffentlichtes Elaborat aus meiner Zeit als ehemaliger -  und einmaliger -  taz-Autor Vor zig Jahren (anno 1999) erschien von mir  im "Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken"  ein Aufsatz über das "Elend des Protestantismus". Daraufhin rief mich ein  taz-Redakteur an und bat mich um einen Beitrag zu dem damals bevorstehenden Kirchentag in Stuttgart. Ich ließ mir von der Kirchentagsleitung die Unterlagen - ehedem  noch per Post, aber immerhin gratis - zuschicken und machte mich an die Arbeit.

Das Resultat meiner laientheologisch-praktischen Bemühungen fand der Redakteur - er war schließlich als Akteur der protestantischen Heerschau auch  persönlich involviert - leider befremdlich, nicht ohne zu erklären, dass es schon mehrfach passiert sei, dass von der taz für einen Beitrag engagierte Autoren ihre Aufgabe  nicht ganz ernst nähmen. Mein Beitrag falle in diese Kategorie.

Um den Mann nicht gänzlich zu enttäuschen,  schrieb ich noch einen anderen, dem Ernst des Bekennertages womöglich angemesseneren Artikel. Es war - sicher auch zum Bedauern meiner community  -  mein erstes und letztes publizistisches Rendez-vous mit der taz.

Da der Weltgeist seit der Verwohlfeilerung des PC nicht mehr im Papierkorb, sondern auf der Festplatte landet, ist mein Originalbeitrag erhalten geblieben. Da Charakter und Botschaft der Protestanten-Show seit Jahren/Jahrzehnten sich kaum  geändert haben, erscheint mir mein Papierkorb-Artikel von anno dunnemals noch durchaus aktuell. Revisionsbedürftig erscheinen allenthalben die Namen einiger ausgewechselten Politiker, der  Verewigten sowie der von Funktionswechsel betroffenen Kirchenfunktionärinnen, e.g. Maria Jepsen (wegen Nichtverhinderung von Kindsmissbrauch - bei den Evangelen ! - aus dem Amt geschiedene Bischöfin)) und Margot Käßmann (einst Kirchtentagschefin, dann Ratsvorsitzende der EKD, jetzt spiritus rector (f.) bei Chrismon sowie Intendantin des Luther-Jubiläums 2017).

Aus verletzter Eitelkeit (in den Papierkorb? Nie!)  und als gleichsam zeitloses Dokument stelle ich das abgewiesene taz-Produkt von 1999 zugleich  als - m.m. informative - Vorausschau  auf die diesjährige Protestanten-Rallye (1.-5.Mai 2013 in Hamburg) für meine community ins www.



Zum Kirchentag [1999]: "Womit soll man salzen?" (Matth. 5, 13)
von Herbert Ammon

Im Programm heißt es noch ganz optimistisch: „Was steht auf der Tagesordnung für ein friedliches Europa?“ Als Podiumsdiskutanten haben Verteidigungsminister Rudolf Scharping, Friedbert Pflüger und György Konrad zugesagt. Ob bei der jetzigen Debatte, die zum medialen Großereignis des Kirchentags werden dürfte, die nachdenkliche Stimme Konrads noch zur Geltung kommt, wenn Daniel Cohn-Bendit mit unübertrefflicher Selbstsicherheit den Sinn des Bombenkrieges erklärt ? Dany, der eine „Liebeserklärung an Europa“ abgeben will, hat gewiß auch, anders als Scharping, keine Bedenken beim Einsatz deutscher Bodentruppen. Vielleicht ist die Bomberei zu Beginn der protestantischen Heerschau aber auch schon beendet, dann erleben wir in der Abendschau bei Politikern und Protestanten (sc./-innen) das physiognomische Widerspiel von Entsetzen, Erleichterung und Selbstgerechtigkeit.

Dabei war der Krieg ursprünglich nur als Thema unter anderen eingeplant: „Bosnien, Kosovo und kein Ende“. Inzwischen eine Programmänderung: Wo es unter dem Motto Peace to the City - das 576 Seiten starke Programm 28. Deutschen Evangelischen Kirchentags ist kirchensprachlich durchtränkt von der koinè der Medienökumene - um Gewalt in den Fußballstadien und auf den Schulhöfen gehen sollte, wird man sich nun „dem Thema stellen, wie denn Gewalt im Kosovo zu überwinden sein könnte“. Ja, wie wohl ? „Und welche Art von Humanismus“, fragt der Realpolitiker Henry A. Kissinger, „bringt seine Abneigung gegen militärische Verluste dadurch zum Ausdruck, daß er die zivile Wirtschaft des Gegners auf Jahrzehnte hin verwüstet?“ (Newsweek, 31.Mai 1999).

In ihrem statement (i.e. Presseerklärung) erinnert die Generalsekretärin Margot Käßmann an die bisherigen Friedensbemühungen: Von Anbeginn 1949 sei es um den Frieden gegangen, vor allem in den 80er Jahren, wo bekanntlich die sandinistischen Comandantes in olivgrüner Uniform dem Frieden und dem deutsch-deutschen Kirchentagskampf gegen die Atomraketen die besondere Würze gaben, aber auch 1991 nach dem Golfkrieg und 1995 während des Bosnienkrieges. „Christinnen und Christen sehen ihre Aufgabe darin, zum Frieden zu erziehen, für Frieden zu beten und in den Frieden zu investieren“. Freilich: Über den Sinn der Investition sind Zweifel angebracht, denn die Christinnen und Christen sind „mit Blick auf die Frage nach der Legitimation von Krieg tief gespalten“.

Die Welt der Realitäten
Weiß Gott, die Welt der häßlichen Realitäten ist erneut ins Reich der schönen Gesinnung eingebrochen. Wo selbst der praeceptor Germaniae occidentalis Habermas „angesichts der begründeten Ambivalenz einer einseitigen Parteinahme“ ideologisch ins Schwimmen gerät, sind die Artisten des deutschen Protestantismus erst recht ratlos. Seit Monaten beteiligt sich die Bundesrepublik Deutschland an einem unerklärten Krieg, das Land auf dem Balkan, mit dem „unser Land“ („Von Gegenwart und Zukunft unseres Landes“) in heilloser Geschichte verknüpft ist, wird verwüstet, die Flüchtlingsströme, die es angeblich zu stoppen gilt, schwellen an, Menschen werden verstümmelt oder zu Tode gebracht. Jene Politiker/innen, die jahrzehntelang die besondere deutsche Pflicht zum Frieden beschworen, bereichern nun das Politkauderwelsch mit Begriffen wie „Kollateralschäden“, worunter der Tod Unschuldiger zu verstehen ist. Zweifel am Sinn ihres Unternehmens bannen die besseren Deutschen auf doppelte Weise: erstens metaphysisch, genauer mit der Trivialisierung von „Auschwitz“, zweitens praktisch: Die Bombenangriffe - damals mit UNO-Mandat - hätten anno 1995 die Serben zur Annahme des Dayton-Abkommens genötigt. Was verschlägt´s, daß wir soeben aus der Feder des Dayton-Vermittlers Richard Holbrooke (To End a War, 432 S.) erfahren, die Bomben hätten in erster Linie den in Siegerlaune vorrückenden bosnischen Moslems signalisieren sollen, das Abkommen samt neuen Grenzen für die Republica Srbska gefälligst zu unterschreiben. Derlei Nuancen können unser gutes Gewissen nicht irritieren, denn auch wir Deutschen haben diesmal, ganz wie im Bob-Dylan-Song, unter Führung frommer Protestanten wie Bill Clinton und Tony Blair [Einschub A.D 2013:  Tony ist inzwischen Vollblut-Katholik geworden]  „God on our side“. Wie es um Glauben und Gewissen des Protestanten Jospin bestellt ist, entzieht sich der Medienöffentlichkeit.

Nein, Gott, der Herr der Geschichte, hat sich seit der Aufklärung zurückgezogen und sein Schöpfungswerk den Menschen überlassen, zuerst den Deisten und den Pantheisten, im Gefolge der Junghegelianer wiederum jeder Art von Atheisten, in letzter Zeit hauptsächlich den Agnostikern, den Feministinnen und Moralisten. Gewiß, in den Leerräumen der alten Metaphysik wuchs Ideologie aller Art nach, mit ziemlich grauenhaften Konsequenzen im zurückliegenden Jahrhundert. Doch hatten wir nicht die Schrecken der Vergangenheit hinter uns gelassen, durch unablässige Trauerarbeit die Erkenntnis gewonnen: Nie wieder !?

Kirchentag des Hinterfragens ?
Wenn es nun doch wieder losgeht, so scheint selbst diese letzte Gewißheit dahin. Zeit zum Nachdenken, zum Umdenken: metanoeite, altmodisch übersetzt mit „Tut Buße!“ Wenn Nachdenklichkeit, Einkehr und Umkehr schon nicht von den Regierenden zu erwarten ist, dann vielleicht von den Verkünderinnen und Verkündern der guten Nachricht, unseren Schwestern und Brüdern auf dem Kirchentag ? Die Kirchentagspräsidentin Barbara Rinke, Oberbürgermeisterin von Nordhausen, scheint in unnachahmlich protestantischem Tonfall so etwas anzudeuten: „Kirchentag als Zeitansage wird zur Besinnungsstation auf dem Weg ins nächste Jahrtausend....Es wird ein Kirchentag des Hinterfragens sicher geglaubter Positionen werden“.

Das „Hinterfragen“ beginnt wie folgt: „Wir wollen es wagen, von einer Zukunft zu träumen, von der sich Christen entsprechend unserer Losung für ihren Glauben mehr Geschmack, für die Schöpfung mehr Bewahrung und für die Gesellschaft mehr Frieden erhoffen“. First things first: Die „Frage, die die Deutschen am meisten bewegt“, ist die Frage nach mehr sozialer Gerechtigkeit, die Zukunft der Arbeitsgesellschaft „und dabei auch die Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West“. Doch dann geht es zum aktuellen Friedensthema: Angesichts der „kriegerischen Handlungen in Kosowo“ wird es „Gelegenheit geben,...Betroffenheit und Ratlosigkeit zur Sprache zu bringen“. Gewiß, Betroffenheit, Ratlosigkeit und Schuldgefühle bilden den Dreiklang der protestantischen Seele. Indes: Irrt nicht die Autorin im Glauben, „die Diskussion in der Gesellschaft schein[e] auf die Frage hinauszulaufen, wie werden wir am wenigsten schuldig ?“

Wie wenig die christliche Frage nach Schuld und Erlösung des Sünders die Wohlstandsgesellschaft noch interessiert, ist an den Fernseheinschaltquoten (Talkshow, Politshow, Peepshow) und den Kirchenaustrittsquoten (ca. 200 000 jährlich) abzulesen. Die leeren Kirchen und Kassen gehören keineswegs nur zum geistig-politischen Erbe des atheistischen Realsozialismus. Da es „auch im Westen nicht mehr selbstverständlich [sei], einer christlichen Kirche anzugehören“, meint die Kirchentagspräsidentin, „leiste der Kirchentag einen wichtigen missionarischen Beitrag“.

Wer missioniert, steht fest im Glauben, daher auch das Motto des Kirchentags: „Ihr seid das Salz der Erde“ (Seligpreisungen Matth.5, 13). Tatsächlich will der Kirchentag den Schwerpunkt nicht auf irdische Werte, d.h. „auf Finanzfragen“, sondern auf die zeitlosen Dinge legen, auf Glaubensinhalte, Liturgie, theologischen Diskurs. Wie steht es mit der Zukunft des christlichen Glaubens? Zunächst, wie steht es mit dem Geist der Ökumene ?

Reduzierte Ökumene in der Einen Welt
Den Hauptvortrag zum 50. Geburtstag des Kirchentags hält ein ökumenischer Würdenträger, der armenische Katholikos Aram I. aus Antelias/Libanon über „Die Zukunft der Kirchen in ökumenischer Perspektive“. Danach bewegt sich der Zug der Ökumene in der Einen Welt durch steiniges Gelände: In einem gemeinsamen Forum des Kirchentags („Laientreffen“) und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken geht es um Urprotestantisches, um die PriesterInnenschaft aller Gläubigen. Daher solch bohrende Fragen wie „Spalten die Ämter die Kirche?“ und „Braucht die Christenheit einen Papst?“ Später, unter der Rubrik „Die verbesserliche Welt“, taucht dann die Frage auf: „Ist die Ökumene noch zu retten ?“ Eine ungewollte Pointe. Dem Programm zufolge konzentriert sich die Ökumene derzeit vor allem auf die „Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen“, die sich gegenüber christlichen Fundamentalisten („Evangeliumsdienst für Israel e.V.“) einig weiß in der Ablehnung der Judenmission. Bezieht die Großökumene auch die „Begegnung mit Muslimen“ ein, so fehlt beim Thema „Chancen und Grenzen - Muslime und Christen in der säkularen Gesellschaft“ anscheinend der muslimische Gesprächspartner. Wäre hier nicht der Muslim Bassam Tibi, der eindringlich vor dem Islam inhärenten integristischen Tendenzen warnt, der geeignete Mann auf dem Podium ? Nein, denn die „mutigen Frauen“, die das Land braucht, propagieren „Vielfalt der Kulturen - total normal“.

Daß in Deutschland nichts mehr normal sein darf, gehört zum Credo des deutschen Nachkriegsprotestantismus. Auf dem Kirchentag lautet die Frage: „Deutschland - normal nach Auschwitz?“ - erwartungsgemäße Antwort auf Martin Walser, der, anders als seine Kritiker, immer wieder den Transzendenzverlust der Gegenwart beim Namen genannt hat. Daß die deutsche Katastrophe, das schlechte Gewissen der Deutschen, also der nationale Wesenskern des protestantischen Aktivismus, die massive Einwanderung (militant migration) mit allen Folgeproblemen begünstigt, diese Frage darf im Horizont des deutschen Schuldprotestantismus gar nicht erst aufkommen. Warum aber sollten die Neubürgerinnen und Neubürger die deutsche Schuld, unser ethnisch-nationales Wesensmerkmal, auf sich nehmen ? Warum bedarf Hans Küngs „Weltethos“ der deutschen Schuldmetaphysik ?

Wo die Muslime stärker präsent sind, fehlen viele der einst ökumenisch hofierten Orthodoxen. Ob den 100 000, von denen „mehr als zwei Drittel“ mit 24 Sonderzügen und ca. 800 Bussen zur „umweltbewußten Großveranstaltung“ anreisen, ob allgemein dem Kirchenvolk die tieferen Gründe für die reduzierte Ökumene bewußt sind ? Oder soll bewußt gemacht werden, daß von den Kirchen der christlichen Orthodoxie in Stuttgart außer dem Katholikos nur die Rumänen vertreten sind ? Die Georgier und die Bulgaren sind aus dem Weltkirchenrat bereits ausgetreten, die anderen autokephalen Kirchen gehen seit einiger Zeit auf Distanz. Warum wohl ?

Neue Pilgerpfade?
Zurück auf den Weg des protestantischen Glaubens: Kraft für einen „Pilgerweg Aufbruch in eine gerechtere Welt“ sammeln die Kirchentagsfrommen in einer Bibelarbeit mit den Theologinnen Schottroff (Kassel) und Sölle (Hamburg). Ja, Dorothee Sölle bewährt sich, zusammen mit ihrem angetrauten Ex-Dominikaner (?) Fulbert Steffensky, auf dem Kirchentag als postsozialistische Stachanowa im Salzbergwerk: Sie hat sich neun Arbeitseinsätze auferlegt, einsame Spitze. Der Pilgerpfad besteht aus sieben Stationen, vom Neuen Schloß bis zum Birkenkopf. An der ersten Station gibt Sölle eine „Einleitung ins Pilgern“.

 An der zweiten Station diskutieren Erhard Eppler und je ein/e Vertreter/in der Landesbank Baden-Württemberg über „Schuld und Entschuldung“. (Der Lapsus im Programm, wo eine „Entschuldigung“ angekündigt war, wurde im Nachtrag korrigiert.) Bei der nächsten Station geht es im evangelischen Sprachduktus um „leben: armut ausgrenzen“, danach dürfen sich die Pilger ausruhen. Auf der sechsten Station werden sie „ins meditative Gehen“ eingewiesen, ehe sie auf dem Birkenkopf angelangt sind, „wo Gerechtigkeit und Frieden sich küssen“. Zum großen liturgischen Abschiedsfest spielt - im Hinblick auf den Kosovo politisch leicht inkorrekt - das Theodorakis-Ensemble, Stuttgart. Die Rückkehr in den Alltag moderiert um 18.00 h Franz Alt, der in den friedensbewegten 80er Jahren Jesus als „der neue Mann“ entdeckte.

Wem die Sölle-Pilgerfahrt zu anstrengend ist, begibt sich auf den einst so sicheren Pfaden des Linksprotestantismus zu den Wirkungsstätten des jüngeren Christoph Blumhardt (1842-1919). Dieser gab das von seinem Vater, dem pietistischen Erwecker und Glaubensheiler, übernommene Pfarramt in Bad Boll auf und wurde als sozialdemokratischer Abgeordneter im württembergischen Landtag (1900-1906) zu einem Wegbereiter des religiösen Sozialismus. Worte der Stärkung erwarten die Pilger aus dem Mund des SPD-Politikers Frieder Birzele mit Laienworten über den „Christusträger“ (=Christoph) und des Theologen Jürgen Moltmann (Tübingen), der über die „Reich-Gottes-Hoffnung und Hoffnungszeichen in der Welt“ referiert, im Anschluß an die Frage nach der „Aktualität von Blumhardts Theologie“. Unter dessen Einfluß begründete einst Karl Barth eine feste protestantische Burg aus Neo-Orthodoxie und Sozialismus. Die Barthsche Dogmatik, befestigt in den Glaubenskämpfen der Bekennenden Kirche, verhalf einst dem Nachkriegsprotestantismus zu neuer Glaubensstärke. Was ist aus den alten Glaubensfesten geworden ? Wer hat den Barthschen „Offenbarungs-positivismus“ (D. Bonhoeffer) unterminiert ? Bultmann, Käsemann, Pannenberg oder der postchristliche Zeitgeist, Maria Jepsen ?

Daß der christliche Sozialismus im Zeichen von Neoliberalismus und Globalisierung auf Erweckung harrt, dafür finden sich im Programm nur schwache Anzeichen. Die aus Kuba eingeflogene Musikgruppe „Kairos“ begleitet einen der beiden Eröffnungsgottesdienste, am Tag darauf erbaut sie im Studio der Landesgirokasse das Publikum der demokratischen Marktgesellschaft mit „christlicher Musik aus dem sozialistischen Land in Mittelamerika“. Als Vertreter der sozialistischen Orthodoxie kommt der Schweizer Nationalrat Jean Ziegler zweimal zu Wort. Daß er gegen „die mörderische Weltordnung“ und den „Casinokapitalismus“ zu Felde zieht, steht außer Frage. „Er verhilft zur Klärung der Weltverantwortung der Kirche“, heißt es im Programm.

Hier aber stoßen sich Tatsachen und Theorien hart im Raum: Welcher Weg führt denn wirklich zu Gerechtigkeit und Frieden in der Einen Welt ? Vor Jahren lagen die Dinge noch einfacher, da propagierte Dieter Senghaas die Abkoppelung für die „Dritte Welt“, heute denkt er über „militärische und zivile Formen der Konfliktlösung“ auf dem Balkan nach. Wie also kommen wir ökonomisch zur neuen Weltordnung ? Der nach Adam Smith und F.A. Hayek friedensstiftende liberale Weltmarkt, der an nationalstaatliche Handlungsfähigkeit gebundene Keynesianismus oder die zur Zeit auf Kuba reduzierte, tourismusgestützte sozialistische Planwirtschaft ? Sind in oeconomicis nicht stets Faktoren im Spiel, die nicht auf die simple Formel „Ökonomie von oben - Ökumene von unten ?“ gebracht werden können ? Obgleich das weder die Experten noch die Regierenden (mit Heide Wieczorek-Zeul auf dem Podium) so genau wissen, proklamieren die ProgrammacherInnen: „Wir können auch anders !“ Der gute Glaube - wenigstens an die Entschuldung - ist also noch nicht tot. Mit derartiger Selbstmotivation finden sich die Christinnen und Christen auch in der global-liberalen Risikogesellschaft zurecht. Von Ulrich Beck soziologisch gestärkt, prakizieren sie die neuen individualistischen Werte und Lebensformen („Eine Liebe reicht nicht für ein ganzes Leben“).

Schwul müßte der neue Mann sein, dann bekäme er auf dem Kirchentag auch noch geistlichen Rat für eine Ethik der Promiskuität. Zum „nachhaltigen Lebensstil“ berät E.U. v. Weizsäcker, der auch das Belland-Kreislauf-Geschirr als sündenfrei empfohlen hat.

Fragen wir christlichen Randsiedler nach dem Zerfall der sozialistischen Werte nach den tragenden Fundamenten, so finden wir sie in der feministisch-theologischen Basisfakultät. Hier geht es Frigga Haug und ihren MitstreiterInnnen für die „verbesserliche Welt“ anscheinend kaum noch um den marxistischen Klassenkampf, sondern nur noch um die neue Lehre, den Feminismus. Wer beim christlichen Geschlechterkampf spirituelle Stärkung braucht, findet diese zwischen „indischen Göttinnen in ihrer Tradition“, „ehrlichem Rock“ und Sacro-Pop reichlich, nicht zuletzt in den Meditationen Dorothee Sölles im „Gottes-klang. Das kleine Liederbuch“. Ein Söllescher „Friedensgruß“: „Frauen werden zum Mond fahren / und in den Parlamenten entscheiden /. Ihre Wünsche nach Selbstbestimmung usw.“ Ach Gott, der am Nihilismus leidende Pfarrerssohn Gottfried Benn kannte noch die Unterscheidung zwischen gut und gutgemeint ! Ist es Zufall, daß die ansprechenden Verse und Lieder teils altem Traditionsbestand, teils Übersetzungen aus der Ökumene (e.g. La paz del Senor) entstammen ?

Bibelarbeit
Gesellen wir uns also zum Schluß zu den zahlreichen Bibelarbeiterinnen und Bibelarbeitern - unter ihnen Reinhard Höppner, Angelika Merkel, Christa Nickels (MdB), Renate Schmidt (MdL), Wolfgang Schäuble (CDU) und Klaus Staeck (Plakatkünstler, SPD) - und widmen uns dem zutiefst evangelischen Metier (sola scriptura). Eine nicht näher bezeichnete Gruppe will uns mit Paralleltexten - je einer aus der revidierten Lutherbibel von 1984 und einer für den Kirchentag 1999 - die Arbeit erleichtern. In der Einleitung wird auch die neue Semantik erläutert: Den hebräischen Gottesnamen JHWH hat man in den alttestamentarischen Texten mit Adonaj wiedergegeben, im neutestamentlichen Text den kyrios seiner Herrlichkeit (vgl. oben: La paz del Senor ) entkleidet. Klar doch, frauengerecht soll es zugehen, schon wegen der Festschreibung der Männlichkeit Gottes im Deutschen.

Wir verzichten hier auf die pädagogischen Einhilfen und wenden uns exemplarisch dem Text 1.Kor. 11, 17-34 zu. (Für zeitgemäß Bibelunkundige: Dort liest der Frauenfeind Paulus den von Gnosis und Sex enthusiasmierten Korinthern die Leviten und begründet item die Feier des Abendmahls.) Nein, wir stoßen uns nicht an Kleinigkeiten, an den „unterschiedlichen Verhaltensweisen“ bei den Korinthern, auch wenn Paulus diese wegen ihrer Häresien (hairéseis) tadelt. Auch daß aus dem lateinischen Lehnwort Kelch ein selbstgetöpferter Becher geworden ist, mag hingehen, wo es auf Fragen der Ästhetik nicht mehr ankommt. In der postchristlichen, hedonistischen und nur noch moralischen Welt gibt es keinen bitteren Kelch mehr, existentielle Dinge bewältigen wir durch Selbsterfahrung, unsere politische Existenz bestimmen wir als mündige Christinnen und Bürger selbst, zuletzt im Kosovo-Krieg.

Daß das Abendmahl des Herrn (kyriakòn deipnon) zum Christusmahl erklärt wird, lassen wir als freie Übersetzung durchgehen. Aber, zum Teufel, seit wann übersetzt man anáxios anders als mit „unwürdig“ ? Geht es um die Würde des Menschen vor Gott oder um einen Schulungskurs in Gewerkschaftsrhetorik („auf unsolidarische Weise“)? Der Mensch prüfe sich aber selbst vor dem Abendmahl, schreibt Paulus (dokimazéto dè ánthropos heautòn). Jetzt soll sich „jede Frau und jeder Mann in dieser Hinsicht [gemeint ist die Solidarität] bewähren“. „Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut“ (Vers 25) läßt Paulus den Herrn sprechen. Warum wohl machen die ÜbersetzerInnen aus der Präposition „in“ (en háimati emoù) ein „durch“ ? Zuletzt, „meine Geschwister“: Paulus will das weitere nicht im herrschaftsfreien Diskurs „darlegen“, sondern ordnen (diatáxomai), wenn er nach Korinth kommt.

Zeitgemäße Übersetzung oder vom Zeitgeist diktierte Leerformeln ? (Im Liederbuch gibt´s auch eine „heilige Geistin“, kein Witz!) Sollen die Zweifler mit derlei Tricks in die „Thomasmesse“ gezogen werden ? - Die geistige Dürre des Gegenwartsprotestantismus ließe sich nur durch ein neues Pfingstwunder beleben: es ginge nicht nur um die „richtige“ Verknüpfung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik, sondern um jene religiöse Dimension, die über bloße Ethik, über die bessere Moral, über die Sinnentleerung der Gegenwart hinausweist.

Wir halten als evangelische Kirchensteuerzahler fest: Vor der Exegese kommt die Hermeneutik, vor der Thealogie die Philosophie, Denken fußt auf Texten. Wo, wie in den Aufführungen des Kirchentags, die Rhetorik des deutschen Protestantismus ununterscheidbar ist von den Dogmen der bundesrepublikanischen Zivilreligion, verkommt die christliche Religion zu Ideologie, zum frommem Überbau der postnazistischen Wohlstandsgesellschaft. Die ideelle Wirklichkeit finden wir, sofern die an niederländischen Fakultäten existente Leben-Jesu-Schule nichts anderes zutage fördert, im verzweifelten Wort des aramäisch sprechenden Jesus, des Erlösers am Kreuz: „Eli, eli, lema sabachthani“ (Matth. 27, 46). Doch lesen wir zum Trost noch einmal die Kirchentagslosung, bei Matthäus, Kap. 5, 14. Dort heißt es: „Ihr seid das Salz der Erde; wo aber das Salz dumm wird, womit soll man salzen ?“

Herbert Ammon veröffentlichte den Essay „Zum Elend des Protestantismus am Ausgang des 20. Jahrhunderts, in: MERKUR 599/Febr. 1999. 

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