Mittwoch, 26. Januar 2022

Grüne Kröten fürs ökopatriotische Volk

Für die Fans (d/m/w) meines Blogs stelle ich hier nochmal meinen soeben auf Globkult veröffentlichten Kommentar zum grünen Ökopatriotismus und dessen theoretischen und politischen Widersprüchen vor:

von Herbert Ammon

Dass die Grünen in diesem unserem Lande das Curriculum politischer Bildung bestimmen, ist dem mündigen Bürger (w/m/d) seit langem klar. Seit sie mit fünf Ministerien in der Ampel-Regierung sitzen, sind sie dank Koalitionsvertrag bemächtigt, ihren Lehrplan – in derzeitiger Taxonomie: Klimarettung (=EEG), moderne Einwanderungsgesellschaft, diversity und Sonstiges, darunter Frieden – bundesweit durchzusetzen.

Taxonomie ist ein Terminus der Curricularforschung, die seit den 1960er Jahren aus den USA importiert, das angestaubte – föderale, duale und dreigliedrige – (west-)deutsche Bildungssystem modernisieren sollte. Der Lehrerfolg in Schule und Unterricht sollte fortan an Lernzielen bemessen werden, die wiederum taxonomisch in kognitive, instrumentelle und affektive (oder affektuelle) unterteilt wurden.

Der über Generationen fortwirkende Erfolg der Curricularforschung spiegelt sich in der Popularität der Grünen bei der ökologisch bewegten Jugend, insbesondere in der FfF-Bewegung. In deren Taxonomie stehen die affektiven Lernziele obenan, die durch Demonstrationseifer anstelle von Unterricht freitags zu realisieren sind. Allerdings haben im zweiten Corona-Jahr die affektuellen Demonstrationen der Impfgegner bzw. ›Corona-Leugner‹ die gesamtgesellschaftlichen Lernerfolge der klimarettenden Schuljugend deutlich überlagert. Bei der bildungswilligen Jugend überwiegt derzeit das Interesse an Präsenzunterricht vor dem Verlangen nach Gemeinschaftserlebnissen auf der Demo.

Nichtsdestoweniger steht die Klimarettung in der von den Grünen definierten Agenda der Ampel ganz obenan. Es geht um den Ausbau der EEG, maßgeblich durch saubere, klimarettende Windräder auf zwei Prozent der Gesamtfläche Deutschlands (=7000 km², etwa die halbe Fläche von Schleswig-Holstein). In den grün dominierten Bundesländern ist man mit Eifer dabei, die zeitlich noch ungewissen Klimaziele – das Zieljahr 2030 wurde soeben gecancelt – ›flächendeckend‹ zu erreichen. Ein SPD-Politiker aus der niedersächsischen Küstenregion hat die die grüne Flur ästhetisch beherrschenden, Vögel und Insekten mit Flügelschlag reduzierenden Artefakte der Postmoderne inzwischen als Teil seiner Kulturlandschaft schätzen gelernt.

Nur Bayerns Ministerpräsident Söder sträubt sich noch ein bisschen dagegen, aus Rücksicht auf konservative Landeskinder und CSU-Wahlvolk, das die Fluren, die Gaue und den weiß-blauen Himmel vor noch mehr Windrädern bewahrt wissen will. Ausgerechnet Söder, der fränkische Hüter des bayerischen Vaterlands, muss sich nun von Robert Habeck den Vorwurf des mangelnden ›ökologischen Patriotismus‹ anhören. Patriotismus? Das Wort kommt von patria, zu deutsch: Vaterland. In einem seiner Bücher fand Habeck das Wort immer ›zum Kotzen‹. Jetzt ist es, ideologisch gewendet, okay, was auch dem historisch weniger gebildeten Volk einleuchtet. Denn gestorben wurde in Afghanistan nicht mehr fürs Vaterland, sondern taxonomisch für Demokratie, Frauen- und Menschenrechte.

Die Gefahr für das grüne Klimarettungsprogramm kommt indes nicht aus Bayern, sondern aus Brüssel. Die EU-Kommission hat auf Druck Macrons und mit der Mehrheit der Mitgliedsstaaten eine Taxonomie klimaschonender Energiegewinnung etabliert, in der – wie schon kurzzeitig von Greta Thunberg aus dem atomfreundlichen Schweden favorisiert – die Nuklearenergie weit oben rangiert.

Mit dieser ›Kröte namens atomfreundliche Taxonomie‹ setzen sich in einem Artikel (in: FAZ v. 18.01.2022, S. 4) Daniel Cohn-Bendit und Claus Leggewie auseinander. Sie schreiben: »Die Grünen stecken in einem doppelten Dilemma«. Das Dilemma besteht zum einen rein materiell im höheren Energiebedarf der ökologisch umgerüsteten Industriegesellschaft sowie den von Habeck bereits angekündigten weiter steigenden Preisen für die grüne Energie. Einkommensschwache Haushalte (›Menschen mit geringerem Einkommen‹) sollen naturgemäß vom Staat entlastet werden. Das andere Dilemma betrifft die ureigene grüne Gründungsideologie, den Kampf gegen AKWs und die Atomrüstung. Mit Blick auf Frankreich umkreisen die Autoren das Dilemma, genauer: den Widerspruch zwischen dem seit Merkels Kehrtwende 2011 beziehungsweise bis Jahresende 2022 AKW-freien Deutschland und dem auf Atomenergie setzenden Frankreich.

Auf spezifische Weise behandeln die Autoren auch das mit der französischen Nuklearrüstung verknüpfte Dilemma: Man könne ja kritisieren, aber man müsse zur Kenntnis nehmen, dass die atomare Rüstung »als Eckpfeiler des französischen Souveränitätsstrebens« diene. Die Auflösung des doppelten Widerspruchs – keine Nuklearwaffen ohne Atomindustrie – erfolgt in einem erweiterten Relativsatz: »Im Kern geht es um die atomare Bewaffnung, die übrigens auch zur europäischen Souveränität beitragen kann.« Derlei grün-europäische Auflösung durch Überspielung eines Widerspruchs würde kein Deutsch- oder Französischlehrer in einem Besinnungsaufsatz der Oberstufe durchgehen lassen.

Theoretische Widerspruchsfreiheit ist für den Erfolg grüner Politik bei dem zwischen apokalyptischer Klimaerhitzung und technokratischem Optimismus oszillierenden jungen Wahlvolk kaum nötig. Entscheidend ist die Akzeptanz der oben skizzierten grünen Taxonomie. Affektive Lernziele sind überdies leichter erreichbar als kognitive. Für deren Internalisierung ist der Grünen-Anhang durchaus bereit, ein paar Kröten zu schlucken.

https://www.globkult.de/politik/deutschland/2156-taxonomische-und-patriotische-kroeten-nicht-nur-im-land-der-bayern

 

 

 

Dienstag, 18. Januar 2022

Der neue kalte Krieg

Ein kurzer Auszug aus meinem unter der Rubrik "Geopolitik" erschienenen Aufsatz "Der neue kalte Krieg", in: "Tichys Einblick" 02/2020, S. 20-24:

 

Noch in diesem Jahrzehnt wird die formal kommunistische Volksrepubik China, gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP), die USA als weltweit stärkste Wirtschaftsmacht ablösen. In nahezu allen Weltregionen ist das ostasiatische „Reich der Mitte“ dabei, unter dem Banner der „Neuen Seidenstraße“ (Belt and Road Initiative / BRI), der Proklamation eines vermeintlich allein friedlichen Zwecken und dem Fortschritt der Menschheit dienenden Konzepts, seine ökonomisch-politischen Machtinteressen zu entfalten. Diese Entwicklung ist begleitet von einem atemberaubenden Ausbau seiner Militärmacht einschließlich des Arsenals an Atomwaffen.

Das Selbstbewusstsein der chinesischen Führung kommt in dem Satz von Chen Yixin, dem ranghohen Vertrauten des Präsidenten Xi Jinping zum Ausdruck: „Der Aufstieg des Ostens und der Niedergang des Westens ist ein irreversibler Trend, die internationale Landschaft verändert sich zu unseren Gunsten“. Worte und Fakten signalisieren weitreichende politische Absichten. Vor diesem Hintergrund wird in den USA - und zwar verstärkt seit Bidens Amtsantritt - eine Debatte über das künftige Verhältnis zu China geführt. […]

[Nur geringer ] Zweckoptimismus durchzieht die Aufsätze der jüngsten Ausgabe von Foreign Affairs, deren Deckblatt die Porträts der Präsidenten Biden und Xi ziert, dazwischen die Überschrift „The Divided World. America´s Cold Wars“.[...]

„Internationale Systeme sind anarchisch, und Theoretiker sagen uns, dass kein Teil von Ihnen voll kontrolliert werden kann“, schreiben Hal Brands und John L. Gaddis. Die Einsicht in die Realitäten der „anarchischen“ Weltordnung des 21. Jahrhunderts ist hierzulande, wo man politischer Komplexität lieber mit Weltrettungspathos begegnet, noch immer wenig verbreitet. [...]

Nach den langen Jahren der Ära Merkel, die ein ungeordnetes Wechselspiel von Moral- und Interessenpolitik erlebten, bleibt zu sehen, wie die neue Bundesregierung mit den machtpolitischen Gegebenheiten der multipolaren Welt umzugehen gedenkt.

 

Freitag, 14. Januar 2022

Auf den bündischen Spuren des Widerstands

Für Leser meines Blogs nachfolgend der Text meiner Globkult-Besprechung (https://www.globkult.de/geschichte/rezensionen/2151-fritz-schmidt-juergen-reulecke-hans-scholl) der jüngsten Publikation zu Hans Scholl und seinem bündischen Umfeld:


Im Mindener Kreis pflegen Veteranen der deutschen Jugendbewegung die Erinnerung an ihre ›bündischen‹ Wurzeln, insbesondere an die weithin vergessene Rolle bündischer Gruppen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. In der Schriftenreihe dieses Kreises ist ein Heft erschienen, das – vor dem Hintergrund reichhaltiger Literatur zur Weißen Rose und oft einseitiger Deutungen ihres Vermächtnisses – Beachtung verdient.

Der Autor Fritz Schmidt hat in sorgfältiger Archivarbeit erneut die Lebensstationen des jungen Hans Scholl in der historischen Szenerie des ›Dritten Reiches‹ verfolgt. Den Ansatz der Studie, zu der Jürgen Reulecke als Fachhistoriker ein Geleitwort beigesteuert hat, verdeutlicht der zweite Untertitel: Hans Scholl im Umfeld von dj.1.11 und sein verschlungener Weg in den Widerstand.

Die ehedem legendäre dj.1.11 gründete in einer von Eberhard Koebel (1907-1955) inszenierten Abspaltung von der Deutschen Freischar. Der wie viele Jugendbewegte romantisch-nationalistisch orientierte – und vom Zen-Buddhismus faszinierte – Koebel (tusk), Verfasser einer ›Heldenfibel‹, changierte in den Weimarer Krisenjahren und nach der ›Machtergreifung‹ zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus. 1934 geriet er in die Fänge des Nazi-Regimes und konnte, nach zwei Suizidversuchen schwer verletzt, über Schweden nach England emigrieren. Von dort unterhielt er Kontakte zu früheren Gefolgsleuten.

Seit 1935 verfolgte die Gestapo auf Anweisung von Reinhard Heydrich die ›bündischen Umtriebe‹, wobei auch Sittlichkeitsvergehen gemäß Paragraph 175 ins Spiel gebracht wurden. In den von tusk inspirierten Freundeskreisen, die innerhalb und am Rande der HJ ihr ›autonomes‹ Gruppenleben kultivierten, treffen wir auf heute nahezu unbekannte Namen. Einer von ihnen – ohne spezifischen biografischen Bezug zu Hans Scholl – war der jüdische, 1933 nach Prag emigrierte Architekturstudent Helmut (›Helle‹) Hirsch (geboren 1916). Von Koebel ermutigt, suchte er den Kontakt zu dem von Prag aus operierenden früheren Hitler-Anhänger Otto Strasser, seit 1930 als Chef der ›Schwarzen Front‹ – und als Bruder des beim Röhm-Massaker 1934 ermordeten Gregor Strasser – ein Intimfeind des ›Führers‹. Hirsch ließ sich zu dem Versuch überreden, die Nürnberger Parteitagstribüne in die Luft zu sprengen. Bereits bei seiner Ankunft in Stuttgart verhaftet, wurde der amerkanische Staatsbürger Helmut Hirsch vom Volksgerichtshof zum Tod verurteilt und – trotz Intervention der amerikanischen Botschaft – am 4. Juni 1937 in Berlin-Plötzensee mit dem Fallbeil ermordet.

Zu Koebels d.1.11- Adepten zählte anfangs auch Max von Neubeck, Fähnlein- und Jungzugführer in der Ulmer Hitlerjugend, in die Hans Scholl, bis dahin Mitglied im CVJM, am 1. Mai 1933 eintrat. Eine für alle Scholl-Geschwister biografisch bedeutsamere Rolle spielte sodann der literarisch ambitionierte Ernst Reden, der in Ulm seinen Militärdienst ableistete und mit dem emigrierten Koebel in Kontakt stand. Im Sommer 1935 wurde Reden erstmals wegen seiner »zersetzenden«, auf Hochverrat (!) hindeutenden Aktivitäten »außerhalb der Staatsjugend« (zit. 21f.) von der Gestapo verhört. Ab 1936 wurde sein Briefverkehr polizeilich überwacht.

Im November und Dezember 1937 wurden die Ulmer Freunde um Hans Scholl sowie Ernst Reden verhaftet. In dem Prozess vor dem Sondergericht Stuttgart am 2. Juni 1938 zielte die Anklage – unter Bezug auf die nach dem Reichstagsbrand von Reichspräsident Hindenburg verfügte Notverordnung ›Verordnung zum Schutz von Volk und Staat‹ vom 28.Februar 1933) – auf die ›Fortsetzung der bündischen Jugend u.a.‹. Hans Scholl und andere Mitangeklagte kamen mit unter eine Amnestie fallende Strafen frei davon. Redens Strafe von drei Monaten Gefängnis blieb indes rechtsgültig. Er galt als vorbestraft, was den Ausschluss aus Universität und Studium nach sich zog. Vergehen gegen Paragraphen 175 standen sowohl bei Hans Scholl als auch bei Ernst Reden auf der Anklageschrift. Während es sich bei Scholl, der sich alsbald in allerlei Liebesabenteuer stürzte, um jugendtypische Ersatzhandlungen handelte, fällt die Orientierung des empfindsamen, über Jahre um Inge Scholl werbenden Ernst Reden – »ein Zweifler und Suchender, der nach Gott und sich selber suchte, voller Sorge um Heimat und Vaterland« (29) – nicht ganz eindeutig aus. Laut Schmidt muss die Reden zugeschriebene Homosexualität ungeklärt bleiben. Nachdrücklich verteidigt er Reden – er starb nach einer Verwundung im August 1942 in einem Lazarett in der Ukraine – gegen den Vorwurf, ein »führertreuer Nationalsozialist« gewesen zu sein. (23)

Zu Recht schreibt Schmidt im Hinblick auf die von zeittypischem Erkenntnisinteresse – und einem Mangel an historischer Empathie – geprägten Arbeiten von Robert M. Zoske und Sönke Zankel, dass sie »die Realitäten im sogenannten Dritten Reich nicht einschätzen können.« (69) Zankels Arbeiten sind geprägt von ahistorischer Oberlehrerhaftigkeit bezüglich der bei Hans Scholl und Alexander Schmorell angeblich allzu lange mangelnden demokratischen Gesinnung. Zoske geht es entgegen aller Evidenz durchgängig um den Nachweis von Homosexualität bei Hans Scholl (sowie in seiner Sophie-Scholl-Biographie um latente lesbische Neigungen bei der jüngeren Schwester). Zur weiteren Widerlegung der »Obsessionen« des Theologen und früheren Pastors hat Autor Schmidt nach Erscheinen von Zoskes Scholl-Biografie (Flamme sein!, 2019) einen Aufsatz angefügt. (86-89).

In vielerlei weiteren Details vermittelt die Publikation jüngeren Nachgeborenen ein schärferes Bild von der zeitlich immer weiter entrückten, historisch komplexen Realität. Das gilt zum einen für »zwischenmenschliche Beziehungen, [die] am 30. Januar 1933 nicht an der Garderobe abgegeben [wurden].« (ibid.) Es gilt zum anderen für Repräsentanten des Regimes, etwa für Juristen wie Dr. Hermann Cuhorst, der als Vorsitzender des Stuttgarter Sondergerichts am 2.Juni 1938 gegenüber Hans Scholl – nicht aber gegenüber Ernst Reden – als ›Papa Gnädig‹ in Erscheinung trat. In den Kriegsjahren fällte er im Rahmen des 1941 dekretierten ›Polen- und Judenerlasses‹ gnadenlos Todesurteile, wurde nichtsdestoweniger 1944 von seinem Posten am Sondergericht abgelöst und in die Wehrmacht überstellt.

Was für den Weg Hans Scholls in den offenen Widerstand im Sommer 1942 letztlich bestimmend war, lässt Fritz Schmidt offen. Ungeachtet seiner Betonung des jugendbewegten Hintergrunds weist er die Vorstellung, die Erfahrungen mit Gestapo, Inhaftierung und Sondergericht hätten Hans Scholl zum Regimegegner gemacht, als unzutreffend zurück. (66) Immerhin spricht aus Scholls Bekenntnis »Noch nie war ich so Patriot im eigentlichen Sinn des Wortes« – in einem Brief vom 21. Oktober 1938 an seine Schwester Inge (zit. 68) – auch keine kritiklose Regimetreue, eher das Gegenteil. Jugendbewegt-romantische Sensibilität und elitäres Selbstbewusstsein, Empörung angesichts der Nazi-Verbrechen – über Judenmorde in Lettland erfuhren die Scholls von Hermann Heisch, dem Schwager Richard Scheringers, bereits im Sommer 1941 (69) – das in innige Freundschaft mündende Zusammentreffen mit Alexander Schmorell, eine durch die Begegnung mit Carl Muth und dem Renouveau catholique vertiefte christliche Glaubenshaltung – dies alles wirkte bei Hans Scholl zusammen.

Hinsichtlich der Frage, was die Freunde Schmorell und Scholl zu dem Schritt von der Anti-Haltung zum aktiven Widerstand bewegte, zitiert Fritz Schmidt einen anderen ›Weiße Rose‹-Forscher: »Die Antwort wissen wir nicht. Alles Gesagte ist weitgehend Meinung.« (Zit. 76) Es folgen Zitate, die die das Kriegsgrauen als ein maßgebliches Motiv in den Blick rücken. Der Autor der schmalen Schrift konstatiert bei Scholl ein »Umdenken« bezüglich des Elitegedankens und ein »Verblassen des Patriotismus, auf den er 1938 und später noch abgehoben hatte – aber letztlich war er es dann doch, ein deutscher Patriot.« (77)

Auf den Leser mögen die vielen Namen und das Beziehungsgeflecht der einstigen d.j.1.11 – darunter die Brüder Markus und Konrad Wolf, Söhne des kommunistischen Arztes und Schriftstellers Friedrich Wolf – zuweilen verwirrend wirken. Eine straffere Gliederung des Materials sowie ein Namensregister hätten der Lesbarkeit des Textes gutgetan. Nichtsdestoweniger ist zu wünschen, dass die vorliegende Schrift eine breitere Leserschaft, gerade auch bei Zeithistorikern, finden möge. Fritz Schmidt widerlegt unfundierte, aus der politischen Gegenwart abgeleitete Thesen über die charismatische Persönlichkeit Hans Scholls und öffnet den Blick für die Quellen seines Widerstands gegen das Verbrechensregime.

Fritz Schmidt / Jürgen Reulecke: Hans Scholl: "Noch nie in meinem Leben war ich so Patriot...", Baunach (Spurbuchverlag) 2021, 93 Seiten, 11,90 €

Literaturhinweise

https://www.globkult.de/geschichte/zeitgeschichte/471-die-geschichtliche-tragik-der-rweissen-rosel-und-die-politische-moral-der-nachgeborenen (in: Globkult 21.02.2010)
https://www.iablis.de/iablis/themen/2019-formen-des-politischen/rezensionen-2019/535-eine-neue-deutung-des-lebensweges-von-hans-scholl in: Iablis 18. Jahrg. 2019
https://www.globkult.de/geschichte/rezensionen/1932-eckard-holler-auf-der-suche-nach-der-blauen-blume-die-gro%C3%9Fen-umwege-des-legendaeren-jugendfuehrers-eberhard-koebel in: Globkult 30.08.2020
https://www.theeuropean.de/herbert-ammon/neue-biografie-ueber-sophie-scholl/ in: The European 28.02.2021
https://www.academia.edu/44362548/Von_den_Quellen_des_Widerstands_der_Wei%C3%9Fen_Rose in: academia.edu, 2021
Eckard Holler: Die Ulmer »Trabanten«. Hans Scholl zwischen Hitlerjugend uns dj.1.11, in: Puls – Dokumentationsschrift der Jugendbewegung 22 / November 1999

Sonntag, 9. Januar 2022

Bescheidene Erwartungen an die classe dirigente im Neuen Jahr

In den derzeit noch - knapp mehrheitlich -  christlichen Regionen des Landes gingen die Weihnachtstage am 6. Januar zu Ende. Für die Protestanten handelt es sich  an dem betreffenden Januartag um Epiphanias, um die Erscheinung des Herrn, d.h. um den eigentlichen Tag der Geburt, wie er in fast allen Ostkirchen gefeiert wird. Im Westen erinnert der Tag auch an die die Geburt Jesu überstrahlende Himmelserscheinung, die den aus dem Osten angereisten magoi - in der Übersetzung Luthers waren es "Weise aus dem Morgenland" - nach einem Zwischenstopp bei dem mächtigen König Herodes den Weg nach Bethlehem wies, wo sie dem Jesuskind allerlei Gaben darbrachten. Danach machten sich Maria und Joseph samt Kind eilends auf die Flucht nach Ägypten, nachdem ein Engel Joseph im Traum vor den mörderischen Absichten des Idumäers gewarnt hatte.

Für protestantische Pastorinnen und Pastoren sowie katholische Priester unter Anleitung ihres Papstes Franziskus liefert die Fluchtgeschichte gewöhnlich den  Predigteinstieg in die von Flüchtlingselend - semantisch vermengt mit "Migration" aus dem "globalen Süden" in die unberechtigt reichen Länder des Nordens - geprägte Gegenwart. Dass die Heilige Familie nach überstandener Gefahr - nach Herodes´ Tod - wieder in ihre Heimatstadt Nazareth zurückkehrte, bleibt in der vorherrschenden Exegese unerwähnt. 

Die Bilder von frierenden Kinder am polnischen Grenzzaun zu Belarus sowie die bitteren Zahlen der im Mittelmeer, vor den Kanaren und im Ärmelkanal Ertrunkenen stimulieren das schlechte Gewissen derjenigen, deren Enthusiasmus für die "Willkommenskultur" in jüngster Zeit zwar nachgelassen hat, aber die nach wie vor die unkontrollierte Einwanderung aus aller Welt als "Bereicherung" unserer - in der Tat ziemlich öden - Kulturlandschaft deklarieren, ohne die kulturelle Realität in den "Problemvierteln" deutscher Städte zur Kenntnis zu nehmen. Gleichzeitig hält sich die politisch-mediale Sympathie für die  "Ortskräfte", die man beim  Abzug aus Afghanistan der Rache der Taliban ausgesetzt hat, offenbar in Grenzen, auch wenn jetzt Nancy Faeser (SPD), Bundesministerin des Innern und für Heimat im Kabinett Scholz für diejenigen, denen die Flucht geglückt ist, Integrationskurse bereits vor Abschluss des Asylverfahren fordert. Darüberhinaus halten sich selbst die Grünen  bei dem Spiel mit Zahlen von Aufnahmeberechtigten aus Kabul, Herat, Kundus usw. auffällig zurück.

Das Flüchtlings-/Geflüchtete-/Migrationsthema wird uns gleichwohl auch unter der neuen Regierung beschäftigen. Ob und wie die Grünen sowie die "Linken" in Scholzens SPD die im Koalitonsvertrag vereinbarte Zuwanderung in das "moderne Einwanderungsland" Deutschland angesichts der vielen "hässlichen Bilder" (Merkel) steuern können, bleibt im Hinblick auf die längst restriktive Migrationspolitik selbst in den ehedem die Segnungen der Multikultur propagierenden EU-Nachbarländern abzuwarten. Womöglich überwiegt bei einigen am Ende der Geschmack an der Macht die edlen Absichten der Naiven und der weniger edlen bei den Ideologen. Nicht auszuschließen ist, dass die Opposition - die CDU unter ihrem späten Vorsitzenden Friedrich  Merz, erst recht die CSU unter dem wendegewandten Markus Söder -  die Reizvokablel  "Migration" als stimmungs- und stimmenträchtiges Thema aufs Tapet bringen. selbstverständlich in klarer Abgrenzung (Politsprech: "klare Kante") zur AfD und unter europäischen Vorzeichen.

Die FDP in der Regierung hat sich  beim Thema "Migration" offenbar ganz auf die Seite der Grünen geschlagen. Andererseits braucht sie, da sie ihre alte Rolle des Züngleins an der Waage eingebüßt hat,  als Partei der totalen Mitte ein Thema, mit dem sie in der "Ampel" - und beim Wahlvolk - glänzen könnte. 

Mit Interesse sahen wir daher dem Auftritt der FDP-Granden bei ihrem traditionellen Dreikönigstreffen in Stuttgart entgegen. Doch Christian Lindner bot  nichts, was ihm künftighin Profil - eine herausragende Sonderrolle - im Kabinett verschaffen könnte. Er verzichtete darauf, an der Weisheit des  Ausstiegs aus der Kernenergie zu zweifeln und unter klimarettenden Aspekten den Grünen die Schau zu stehlen. Im Gegenteil, er verteidigte nachdrücklich die Abschaltung der letzten Kernkraftwerke in diesem unserem Lande. 

Auch ist von den Freien Demokraten bislang keinerlei Kritik - oder gut verhüllte Selbstkritik -  an einigen jener Absurditäten zu vernehmen, die im voluminösen Koalitionsvertrag stehen. Zwar bekommt derzeit Wolfgang Kubicki für seine Kritik am angekündigten "Impfzwang" und der Erinnerung an liberale Werte mediale Aufmerksamkeit. Doch auch dieses Thema könnte verloren gehen, falls im  Zeichen der Corona-Omikron-Welle und anhaltender Proteste Experten die Pandemie zur Endemie herabstufen und die Ampel-Koalition die Rückkehr in die Normalität verspricht. Das wäre - zusammen mit einem Corona-sedierenden Medikament statt ständigem Boostern - ein schönes Geschenk an das Volk, aber Pech für die FDP (erst recht für die AfD).

Heikel wird´s beim Thema Nord Stream 2. Stehen die Freien Demokraten beim Streit um die Inbetriebnahme der Gas-Pipeline an der Seite des Bundeskanzlers Scholz oder halten sie ´s mit den puristischen Grünen? Fordert Baerbock Putin (rhetorisch) heraus oder fordert Scholz einen neuen Dialog mit Putin über die Ukraine? Wie stellt sich die FDP - wer in der FDP? - zu Putins geopolitischen Forderungen gegenüber der Nato?  

Mal sehen, was das Neue Jahr für unsere classe dirigente und diese für uns Bürger (sc. -innen, m/w/d) an Überraschungen bereithält. Alle Regierungsdokumente sollen künftighin gegendert werden. Ob das bei der ersten Haushaltsdebatte - allein wegen der Kosten und aus Rücksicht auf die Steuerzahlenden (nomen linguae modernae)  - so durchgeht? Was die eingangs erwähnte schwindende Mehrheit im Lande betrifft: Für die Protestanten sollte die Geschichte in Matthäus 2 in gerechter Sprache, wenn schon nicht antibinär, so zumindest gendergerecht, erstmal umgeschrieben und den "Weisen aus dem Morgenlande" ein paar weise Frauen zugesellt werden. Für die Katholiken kommen zusammen mit den Heiligen Drei Königen künftig auch drei Königinnen mit in den Stall.