Freitag, 27. Juli 2018

Zur deutschen Katastrophe in Kasan

Wir dürfen annehmen, dass bis zum 27. Juni 2018 der Masse der deutschen Fußballfans (mit oder ohne Migrationshintergrund), nicht anders als großen Teilen der bundesrepublikanischen classe politica, ganz zu schweigen von Koryphäen wie Annalena Baerbock, Sawsan Chebli oder Jens Maier, Geographie und Geschichte der Stadt Kasan unbekannt war. Zwar stellen manche besorgte Kommentatoren in den Qualitätszeitungen den Schröder-Freund Wladimir Putin zuweilen in eine russische Traditionslinie, die sie auf Iwan IV. Grosny zurückführen. Der ob seiner Herrschaftsmethoden im Westen als Iwan der Schreckliche bekannte, dem Namen nach erste Zar der Reußen eroberte anno 1552 die Tatarenfestung Kasan und zwang den muslimischen Khan zur Konversion. Doch was soll uns Zeitgenossen die russische Geschichte? Wir, genauer: die Minderheit der historisch noch interessierten Biodeutschen – haben mit unserer verkorksten Geschichte genug zu tun.

Derlei Selbstzweifel sind dem Rest unserer Fußballnation in der Regel fremd oder waren es zumindest bis zum obigen Datum. Die Fans, das gesamte Fernsehvolk war stolz auf unsere Mannschaft, wir waren Weltmeister und wollten es mit Jogi Löws Truppe wieder werden. Wir freuten uns mit Angela Merkel auf den Endsieg.(S.: https://herbert-ammon.blogspot.com/2018/06/merkels-truppe-vor-dem-endsieg.html)  Für Theoretiker der modernen Demokratie, selbst für linksliberale, galt der deutsche Fußballstolz als akzeptabler Wesenskern deutscher Identität. Für gewissen Unmut sorgten zwar die Bilder von Özil und Gündogan mit „ihrem“ Präsidenten, aber die politisch zweckdienliche kollektive Hoffnung auf deutsches Siegesglück, Siegesglanz und Gloria wurde erst an jenem Tag in Kasan zunichte, als Südkorea „unsere“ matte Mannschaft aus dem Turnier warf.

Seither füllt die Debatte um Özil, um Özils Millionen und um Özils Frömmigkeit, um deutschen Rassismus und Erdogans Pluralismus, um die Demokratieverträglichkeit gespaltener – oder verweigerter – Identität(en) das Sommerloch, dazu die Bilder geretteter refugees und jubelnder militanter Migranten. Die Fußballkrise vermengt sich mit der Flüchtlingskrise. Die Brisanz der miteinander verquickten Fragen haben – im Hinblick auf die Wahlumfragen – nicht nur die Grünen erkannt, sondern auch der Bundespräsident sowie der Verfassungsrichter Andreas Voßkuhle, zuletzt inzwischen selbst die von diesem gerügte CSU-Führung.

Merkels Außenminister Maas erinnert an Özils Millionenverdienst in England - genauer: bei dem von einem der russischen Oligarchen mitfinanzierten Club Arsenal London – und möchte die ganze Geschichte zu einer Bagatelle herabstufen. Das ruft Entrüstung bei Altkanzler Schröder hervor, der als Vertreter der Bundesregierung bei der Vereidigung des türkischen Präsidenten sowie als führender Gazprom-Vertreter bzw. Nordstream-Vorstand auch über zwischenmenschliche Beziehungen zu Özils Präsidenten verfügt. Usw.

Die „Katastrophe“ von Kasan – die Hauptstadt der Republik Tatarstan liegt etwa 1000 km nördlich von Wolgograd/Stalingrad/Zarizyn - erweist sich so doch noch als Glück für die politisch-mediale Klasse. Sie eignet sich trefflich, um das populistisch erregbare „Volk“ von den bedrängenden Zukunftfragen, von den realen politischen Fragen – Demographie und Demokratie, außereuropäische Immigration und kulturelle Integration, Islam(isierung) und postchristliche Säkularisierung, Massengesellschaft und politische Loyalitäten angesichts ethnisch-kultureller Spaltungen - abzulenken und bei Laune zu halten.

Die „richtige“ Sicht der Dinge – die Auflösung des Problemkomplexes in Wohlgefallen – liefert Jürgen Kaube, Herausgeber der FAZ (in seinem Leitartikel vom 26.07.18, S.1): „Wer verlangt, eine von Ausländern abstammende Person müsse, um Inländer zu werden, irgendwie mit den Deutschen und deren Kultur verschmelzen, ist genauso wenig bei Trost wie diejenigen, die behaupten, Multikulturalität und die Einwanderungsgesellschaft seien ohne Vorurteile, Distanznahmen und Härten vorstellbar.“ Distanz zu derlei Perspektive sollte noch erlaubt sein. Sonst wird diese Geschichte noch vollends trostlos.

Samstag, 7. Juli 2018

Lingua Francfurtensis

In meinem letzten Blog-Eintrag würdigte ich die politsprachliche Begabung unserer Kanzlerin. Ihr Leib- und Magenthema - die Bereicherung ihres Landes durch europäische Lösungen für außereuropäische Migrationswillige - findet in der Qualitätszeitung FAZ seinen Niederschlag in der Berichterstattung über die Mühen der EU-Europäer, unter der langjährigen Ägide des Luxemburger Kommissionspräsidenten Juncker einerseits, unter der  halbjährigen EU-Ratspräsidentschaft des Österreichers Sebastian Kurz andererseits, einen einheitlichen Kurs in der "Flüchtingsfrage" zu bestimmen. Schlicht und einfach ausgedrückt, geht es darum, wie man mit dem anhaltenden Einwanderungsdruck umgehen soll oder will: Außen- und Binnengrenzen auf oder zu? "Festung Europa" oder "Willkommenskontinent"?

Keine Frage, die Materie ist kompliziert, weil Interessen und Moral, Ideologie und Wirklichkeit durcheinandergehen. Wenn man sich auch in der Sommerpause mit dem unendlichen Thema belasten will, trägt leider auch die Berichterstattung ("Mit mangelnder Zurückhaltung, in:  FAZ v. 07.07.2018, S. 4) über einen Besuch Junckers bei Kurz in Wien - Themen waren "Schutz der Außengrenzen" sowie der "Brexit"- nur mit äußerster Mühe zur Klärung der Lage bei. Der Autor frappiert den Leser mit folgenden Sätzen bezüglich Kurz´  Rolle als "Brückenbauer": "Im Fokus hat er dabei aber vor allem, die Interessen der in der Migrationspolitik auf seiner Linie liegenden Staaten wie Ungarn oder auch Rumänien vertreten."  Offenbar befindet sich der Verfasser nicht auf derselben Linie wir Kurz. Jedenfalls ist ihm dabei die Syntax aus dem Fokus geraten.

Die Gegenposition zu Kurz vertreten Stimmen wie unsere Kanzlerin Merkel, "die reine Konzentration auf den Schutz der Außengrenzen kritisieren und Solidarität mit einer fairen Lastenteilung anmahnen." (Ibid.) Derlei Sprachkunst wäre ehedem - in alten Zeiten des Bleisatzes - am Rotstift des Korrektors gescheitert. Heute gehört sie zum Stil des Frankfurter Qualitätsblattes.

Zum richtigen Verständnis der Materie und zur moralischen Erhebung verhilft ein Artikel von Melanie Mühl ("Je ärmer einer ist, desto fremder kommt er uns vor", ibid., S.13) über die Aktualität eines vor einem Vierteljahrhundert erschienenen Büchleins "Die große Wanderung" von Hans Magnus Enzensberger. Da heißt es in dem Artikel zum Schluß: "Wer versucht, sich, wo es nur geht, zu verbarrikadieren, der verhärtet auch emotional, weil ihn das Schicksal der Schutzsuchenden nicht mehr berühren muss. Die Barbaren stehen nicht vor unseren Toren. Sie sind mitten unter uns. Heute wie früher." In einfachen Sätzen formuliert, ist die Sache endlich wieder  klar. 


Mittwoch, 4. Juli 2018

Lingua Angelae

Anstelle eines umfangreichen Blog-Eintrags nur ein zitationswürdiges Diktum unserer ewigen  Kanzlerin. Bekanntlich legte sie das Abitur - auch im Fache Deutsch - in Templin, Uckermark, Bezirk Prenzlau (?), DDR, ab. Offenbar  gab es dort auch Noten für hervorragende Leistungen im Fach Deutsch als Fremdsprache. (In der erweiterten Bundesrepublik  heißt das Fach jetzt Deutsch als Zweitsprache.)

Zitat Merkel:
"Es muss mehr Ordnung in alle Arten von Migration kommen, damit Menschen den Eindruck haben, Recht und Ordnung werden durchgesetzt." - Bemerkung im alsbald fälligen Abiturzeugnis:  Die Kanzlerin beeindruckte über Jahre hin durch politische Geradlinigkeit, charakterliche Stärke und Gewandtheit im sprachlichen Ausdruck.