Donnerstag, 23. Juni 2016

22. Juni: Gedenken vor dem Sowjetischen Ehrenmal

I.
Der Deutsche Bundestag, sonst um große Gesten nicht verlegen,  verzichtete gestern  - aus offenkundig tagespolitischen Gründen - auf eine offizielle Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag des 22. Juni 1941. Es war das Datum, an dem Hitler den Krieg gegen die Sowjetunion unter seinem bisherigen Verbündeten Stalin eröffnete. In den Motiven des NS-Diktators vermengten sich die militärisch-strategischen Zielsetzungen  - er steckte seit Mitte 1940 in der Napoleon-Falle - mit rassenideologischen Vorstellungen, die nicht erst uns Nachgeborenen nicht allein als zutiefst unmenschlich, sondern als  wahnhaft erscheinen.

Wie von Hitler in einer Rede Ende März 1941 vor willfährigen Generälen der Wehrmacht angekündigt, wurde der Krieg von Anbeginn auf eine Weise geführt, die den  von Clausewitz her bekannten Begriff des "Vernichtungskrieges" sprengt. Nach zuletzt unter  Präsident Michail Gorbatschow in den 1980er Jahren fundiert geschätzten Zahlen kamen  unter den Völkern der Sowjetunion  im "Großen Vaterländischen Krieg" an die 27 Millionen Menschen ums Leben. War der deutsche nationalsozialistische Diktator der befehlsgebende Urheber des alsbald ungehemmten Tötens, Ausplündern und Mordens, so tragen die Deutschen als Volk und Nation die  historische Verantwortung für jenes millionenfache Leiden und Sterben, das mit Hitlers "Rußlandfeldzug" über Stalins Sowjetunion hereinbrach.

Bereits in den 1950er Jahren fanden Szenen der Versöhnung zwischen den vermeintlich tödlich verfeindeten Völkern statt, so am 21. August 1955, als 80 000 Zuschauer im Moskauer Stadium bei einem Fußballspiel die westdeutsche Weltmeister-Elf bejubelten, sodann knapp drei Wochen später, als  Bundeskanzler Adenauer bei seinem Besuch in Moskau 1955 auf dem Balkon des Bolschoi-Theaters den Ministerpräsidenten Nikolai Bulganin umarmte. Deutsche, die seither - noch Jahrzehnte vor dem Mauerfall - die Sowjetunion besuchten oder bereisten, zeigten sich immer wieder überrascht und beeindruckt,  wie wenig Haß, sondern freundliche, ja herzliche Gefühle man ihnen bei ihren Begegnungen im Sowjetreich entgegenbrachte.

II.
Bundeskanzlerin Angela Merkel, bekannt als Moral- und Gedenkpolitikerin, fehlte bei den Feierlichkeiten zum  75. Jahrestag des Angriffs auf die Sowjetunion. Immerhin hielt Bundestagspräsident Lammert im Rahmen einer vom Deutsch-Russischen Museum in Berlin Karlshorst angesetzten Gedenkfeier eine Rede im Innenhof des Deutschen Historischen Museums. Zur Erinnerung: Es handelt sich um den Ort, an dem anno 1943 einer der zahlreichen  Attentatsversuche auf den Führer ins Verderben scheiterte.

Eine - cum grano salis, s.u. - eindrucksvolle Gedenkveranstaltung fand vor dem sowjetischen Ehrenmal auf der Straße des 17. Juni  statt. Vor dem Ehrenmal mit dem siegreichen Sowjetsoldaten hatte sich eine Anzahl von Aktivisten der "neuen Friedensbewegung" mit Transparenten samt übergroßen Friedenstauben, die gegen die von der NATO ausgehenden  Kriegsgefahr die deutsch-russische Friedensallianz beschworen, aufgestellt. Zu sehen waren auch zwei, drei rote Fahnen mit Hammer und Sichel sowie ein Endfünfziger mit einer großen Fahne des zum "Bund der AntifaschistInnen" erweiterten VVN. Ein Mittfünfziger dokumentierte antifaschistische Gesinnung auf seiner Lederjacke durch Zugehörigkeit zu dem mit Sowjetstern verzierten "Motorrad-Club Kuhle Wampe".  Die Zahl der Teilnehmer, bis auf ein paar zufällig anwesende jugendliche Touristen (oder auch Neubürger?) allesamt bereits ergraut,  war überschaubar, nach grober Schätzung  max. 1500 bis 2000.  Allein beim Anblick der Veteranenversammlung drängte sich die Frage auf, wie die postnationale Bundesrepublik als  Einwanderungsland künftighin  ihre spezifisch  nationale Erinnerungskultur  zu pflegen  gedenkt. (S.dazu u.a. http://www.globkult.de/politik/deutschland/985-fragen-zu-deutschem-gedenken-unter-den-bedingungen-einer-neuen-gesellschafthttp://herbert-ammon.blogspot.de/2015/10/zur-deutschen-jubelfeier-am-3-oktober.html )

Die Veranstaltung - mit dem sich auf der Fußball-"Fanmeile" unentwegt drehenden Riesenrad als alles überragender Kulisse -  war offenbar einer SPD-Initiative zu verdanken, denn im Tribünenhintergrund standen auf rotem Grund unter dem Motto "Befreiung - Frieden - Versöhnung" die Parteiinitialen. Unter den Anwesenden befanden sich der frühere Regierende  Bürgermeister Walter Momper sowie der Rußland-Experte Gernot Erler.

In ihrer  Eröffnungsansprache begrüßte die einstige Grünen-Politikerin Antje Vollmer unter den Anwesenden die - offenbar spärlich erschienenen -  Bundestagsabgeordneten (ohne Partei- und Namensnennung). Danach forderte Günter Morsch, Gedenkstellenleiter in Sachsenhausen-Oranienburg, zur Unterstützung einer Initiative auf, die sich die Errichtung eines im Gedenkensemble am Rande des Tiergartens noch ausstehenden deutschen Mahnmals zur Erinnerung an die sowjetischen Opfer des deutschen Vernichtungskrieges zum Ziel gesetzt hat.

III.
Was die Veranstaltung erinnernswert macht, war die Rede des fast neunzigjährigen Erhart Eppler. Er sah es als seine Pflicht zu sprechen, "nicht für seine Partei, nicht für die Kirche oder einen Verein", sondern  für sich allein, als einer der letzten der Kriegsgeneration - und für seine Urenkel. In den letzten Kriegstagen erfuhr Eppler als siebzehnjähriger Flakhelfer aus dem Munde von älteren Obergefreiten, alles andere als  fanatische Nazis, die grauenvolle Wirklichkeit des Rußlandkrieges. Im Winter 1941 hätten sie ein paar sowjetische Gefangene kurzerhand erschossen, um an deren wärmende Filzstiefel  heranzukommen.  Diese Erzählung habe ihn sein Leben lang verfolgt."Wer solche und allzu ähnliche Geschichten mit sich herumträgt, kommt nie in die Versuchung, über Russen aus der Position moralischer Überlegenheit zu reden. Aber genau dies ist wieder Mode geworden."

Epplers politisches Ethos, sein friedenspolitischer Appell  entsprang stets einer - von  heutigen angegrünten Jüngeren als befremdlich befundene, wenn nicht degoutiert zurückgewiesene - patriotischen Leidenschaft, frei vom geringsten Anschein von Nationalismus. In seiner Rede warnte er vor einer Zukunft, in der Deutschland und die EU nichts anderes mehr darstellten als "einen amerikanischen Brückenkopf" im Konflikt mit einem russisch-chinesischen Zweckbündnis. Ungeachtet der russischen Völkerrechtsverletzung bei der Annexion der Krim müsse man endlich mit Putins Rußland, einem europäischen Land,  das "gemeinsame Haus Europa" errichten und bewahren. Im übrigen habe auch Michail Gorbatschow, der "uns Deutschen die Einheit geschenkt hat", erklärt, er hätte in der Ukraine-Krise und in der Krimfrage nicht anders gehandelt als Putin. Nichts sei für uns Deutsche so dringlich wie eine - wenn auch in schwierigem Einklang mit Polen und der Ukraine anzustrebende - Politik des Friedens und der Freundschaft mit Rußland.

Wäre der physisch ungebrochen wirkende Eppler noch  aktiv als Teilnehmer im Spiel der  bundesrepublikanischen classe politique, er hätte an "wertorientierten" Feindinnen und Feinden keinen Mangel. Wer sich hierzulande besorgt an die Zukunft seiner Kinder, Enkel oder Urenkel - und an das eigene Land - denkt, hängt nach herrschender opinio "rechten" Vorstellungen nach.

IV.
Zum Abschluß der Gedenkveranstaltung hatte der Hanns-Eisler-Chor seinen Auftritt. Die gesanglichen Darbietungen sowie eine Brecht-Rezitation entstammten dem Repertoire des patentierten Antifaschismus der - dank Gorbatschow - historisch  entschwundenen DDR. Die der Sakralmusik entlehnten politisch-religiösen Hymnen mögen für die eigenen Ohren feierlich, für andere antiquiert sentimental klingen. Weniger Nachsicht verdienen die alten,  in stampfendem  Marschrhythmus vorgetragenen Kampfgesänge. Deren Lautstärke nach zu urteilen, scheint die Frage,  inwieweit Theorie und Praxis des revolutionären Klassenkampfes  zu Weimarer Zeiten Aufstieg und Machtergreifung des NS-Faschismus beförderten, das gute (und bessere) Gewissen der - gleichfalls bereits grauhaarigen - Choristen nicht zu beunruhigen. Denkbar immerhin, dass einige der Sänger und -innen zuweilen der Frage nachhängen, warum die proletarischen Klassenkämpfer anno 1941  - mit geringen Ausnahmen - bereitwillig und/oder gehorsam in Hitlers Vernichtungskrieg gegen Rußland mitzogen.






Freitag, 17. Juni 2016

German Polspeak and German empirical sociology


I.
Die satirische Qualität von Merkels Polspeak ist inzwischen selbst einigen medialen Merkel-Anhängern aufgegangen, nicht allein dem als einstiger „Ossi“ an der Geistesverfassung der Bundesrepublik (ver)zweifelnden Michael Klonovsky. Dessen auch in Buchform („Acta diurna“) vorliegenden Sprachanalysen der Verlautbarungen der in Templin (ehedem Bezirk Neubrandenburg, heute Bundesland Brandenburg) zu einem DDR-Einser-Abitur – damals noch mit Deutsch als Erstsprache - gelangten Pastorentochter bieten inmitten unseres sonst tristen Politalltags vergnügliche Lektüre.

In der heutigen FAZ wird der Leser (sc. -eXYZ-in) erneut mit stilistischen Hervorbringungen unserer Kanzlerin beglückt. Unter Bezug auf eine  Umfrage der Universität Leipzig, die  correcto modo wachsende Vorurteile gegen Homosexuelle diagnostizerte, forderte Merkel  in einer "offenen und freien" Gesellschaft "Respekt" gegenüber dem (m.) jeweils anderen, "egal, was er glaubt [gilt nicht für Ludendorffer, H.A.], egal, wie er aussieht [gilt auch für Burka-Träger, m., H.A., s.a: http://herbert-ammon.blogspot.de/2014/06/beichtspiegel-und-burka.html.], und egal, wen er (m.) liebt". (Die Ergänzung des Bloggers: " gilt mithin auch für Hundeliebhaber/Kynophile" unterliegt der Selbstzensur; H.A.] Mutmaßlich  im Hinblick auf die angestrebte großgründeutsche, schwarz-grün-gelbe Koalition, sodann anläßlich des vom Massaker in Orlando, Fla.,  überschatteten CSD, eines der höchsten Feiertage unserer Zivilreligion, verlieh Merkel in folgenden Worten ihren Überzeugungen Ausdruck: „Ich bin überzeugt, dass unsere Gesellschaft stark genug ist, auch diesen bedrückenden Hass zu überwinden und zu überstehen." Frage: Sind wir  "stark genug", Merkels Erfolge als Willkommenskulturalistin zu überstehen, insbesondere auch ihre rhetorischen Leistungen hinreichend zu würdigen? Schaffen wir das? (Siehe auch: H.A.http://herbert-ammon.blogspot.de/2015/09/historisch-politische-bilanz-der.html)

II.
In derselben Ausgabe der Qualitätszeitung darf sich als „Fremde Feder“ Katrin Göring-Eckardt, die unvollendete Theologin und Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, zum Thema „Für einen sozialen Aufbruch" äußern. Wer soll mit wem wohin aufbrechen? Da das Proletariat sich realsoziologisch und begrifflich bereits in den 1950er Jahren dank wachsendem Wohlstand in der kapitalistischen Industriegesellschaft aufgelöst hat und das jüngere Prekariat als Adressat grüner sozialer Fürsorglichkeit nicht in Frage kommt, gilt Göring-Eckardts Sorge allen, die "keine Chance auf Aufstieg haben, auf ein anderes Leben". Dazu gehören "der  Kurierfahrer genauso wie diejenigen mit Uniabschluss und Auslandserfahrungen." Doch nicht nur das akademische Prekariat gehört zu  Göring-Eckardts grünen Sorgenkindern: "Armut, gerade von Kindern, hat nicht abgenommen, und sie trifft besonders Kinder von Alleinerziehenden, meist Frauen." 

Dass Göring-Eckardts Aufbruch in die bessere Zukunft  - "ein sozialer Aufbruch kann gelingen, wenn wir klarmachen , dass mehr Gerechtigkeit sich für alle lohnt" - nur durch bessere Bildung gelingen wird, versteht sich von selbst: "Die nächste Gründerin eines Dax-Unternehmens könnte heute in Duisburg-Marxloh zur Kita gehen, aber nur, wenn wir sie früh genug fördern, wird sie ihren Weg gehen können."

Für Göring-Eckardt geht es beim Aufruf zum letzten deutschen Aufbruch "aber nicht um Arm und Reich, sondern darum, dass sich alle nach ihren Möglichkeiten an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligen. [...] Wirksam wird nur en stimmiger Mix sein, der es schafft, bröckelnden Arbeitseinkommen und der fortschreitenden Konzentration von Megavermögen gleichsam zu begegnen." Quasi.

III.
Naturgemäß geht es unseren bundesrepublikanischen Sozialforschern darum, in der „Mitte“ unserer Gesellschaft „rechte“, für die pluralistisch-demokratische Werteordnung brandgefährliche Sentiments und Tendenzen offenzulegen und als „erschreckende“ Mahnung in den medialen Diskurs einzuspeisen. Der empirisch-wissenschaftliche Befund stützt sich in der Regel auf Fangfragen („loaded questions“) sowie auf Aussagesätze ("items" oder „statements“), denen der Befragte ob ihrer geistigen Schlichtheit ("Sehen Sie für die Zukunft schwarz? - Ja/ein bißchen/Nein") rat- und hilflos gegenübersteht. Ich darf vermerken, dass ich dergleichen „empirisch-wissenschaftliche“ Verfahren bereits anno 1981 bezüglich einer damals „aufsehenerregenden“ SINUS-Studie („13 Prozent der Deutschen: ´Wir sollten wieder einen Führer haben´“) in Zweifel gezogen habe. Was eine jüngste alarmistische Studie eines Leipziger Instituts (s.o.) betrifft – es ging wieder mal um die kryptonazistische Seele der Ethno-Deutschen -, so empfehle ich dem Publikum folgenden Aufsatz: http://www.rolandtichy.de/kolumnen/alexander-wallasch-heute/studie/

Dazu noch ein Zitat des stets vergnüglich zu lesenden Harald Martenstein: „Immer wenn ich Nazivergleiche lese, denke ich: Da sind jemandem die Argumente ausgegangen. Da war jemand intellektuell ein bisschen überfordert, deshalb musste er Adolf Hitler zu Hilfe rufen. Wenn man es in Deutschland verbieten würde, in Debatten seinen jeweiligen Widerpart mit den Nazis zu vergleichen, würde dies sofort zu einer Niveausteigerung in den Feuilletons führen.“ (Harald Martenstein, ZEIT)

Sonntag, 12. Juni 2016

EM: europäischer Patriotismus ohne Grenzen

Alle zwei Jahre wieder: In den nächsten vier Wochen versammeln sich die Millionen  vor der Glotze, ob zu Hause mit Bier - ggf. aus religiösen Gründen mit oder ohne Mineralwasser - , ob umsatzsteigernd in der bi- oder mononational beflaggten Kneipe, beispielsweise bei dem als Italiener firmierenden Pizza-Albaner, oder – alle  "antifaschistischen" Proteste der weltoffen-teutophoben Grünen Jugend missachtend - fahnenschwingend auf der für Polit-Demos vorübergehend nicht nutzbaren, rucksackfreien "Fanmeile" vor dem Brandenburger Tor. Wenn einer der Millionen teuren Helden ( alle derzeit noch masc.) ins Tor des Gegners trifft, umschlingen sich – je nach Bevölkerungszahl der sechzehn, pardon, zwanzig EM-Teilnehmer – die Millionen, oder Hunderttausende (wie mutmaßlich in Albanien, inkl. Kosovo und westl. Mazedonien).

Das Spektakel wurde mit allerlei Friede, Freundschaft, Eierkuchen signalisierendem Firlefanz eröffnet, dann ging´s mit den Nationalhymnen, mit der von Rumänien und mit Frankreichs blutig-martialischer Marseillaise, richtig los. Ob der stets sorgengeplagte Francois Hollande auf der Tribüne so richtig mitsang oder nicht, war schwer zu erkennen. Wie auch immer, bei der EM tritt der emotional unklare Doppelcharakter der Inszenierung hervor. Angestrebt ist ein (staats-)völkerverbindendes Schauspiel in geographisch unbestimmtem „europäischen“ Rahmen – in der UEFA-Definition reicht Europa (wie bei der OSZE) von Wladiwostok bis Finistère und Guadeloupe. Doch in den Stadien, wo die Nationalmannschaften aufeinandertreffen, auf den Straßen und vor den Bildschirmen manifestieren sich  national(istisch)e Emotionen, die zuweilen bedrohliche Formen annehmen. Wenn es in Marseille zu blutigen Nahkämpfen zwischen Russen und Engländern kommt, wenden wir friedliebenden Europäer (sc. -innen) uns degoutiert ab. Dass sich derlei Prügelszenen auch bei anderer Gelegenheit zwischen „Ultras“ diverser Clubs abspielen, klingt für uns Fußballpazifisten immerhin einleuchtend, sofern es den Vereinen gelingt, ihre sich als Faschos und/oder Neonazis gerierenden Fans/Hooligans aus den Ultra-Blocks zu verbannen. Andererseits: Wenn Barca spielt, stehen die Fans nach 17 Minuten, 14 Sekunden, im Stadion fahnenschwingend auf. Geprügelt wird dort m.W. jedenfalls nicht.

Bei der EM dürfen/sollen – etwas anders als bei der Pegida in Dresden – allen nationalen Gefühlen zum Trotz die Zuschauer europäische Patrioten sein. Gleichwohl steht angesichts der vornehmlich in städtischen Problembezirken hervortretenden Defizite in der Volksbildung (kaum noch geläufiges Synonym für demokratische Kompetenzvermittlung) zu bezweifeln, dass – nicht anders als beim Eurovision Song Contest – die Fans den richtigen, für den Fußball geltenden Begriff für Europa im Kopf haben. Richtig, Albanien gehört noch nicht zur EU, steht in Brüssel indes auf der Kandidatenliste. Mit dem anderen Aspiranten, mit Erdogans Türkei, haben „wir Europäer“ derzeit einige Nöte, so dass zu hoffen bleibt, dass in keinem der Spiele – schon gar nicht etwa im Finale – Jogi Löws bunte Truppe (mit dem Mekka-Pilger Mesut Özil) auf die Mannschaft vom Bosporus (?) trifft. Die Ukraine, „unser“ heutiger Gegner, hat derzeit in Brüssel anscheinend weniger Chancen als Albanien.

Wir Fans wissen, dass die drei im Hexagon auftretenden Teams aus dem vom Brexit bedrohten United Kingdom aus fußballhistorischen Gründen Sonderstatus genießen. Schottland ist nicht mit dabei, allerdings nicht wegen des im Vorjahr gescheiterten Referendums über die Unabhängigkeit. Damit sich unsere politisch unsichere Vorstellung von Europa wenigstens geographisch in etwas sichereren Grenzen hält, sind in den Vorrunden Kasachstan sowie die Kaukasus-Länder, darunter der vergebliche EU-Aspirant Georgien und das Putin-affine Armenien, schon mal ausgeschieden.

Montag, 6. Juni 2016

Corrigenda et commentarii

I.
Als erstes schulde ich dem Publikum eine Korrektur sowie eine Erklärung:
a) Die solitäre Gegenstimme gegen die Erdogan empörende Armenien-Resolution vom letzten Donnerstag kam von der CDU-Abgeordneten Bettina Kudla, nicht von einem/r Abgeordneten mit Migrationshintergrund. Das Faktum der Fast-Einstimmigkeit der Völkermord-Resolution - dank der Abwesenheit von 400 der 630 Kollegen und -innen im Hohen Haus - bleibt vom Dissens der genannten Abgeordneten nicht berührt.

b) Die Leser meines Blogs mögen sich über die verkorkste Chronologie  der beiden letzten Blog-Einträge gewundert haben. Sie ist der Tücke der digitalen Welt geschuldet. Beim Verfassen des "Nachtrags"  zu "Ageth. Eine Textanalyse" (http://herbert-ammon.blogspot.de/2016/06/zum-gedenken-des-ageth-eine-textanalyse_5.html geriet der "Nachtrag" aus Versehen in die Überschrift der am 3. Juni verfaßten Inhalts- und Sprachanalyse zum Völkermord-Text Volker Kauders. Nach einem weiteren faux pas auf der Tastatur - ein Klick auf den button "Löschen" - schien mein ursprünglicher Text im digitalen Abgrund für immer verschwunden. Allein der globalen Fürsorglichkeit von "Google" ist  zu verdanken, dass es mir gelang, den Text aus dem Nichts  zurückzuholen und dem Publikum - wenngleich mit verkehrtem Datum - weiterhin zu präsentieren.

Ich bitte die  Fan-Gemeinde um Nachsicht und - vor ihrem inneren Auge - um die Umstellung der vertauschten Daten.

II.
Ich hoffe auf Vergebung, wenn ich gestehe, mich am gestrigen Sonntagabend als Konsument auf das Niveau der Anne-Will-Show begeben zu haben. Ob Gauland - ohne Frage dem FAS-Journalisten Eckart Lohse im Interview ins Garn gegangen - angesichts der von Will eingespielten Szenen aus Elsterwerda seine Rolle als väterlich seriöse Führungsfigur der AfD eingebüßt hat, und ob die AfD sich auf Dauer  im Quarantäne-Camp einrichten muß, ist schwer zu prognostizieren. Immerhin war die Debatte - mit den die "Deutschen", die "deutsche Gesellschaft" oder wen auch immer wortreich, aber begriffsschief attackierenden Auslassungen der "Migrationsforscherin"  (mit anatolischem Migrationshintergrund) zum Thema "Rassismus" - in einem Punkte erhellend: Justizminister Heiko Maas erklärte mit mildem Lächeln, die - laut Umfrage negative Folgen/Gefahren der "Migration" nicht  erkennen wollende, mithin in glatter Gegenrechnung zu 80 % befürwortende "schweigende Mehrheit" (!) müsse über den ökonomischen Nutzen zusätzlich notwendiger Einwanderung in der globalisierten Wirtschaft des Exportlandes Bundesrepublik noch weiter aufgeklärt werden. Die im September 2015  von Merkel eingeladene Million jungen Männer sei, wenn schon nicht dem angekündigten Ausbildungsstand entsprechend, äußerst bildungswillig und alsbald in der Lage, die von Autochthonen ("Biodeutsche") verursachte demographische Lücke zu schließen.

Unsere Renten sind somit in der brave new world  bis ins Jahrzehnt 2025-2035 wieder sicher... Zweifel kamen auf, als in der anschließenden Tagesschau in Zorn über die Bundestags-Deutschen entbrannte türkische Mitbürger (ohne -innen) im Fußballstadion von Duisburg gezeigt wurden. In völkischer Empörung verkündete ein graumelierter Mitbürger: "Wir Türken sind ein stolzes Volk." Merkel fehlte nicht nur bei der Abstimmung im Bundestag, sondern auch im Duisburger Stadion.

III.
Der heute (Montag, 9.Juni 2016) feierlich angekündigte Verzicht des Bundespräsidenten Joachim Gauck auf eine weitere Amtszeit ist in den Qualitätszeitungen Gegenstand vorgezogener elegischer Nachrufe. Mein Blogger-Kommentar: Gaucks (Selbst-)Inszenierungen im höchsten  Staatsamt der Bundesrepublik waren wenigstens weniger peinlich als die Auftritte - und der Abtritt  mit Großem Zapfenstreich - seines ehedem von Angela Merkel lancierten  Widerparts und Vorgängers Christian Wulff. Mal sehen, wer (w/m) uns - dem Souverän, den Bürgern (...***###etc.), dem desethnifizierten "Volk", im kommenden Jahr 2017 in der Bundesversammlung als über den Parteien stehendes Staatsoberhaupt präsentiert wird.

Sonntag, 5. Juni 2016

Zum Gedenken des Ageth. Eine Textanalyse

I.
Den an ihrem Volk vor hundert Jahren verübten, als historisches  Trauma virulenten Massenmord bezeichnen die  Armenier als ageth. Gestern, am 2. Juni 2016, verurteilte der Bundestag "fast einstimmig"  - unter Abwesenheit einer nicht näher benannten Gruppe von Volksvertretern, bei einer Ablehnung seitens eines weiblichen MdB "mit Migrationshintergrund" sowie einer Enthaltung (mit/ohne Mhg) - eine Resolution, in der die im Kriegsjahr 1915 vom jungtürkischen Triumvirat an der Spitze des Osmanischen Reiches initiierten Massaker an den Armeniern "und anderen christlichen Minderheiten" als "Völkermord" bezeichnet  werden. Der verabschiedete Text spricht auch von der Mitverantwortung der Führung des Deutschen Reiches für die von seinen Verbündeten in Konstantinopel organisierten Greueltaten.

Nicht zufällig fand die Verabschiedung einer  Resolution, auf die man im Gedenkjahr 2015 noch aus "realpolitischer " Rücksicht auf die NATO-verbündete Türkei verzichtet hatte,  im Bundestag (im Reichstag mit Signum "Dem Deutschen Volke") - begründet mit Amtspflichten, notwendigen Auslandsreisen usw. - ohne die Bundeskanzlerin Merkel, ohne Vizekanzler Gabriel, ohne Außenminister Frank Steinmeier  und andere Minister statt. Die politischen Konsequenzen der Resolution waren gleichwohl absehbar: Der für Merkels "Flüchtlingspolitik" unverzichtbare Geschäftspartner Recep Erdogan zeigte sich empört und berief unverzüglich seinen Botschafter aus Berlin ab.

II.
Es geht hier nicht darum, vordergründige Zweifel am Sinn historisch-moralisch begründeter Symbolpolitik zu wecken. Angebracht ist indes die Textanalyse eines Beitrags, den der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU Volker Kauder, zusammen mit dem Grünen-Politiker Cem Özdemir einer der Initiatoren der jetzigen Erklärung, unter dem Titel "Frieden durch Erinnerung" in der gestrigen FAZ (v. 2.6.2015, S. 10) zur Erläuterung vorgelegt hat.

Kauder - der Text unter der Rubrik "Fremde Federn" könnte natürlich auch aus der Feder einer/-s Referentin/-en stammen - beginnt mit dem Verweis auf das Ziel deutscher Außenpolitik, "zur Wahrung der Menschenrechte und des Friedens in aller Welt beizutragen, speziell in Europa und in den angrenzenden Regionen". An dieser Stelle sind bereits ein paar Fragezeichen zu setzen: Wie war das in den 1990er Jahren während der Balkankriege im zerfallenden Jugoslawien, wie war das anno 2003 beim zweiten Irak-Krieg, 2011 in Libyen, wie steht es heute mit den Möglichkeiten deutscher Friedenspolitik in Syrien oder mit der "richtigen" Einflußnahme auf die Türkei bei deren Umgang mit den aufständischen Kurden?

Die Richtigkeit und Bedeutung der Resolution, die begrifflich explizit den Völkermord "an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten" anprangert, begründet Kauder wie folgt: "Nachdem auch die Historiker ganz überwiegend diese Auffassung vertreten haben, ist es auch gerade heute geboten, diese Verbrechen als Völkermord zu bezeichnen." Hier gerät der Autor sichtlich an seine argumentativen ("auch die Historiker ganz überwiegend") und stilistischen Grenzen. Weiter: "Überall in der Welt, gerade im Orient und in Nordafrika, werden wir Zeugen der Verfolgung von Minderheiten, weil sie einer anderen Religion oder Glaubensrichtung angehören." Wurden nicht vor ein paar Wochen - zur Eindämmung der "Zuwanderung" - die maghrebinischen Staaten zu "sicheren Ländern" erklärt? Wie stellt sich die Bundesregierung die Befriedung Libyens - und damit die Minderung des Flüchtlingsstroms übers Mittelmeer - vor?

In den vergangenen Jahren seien zunehmend Muslime "Opfer von Muslimen geworden. Aber auch Christen werden überall auf der Welt bedrängt, verfolgt, ermordet." Kauder ist bestrebt, Präferenzen unter den Opfern zu vermeiden, kommt aber dann doch über den "Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten" in den Jahren 1915 und 1916"  auf das heikle Thema Christenverfolgung: "Dass in Vorderasien und dem Orient manche Regionen nunmehr ´christenfrei´ sind, hat dort seinen Anfang genommen."  Im folgenden Absatz werden zugunsten der mit der "Mitverantwortung" des "Deutschen Kaiserreiches" - der Mitinitiator der Resolution Cem Özdemir sprach im Bundestag von der "Komplizenschaft" des Deutschen Reiches, im heutigen FAZ -Kommentar  schreibt Klaus-Dieter Frankenberger von "einer Mitschuld an den Verbrechen" -  verknüpften Begründung der Resolution  wesentliche historische Fakten schlicht ignoriert.  Die seit Jahren anhaltende massive Verdrängung und Flucht der Christen aus Irak und Syrien ist nicht die Spätfolge des Armeniermords , sondern die Folge des  durch den Irak-Krieg 2003 ausgelösten Chaos sowie des in Gewalt und Zerstörung mündenden "arabischen Frühlings". [Adnote 1): Natürlich ließen  sich die historischen Linien weiter zurück ausziehen - dabei käme indes die gleichfalls bis 1915/16 zurückreichende Verantwortung der Westmächte und deren Nahostpolitik ins Spiel...]


Sodann wendet sich Kauder gegen die Suggestion, die Kennzeichnung des Völkermords an den Armeniern könne "die Bewertung des Holocausts...relativier(en)." Es folgt der Bezug auf die offenbar für die multiethnische "Einwanderungsgesellschaft" nach wie vor verbindliche nationale Identität: "Wir Deutsche werden uns immer mit der Vernichtung unserer jüdischen Mitbürger und anderer Opfergruppen in ganz besonderer Weise auseiandersetzen müssen." Dem Satz ist prima facie ohne Einschränkung zuzustimmen. Ihm gebricht es indes im Blick auf die faktische - und von den "Eliten" kontinuierlich geförderte - Entwicklung Deutschlands zu einer multiethnischen  Gesellschaft an gedanklicher Logik. "Wir Deutsche" ist nichts anderes als der Ausdruck eines historisch-kulturell begründeten Selbstverständnisses, welches seit einigen Jahren von den Diskursverwaltern der "erweiterten Bundesrepublik" (J.H.) als "völkisch" denunziert wird. [Adnote 2): Ein "völkisches" Nationsverständnis offenbarte dieser Tage der Putin-Freund Gerhard Schröder, der "wehleidigen" Gemütern in der einstigen DDR (also einigen "Ostdeutschen"), die noch immer über angebliche Annexionspraktiken westdeutscher "Eliten" lamentierten, vorhielt, sie seien zu keiner Zeit eine eigene Nation noch ein Staatsvolk gewesen, (FAZ v. 3.6.1016, S.4), was nicht anderes heißt, als dass die Bevölkerung zwischen Werra, Elbe und Oder Teil des deutschen.Volkes war und geblieben sei.]

Dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion eine "wertegeleitete Außenpolitik" betreibe, sei Volker Kauder konzediert. In der Politik führt indes nicht selten der Weg von der guten Absicht zum schlechten Ziel - oder wird auf halbem Weg abgebrochen, wie die von "Mother Merkel"  im Einvernehmen mit Erdogan  beendete "Willkommenskultur". Kauder proklamiert  "das Recht und vielleicht sogar die Pflicht, Vorgänge in der Türkei zu bewerten, wenn er (der Bundestag) dies für notwendig hält." Denn "in einem demokratischen Staat sind selbstverständlich alle Staatsorgane (sic!) frei, historische Vorgänge einzuordnen." Den Protesten aufgebrachter (in casu specifico: türkischen) Bürger hält der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende entgegen: "Ein Parlament in einer Demokratie hat aber ein Recht auf eine eigene Meinung."

In der Schlußpassage wiederholt der Autor seine oben gelieferte Begründung. Der Antrag zur Verurteilung des Völkermords an den Armeniern (und anderen christlichen Minderheiten) "beschreibt ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit den Worten, die den Vorgang auch aus Sicht der Historiker [s.o., H.A.] richtig bewerten." Die politische Crux, dass türkische Historiker - erst Recht Recep Erdogan, die MHP, und die kemalistische CHP - den Armeniermord noch immer anders "richtig" bewerten, wird mit derlei Affirmation leider nicht ausgeräumt.

"Er (der Antrag) wählt das Wort Völkermord, damit ein solcher sich nirgendwo auf der Welt wiederholt. Der Antrag ist eine Beitrag zur Wahrheit und zum Schutz der Menschenrechte in der Gegenwart." - Wir wollen es glauben.

III.
Zur  Problematik siehe auch: H.A. http://herbert-ammon.blogspot.de/2013/12/die-armenier-zur-politischen-sicht-der.html.; H.A.:https://www.academia.edu/10673989/Fragen_zu_deutschem_Gedenken_unter_den_Bedingungen_der_neuen_Gesellschaft

Zur historischen Erhellung des betrüblichen Themas verweise ich auf meinen letzten Beitrag, eine Buchbesprechung, in Globkult: http://www.globkult.de/geschichte/rezensionen/1099-kerop-bedoukian-the-urchin-an-armenian%C2%B4s-escape,-london-john-murray-1978,-192-seiten

Freitag, 3. Juni 2016

Nachtrag: Lücke in der Presse, Leere im Plenarsaal

Ein notwendiger Nachtrag: Mein letzter Blog befaßte sich mit der inhaltlich und sprachlich angestrengten Begründung, die CDU/CSU-Fraktionschef Kauder für die Bundestagsresolution zum als solchen nunmehr klassifizierten Völkermord an den Armeniern "und anderen christlichen Minderheiten" in der FAZ (v. 2.6.2016) zu Papier brachte.  (Siehe:http://herbert-ammon.blogspot.de/2016/06/zum-gedenken-des-ageth-eine-textanalyse_5.html ) Ich verwies auf die in der Presse  erwähnte  Abwesenheit der Regierungsspitze ( Merkel, Steinmeier, Gabriel), die von deren diplomatischer Rücksichtnahme auf den Bündnis- und Geschäftspartner Erdogan zeugte. Dessen Reaktion blieb nicht aus: Einbestellung des deutschen Botschafters in Ankara, Abberufung des eigenen Botschafters aus Berlin.

So weit, so vordergründig, so typisch für Diplomatie unter "befreundeten" Staaten... Mit Erleichterung notierten Politiker und Zeitungen, dass die Erdogan-Regierung - anders als die vor nationaler Empörung überfließenden türkischen Zeitungen - offenbar eine Zuspitzung des geschichtspolitischen Konflikts vorerst nicht beabsichtigt. Erdogans neuer Ministerpräsident Binali Yildirim erklärte, niemand solle erwarten, dass sich "mit dieser oder ähnlichen Entscheidungen plötzlich unsere Beziehungen vollständig verschlechtern." Die Berliner Regierungskreise werden´s mit Erleichterung vernommen haben...

Für die Leser dieses Blogs mag eine weitere  Information in Yildirims auf Beruhigung zielender Stellungnahme wesentlich aufschlußreicher sein. Zu einem völligen Bruch werde es zwischen den für einander wichtigen Bündnispartnern auch deshalb nicht  nicht kommen, .weil von den 650 - hier irrt Yildirim: es sind nur 630 - Bundestagsabgeordneten lediglich 250 an der Abstimmung teilgenommen hätten. Man rechnet nach: Im Hohen Haus fehlten laut Yildirim 400 - in Worten: vierhundert - unserer Volksvertreterinnen und -vertreter. Warum wohl?

Da ich mir die TV-Nachrichten, i.e. as mediale Abendgebet mit der vorwurfsvolle dreinblickenden Marietta Slomka oder mit dem empfindsamen Claus Kleber fast immer erspare, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, ob unsere um politisch-moralische Volksbildung bemühten Kameraleute am Donnerstagmittag das Publikum mit Zoom-Aufnahmen ins Plenum des Bundestags beglückten. Wenn ja, so hätte sich ein Bild blaubestuhlter Leere geboten.

Ich verließ mich - wie mutmaßlich auch Sie, liebe Leser - auf die Berichterstattung in der Qualitätspresse.In der besagten FAZ (v. Freitag 3.6) war zwar von einer Anzahl abwesender Abgeordneter die Rede. Bezüglich der überwältigenden Zahl von 400 Fehlenden blieb der Leser jedoch im unklaren über das demokratische Erscheinungsbild im Reichstag. Fazit des Bloggers: Gähnende Leere im Plenarsaal, arithmetische Lücke in  der Presse.

Die Gründe des Fernbleibens von 400 Volksvertreterinnen und -vertretern sind - bei aller Dringlichkeit sonstiger Geschäfte - mutmaßlich nicht allein terminlicher Natur. Denkbar ist, dass die Abgeordneten aus Wahlkreisen mit prekären Stimmenverhältnissen kommen und um ihre Wiederwahl besorgt waren. Nicht auszuschließen ist  auch eine Art Sicherheitsprophylaxe gegen unerwünschten Besuch empörter Mitbürger und/oder Wähler) im Bürgerbüro ihres Wahlkreises.