Mittwoch, 25. März 2015

Macht statt Diskurs: Kondylis´ Kritik der herrschenden Bewusstseinsnormen

Vor Jahren (24.03.2008) veröffentlichte ich in Globkult eine Kritik der vom vermeintlich liberalen  Begriff des "herrschaftsfreien Diskurses" kaschierten sozialen und ideologischen Machtpositionen und -ansprüche. Darin unterzog ich unter anderem den seit den 1990er Jahren dominanten, gleichsam als demokratisches Substrat vorgestellten, indes kaum je definierten Topos der "Zivilgesellschaft" - die "linke" Historikerin Karin Priester spricht von einem "schwammigen Begriff" (K.P.: "Governance in Europa: Auf dem Weg in die Postdemokratie?", in: Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2014, S. 105)- einer Überprüfung. (H.A.:  "Politische Semantik: Zur Durchsetzung von Begriffen im herrschenden Diskurs", in: http://www.globkult.de/herbert-ammon/568-politische-semantik-zur-durchsetzung-von-begriffen-im-herrschenden-diskurs). Zu meiner Genugtuung wurde die Kritik in einem Aufsatz positiv aufgenommen, der in der Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte (ApuZ) der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) erschienen ist. (Vgl. Bettina Fackelmann: "Legitim? Herrschaft durch Sprache in Politik und Wissenschaft", in: ApuZ 9-22/2014 [19.02.2014], http://www.bpb.de/apuz/179349/sprache-in-politik-und-wissenschaft?p=all).

Die beiden Kategorien, die in den Diskursen über die liberale Demokratie, über deren im Begriff der unteilbaren - realiter interpretierbaren - Menschenrechte begründeten, Transzendenz heischenden Selbstbild  sowie über deren universalen Gültigkeitsanspruch weithin vermieden und allenfalls zur Legitimierung des globalen Anspruchs benannt werden,  sind die einst von Max Weber "wertneutral" reflektierten Begriffe "Macht" und "Herrschaft". Das Denken des 1998 zu Tode gekommenen griechisch-deutschen Philosophen Panajotis Kondylis (1943-1998) zielte auf eine (unvollendet gebliebene) Sozialontologie, in der eben diese die soziale - und kulturelle - Existenz des Menschen bestimmende Realität umfassend dargestellt werden sollte. Nichtsdestoweniger hat er in seinem umfangreichen Werk die historisch-soziale Wirklichkeit Europas, die europäischen Denkbewegungen  im Zeichen der Säkularisierung sowie die politisch-sozialen Mechanismen des Massenzeitalters in unbestechlicher Schärfe analysiert.

In dem  1984 veröffentlichten Buch "Macht und Entscheidung. Die Herausbildung der Weltbilder und die Wertfrage" (Stuttgart: Klett-Cotta 1984) legte Kondylis unter dem Leitgedanken des "deskriptiven Dezisionismus" eine "nihilistisch" anmutende Kritik des von den Ideen universeller Vernunft, Vernunftmoral und friedfertiger Kompromissbereitschaft geprägten Selbstbildes des Liberalismus (und/oder der liberalen Demokratie) vor. Alle westlichen (wie anderskulturellen) Wertvorstellungen oder Leitideen gründeten auf einer bewussten oder unbewussten "Ent-scheidung" (oder "De-zision"), letzlich in einem vorrationalen Akt des Subjekts oder der von diesem vorgefundenen und akzeptierten Kultur. Die aufklärerische Vorstellung der autonomen, auf reiner Ratio gegründeten Erkenntnis verweist Kondylis ins Reich der Fiktion. Im Akt der Ent-scheidung - der Scheidung der Welt ("Vorwelt") in ein Identität begründendes eigenes Weltbild und eine das Andere, die - de facto als feindlich ausschließende - Außenwelt kommt ein gegen den Anderen/das Andere gerichteter Machtanspruch zum Ausdruck.

Aus dem genannten Werk seien einige Passagen zitiert, welche das in meinem oben genannten Aufsatz abgewiesene, moralisch und machtpolitische aufgeladene Habermas´sche Postulat eines "herrschaftsfreien Diskurses" (bezüglich der Ausdeutung der Werte und der Praxis der liberalen Demokratie)  überzeugend widerlegen:

- Die Interpretationstätigkeit und der Kampf des Subjekts um das Interpretationsmonopol muß an Bedeutung zusätzlich gewinnen, wenn der Inhalt der Entscheidung in Begriffe gekleidet wird, die nicht ausschließlich bei ihr, sondern auch bei anderen, und zwar feindlichen Entscheidungen ganz oben stehen. [...] Gutgläubige Rationalisten und die ewig betrogenen Liebhaber ´der´ Vernunft pflegen sich dann darüber zu beklagen, daß zentrale Begriffe keine feste und verbindliche Bedeutung besitzen, ´daß die Worte ihren Sinn verloren haben´ etc. Von dem in dieser Klage steckenden Wunsch, die Rolle des Schlichters oder gar des begrifflichen Gesetzgebers zu übernehmen, abgesehen, muß bemerkt werden, daß gewisse Begriffe eben deswegen im Mittelpunkt von Auseinandersetzungen stehen, weil sie vieldeutig genug sind (oder werden können), um den streitenden Parteien einen gemeinsamen Kampfschauplatz bieten zu können.[...] Sobald ein Begriff aus verschiedenen sozialen oder geistesgeschichtlichen Gründen dahin gelangt, den Sprachgebrauch zu beherrschen, wird er von niemandem grundsätzlich abgelehnt, sondern von allen Seiten so interpretiert, daß er dem jeweiligen Ausleger zur Durchsetzung verhelfen kann... (S.71f.)

- Die Interpretationsbedürftigkeit von Normen und Werten, nämlich daß sie allein mittels der jeweils zweckmäßigen Interpretation für den konkreten Fall relevant werden können, ist an sich ein Beweis dafür, daß sie objektivierte Entscheidungen sind und daher Machtansprüche in sich bergen. [...] Da die organisierte Gesellschaft auf einem akzeptierten oder wenigstens respektierten Norm- und Wertsystem beruht, so muß jeder, der innerhalb der Gesellschaft Machtansprüche erfolgreich erheben und langfristig durchsetzen will, sich auf Normen und Werte berufen, gleichviel, ob diese die herrschenden (in einer neuen Interpretation) oder neue sind. In diesem Sinne bilden Normen und Werte eine Weiterführung des existenziellen Kampfes in der konkreten Lage einer organisierten Gesellschaft.... (S.73)

- Der Glaube an den Diskurs als Verfahren zur Lösung nicht bloß gegenwärtiger, also bestimmte Machtverhältnisse schon voraussetzender Fragen, sondern letzter existenzieller Gegensätze drückt somit die Machtansprüche derjenigen aus, die die eigene starke Seite im Debattieren und Argumentieren erblicken, d.h. er artikuliert in sublimer Form die Hoffnung der Kleinbürger des Geistes, sie könnten härteren Kampfformen ausweichen, denen sie nicht gewachsen sind und in denen ihre Stimme und Existenz völlig bedetungslos wäre. Dieser Glaube nährt sich übrigens verschiedentlich vom uralten Traum, ein friedliches Pradies auf Erden zu errrichten (vorerst in der bescheidenen Form der Verwendung friedlicher Verfahren zur Beilegung von Konflikten) und verschränkt sich mit der ebenfalls uralten Auffassung von der nicht bloß zweckrational, sondern moralisch-normativ gemeinten Vernünftigkeit des Menschen... (S.78)






Donnerstag, 19. März 2015

Kopftuch-Pluralismus

Dank der zahlreichen Aufrufe des letzten Tages sieht sich der Blogger zu einem Eintrag aufgefordert. Deshalb ein kurzer Kommentar zum Kopftuch-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, ehedem oder noch bekannt als diejenige Institution unseres politischen Systems,  dem die Bürger (sc. -innen) das größte Vertrauen entgegenbringen. Nach dem letzten Urteil (6:2), das einen früheren, gegenteiligen Urteilsspruch zum Verhüllungstuch frommer Neubürgerinnen revidiert, sind Zweifel an Ideologie und Weisheit unserer Verfassungshüter und -innen  angebracht.

Vor Jahren stellte sich der Zweite Senat des BVfG noch auf die Seite des Landes Baden-Württtemberg, das der von ihren Islam-Oberen vorgeschickten Lehrerin Fareshda Ludin das Tragen des Glaubenssymbols in der Schule untersagt hatte. Der Erste Senat des  BVfG begründet sein nunmehr entgegengesetztes  Kopftuch-Toleranzedikt mit dem Recht auf Religionsfreiheit sowie dem zum heiligsten acquis constitutionelle  erhobenen Pluralismus-Konzept des "weltanschaulich neutralen" Staates. Wenn es denn realiter so wäre! Zum einen erregen sich radikale Liberale seit langem darüber, dass die Kirchen in vielerlei Hinsicht - nicht allein  über die staatlich eingetriebene Kirchensteuer - nach wie vor Privilegien genießen, während oft dieselben Liberalen (inklusive der Grünen) aus multikulturellem Enthusiasmus beklagen, dass den diversen Islamverbänden derlei Rechte noch immer versagt seien. Der Laizismus hört dort auf, wo es um die vermeintlich missachteten Rechte der Neubürger geht. Logik, man weiß es,  gehört nicht unbedingt zum geistigen Inventar politischer Protagonisten.

Ironisch erscheint die Haltung der Kirchen, die sich von dem Kopftuch-Urteil Chancen auf die Rückkehr von Kreuzen oder Kruzifixen in Schulen oder anderswo erhoffen. Dass sie dabei bei den Verfassungsrichtern, welche vor Jahren einer Anti-Kruzifix-Klage im Klassenzimmer - teilweise - stattgegeben haben, Unterstützung finden könnten, ist kaum anzunehmen. Immerhin war die Begründung des  (im argumentativen Notfall menschenrechtlichen ???) Kopftuchrechts auf dem Haupt einer muslimisch frommen Lehrerin im Sinne des Wertepluralismus erhellend: Es unterrichteten ja auch Nonnen mit ihrer spezifischen Tracht in deutschen Schulen. Meines Wissens tragen Nonnen ihre Haube allein in katholischen Schulen oder im Religionsunterricht, nicht in jedem beliebigem Schulraum des bundesrepublikanischen Bildungswesens. Aber wen schert ein solch kleiner Unterschied?

An dieser Stelle ein Nachtrag: In der FAZ  (07.05.2015, S. 13) hat man der aus Afghanistan stammenden Fereshta Ludin - sie unterrichtet nach Scheidung von ihrem deutsch-alemannischen Ehemann nicht mehr in Baden-Württemberg, sondern an einer islamischen Privatschule im multikulturellen Berlin - Platz für eine Kopftuch-Apologie in eigener Sache eingeräumt. Frau Ludin polemisiert gegen die kemalistische Kopftuch-Gegnerin Necla Kelek sowie insbesondere gegen die für ihre polemische Begabung bekannte Alice Schwarzer, die in ihrer "Emma" Frau Ludin vorgeworfen hatte, sie habe  einst  bei den Taliban einen "Urlaub" verbracht. Auch dass sie eine "Islamistin" sei, erklärt Frau Ludin für "völligen Unsinn". Der Lehrerin Ludin geht es "in diesem Land" nur um die Verteidigung ihrer spezifisch feministischen Wahlfreiheit. "Mir ist wichtig, dass jede Frau ihren persönlichen Weg findet - ob mit oder ohne Kopftuch."

Beruhigend für Kopftuch-Skeptiker könnte der Schlußsatz des Artikels wirken, wo Frau Ludin noch einmal betont, was sie "schon mehrfach gesagt" habe: "Schaut uns in die Augen. Und nicht auf den Kopf!" Immerhin: Frau Ludin kämpft nicht - noch nicht? - für das Recht der Ganzkörperverschalung. Eine Frage lässt sie - sowie der BVfG - offen: Welche Organisation animierte und bezahlte Frau Ludins Kampf durch die Instanzen?

Wie dem Vormarsch des Kopftuches, das von allen türkischstämmigen Alewiten und Kemalisten vehement abgelehnt wird, in der wertepluralistischen Bundesrepublik beizukommen  ist, liegt jenseits der politischen Möglichkeiten des Bloggers. In seiner Hilflosigkeit kommt ihm als Alternative der Laizismus à la francaise in den Sinn. So recht glücklich sind die Franzosen damit angesichts der Verhältnisse in den Banlieues inzwischen auch nicht mehr.

So bleibt als kleine Hoffnung im bundesrepublikanischen Wertepotpourri, dass Niqba, Schador und Burka - wederum als Ausdruck und Steigerungsformen des religiösen Wertepluralismus - vorerst nicht zur pädagogischen Grundvoraussetzung des auf diversity ausgerichteten Wertekanons in den Schulen gehören. Im übrigen hat das BVfG eine Hintertür offen gelassen: Wenn es wegen einer Kopftuchlehrerin in einer Schule Krach geben sollte, d.h. wenn sich die reaktionären, monokulturell orientierten, nichtgrünen Erziehungsberechtigten  und/oder Eltern empören, kann der Kopftuchträgerin der Verzicht auf ihr frommes Bekleidungsstück nahegelegt werden.

(Zum Thema siehe auch den Blog-Eintrag "Beichtspiegel und Burka" vom 26.04.2014.)