Freitag, 26. Mai 2023

Notizen zum grünen Pfingstfest 2023

Ich stelle meinen Globkult-Artikel https://www.globkult.de/politik/deutschland/2296-die-gruenen-bestimmen-die-richtlinien-der-politik hier noch einmal als Blog-Eintrag vor:

 Laut Grundgesetz bestimmt der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik. Dass Bundeskanzler Olaf Scholz in seinem Ampel-Kabinett diesen Auftrag mit Durchsetzungsvermögen wahrnähme, ist schwer zu erkennen. Die treibende Kraft in der Ampel – wie in nahezu allen Bereichen von Politik und Gesellschaft in diesem unserem Lande – sind die von unbefleckten Idealen bewegten Grünen. Dass die ökologisch-materielle Familienaffäre – für Kenner der grünen Netzwerke ein keineswegs überraschender Fall von Nepotismus – des entlassenen Energiestaatssekretärs Patrick Graichen die Grünen in den Umfragen ein paar Prozente gekostet hat, fällt politisch nicht ins Gewicht. Seit Merkel ist deutsche Politik nur noch grün. An diesem Faktum wird sich auch solange nichts ändern, wie Scholz und Lindner an der Ampel festhalten.

Wirtschaftsminister Robert Habeck, als Literaturwissenschaftler und Kinderbuchautor ökologisch, nicht ökonomisch versiert, hält auch nach Graichens Entlassung am deutschen Weg zur Klimarettung fest. Graichens Nachfolger Philipp Nimmermann, so Habeck, ›wird mit seiner Stringenz die Energiewende, die Wärmewende und die Transformation voranbringen.‹ Wenn es um ihre Ideale geht, nutzen die Grünen die Instrumente der Macht.

Während Strom aus französischen und polnischen Atomkraftwerken sowie Kohle aus Kolumbien importiert werden, setzt das von der Ampel beschlossene grüne Klimaprogramm das von Inflation und schwachen Wachstumsraten betroffene Volk unter ökonomischen Druck. Immerhin zeigt Habeck plötzlich Verständnis für einige von Energiesorgen geplagte Industrieunternehmen. Er will die – bislang maßgeblich von der hoch subventionierten Energiewende verursachten – Stromkosten in der Stahl- und Chemieindustrie mit einem Preis von sechs Cent pro Kilowattstunde mindern. Auch wenn das Geld dafür aus dem Wirtschaftsstabilitätsfonds kommen soll, heißt das nichts anderes als neue Subventionen für grüne Stromerzeugung. Widerspruch regt sich derzeit noch bei der FDP, die indes aus Liebe zur grünen Ampel die Abschaltung der letzten Atomkraftwerke widerspruchslos geschehen ließ.

Justizminister Marco Buschmann (FDP) propagiert eine Erweiterung des Familienbegriffs, der grüner, bunter und absurder nicht sein kann. Laut dem Gesetzentwurf aus seinem – mutmaßlich grün-divers bemannten/befrauten – Ministerium gilt die nach Lust und Jahreszeit variable Geschlechtszugehörigkeit, jedoch nicht im Kriegsfall. Dann müssen vor allem Männer wieder als Männer und Frauen als Frauen – letztere der Bundeswehr bislang ohne gerechte Geschlechterparität vertreten – an die Front. Der Ernstfall ist zum Glück noch nicht eingetreten, denn entgegen der von der grünen Außenministerin Baerbock kurzzeitig vertretenen Ansicht, befinden ›wir‹ – gemeint war die Nato – uns noch nicht im Krieg mit Russland.

Nach eigenem Bekunden betreibt Annalena Baerbock in dem – unlängst durch Abhängen eines letzten Bismarck-Porträts grün und rötlich gereinigten – Auswärtigen Amt ›feministische‹ Außenpolitik. Dank umfassender medialer Unterstützung kommt sie damit in der deutschen Öffentlichkeit durch, auch wenn ihr Auftritt in Beijing von ihrem chinesischen Amtskollegen Wang Yi als westliche Anmaßung kühl abgewehrt wurde. Immerhin gelang ihr beim kräftigen Händeschütteln mit dem Industrieminister der Vereinigten Arabischen Emirate ein energie- und wirtschaftspolitischer Erfolg. Grüner Strom, gewonnen aus Flüssiggas, kommt künftig – nicht ganz klimaneutral – auch aus den VAE, nicht nur aus Katar und den USA. Klar, grüne Energiepolitik. Unklar ist nur, was daran feministisch sein soll.

Lieblingsthema grüner Außenpolitik ist die Migration mit dem Ziel, die Bundesrepublik Deutschland noch bunter zu machen. Kritiker aus den eigenen Reihen – nach dem Austritt Boris Palmers bleibt nur noch der grüne Landrat im mainfränkischen Miltenberg als Stimme der Vernunft – kommen gegen den grün-medialen Mainstream nicht an. Während Scholz zum zentralen Thema deutscher Innenpolitik schweigt und die FDP – am Thema vorbei – für mehr ›Fachkräfte aus Drittländern‹ plädiert, gehört Innenministerin Nancy Faeser (SPD) zu den innigsten Verbündeten der Grünen im Kabinett. Unbeeindruckt von der Debatte auf EU-Ebene und den längst auf Kurswechsel dringenden EU-Staaten, verfolgt die Ampel im Zeichen einer seit Jahren verschleppten Asylpolitik die grün-linke Leitidee der multikulturellen ›Bereicherung‹. Das Land soll sich grundlegend ändern, und Karin Göring-Eckardt, Frontfrau des grün-protestantischen Milieus, ›freut sich darauf‹.

Einst wurde den Grünen unter der Spottbezeichnung ›Ökopaxe‹ nachgesagt, sie seien die späten Erben der deutschen Romantik. Was die – ihrer Herkunft nach bunt gemischten – Grünen stark machte, war ihre vermeintlich vorbehaltlose Friedensliebe und mehr noch ihr massenwirksamer militanter Kampf gegen die Atomenergie als Menschheitsbedrohung. Die Vorstellung eines unzweifelhaften Pazifismus wurde spätestens im Kosovo-Krieg anno 1998 von Gerhard Schröders grünem Außenminister Joschka Fischer wortstark weggefegt, als dieser den Nato-Einsatz der Bundeswehr im zerfallenen Jugoslawien mit der geschichtliche Lehre ›aus Auschwitz‹ begründete. Was vom Pazifismus der Gründergeneration übrig blieb, ist die oben zitierte, eilig korrigierte Erkenntnis von Annalena Baerbock.

Ob das grüne Erfolgskonzept ›Atomkraft? Nein danke!‹ linken oder rechten Ursprungs ist, sei als Frage dahingestellt. Immerhin ist dieser Gründungsmythos aus den 1980er Jahren mit der Stilllegung der letzten Kernkraftwerke im April 2023 deutsche Praxis geworden. Gleichwohl, dass die Grünen mit Naturromantik nichts im Sinn haben, beweisen – von den weiter laufenden, CO2 ausstoßenden Kohlekraftwerken abgesehen – die gigantischen Windräder, verankert in enormen Beton/Stahl-Fundamenten, mit denen auch in den letzten deutschen romantisch-lieblichen Gefilden, im hessischen Märchenwald der Brüder Grimm sowie auf den romantisch-herben Hügellandschaften der Uckermark die grüne Energiewende erzwungen wird.

Kann man von Kriegsromantik sprechen, wenn die Grünen um Annalena Baerbock und Katrin Göring-Eckardt, mit Verve assistiert von der FDP-Politikerin Strack-Zimmermann, mehr Waffen für den Sieg der Ukraine über den Aggressor Putin fordern? Nein, denn nicht allein für sie geht es um einen bellum iustum, inspiriert von wehrhaftem, westlich wertebewussten Idealismus, getragen von illusionslosem Realismus bezüglich des tief verwurzelten russischen Imperialismus. Die Idee, dass im Ukrainekrieg auch andere Machtinteressen im Spiele sein könnten, weisen die Grünen als Vertreter der reinen Moral als unzulässig ab. Auf Entrüstung reagiert man auf die kühle Neutralität von Vertretern der einstigen ›Dritten Welt‹ und des hierzulande unter türkischen Migranten beliebten Erdogan.

In der Ideengeschichte – und in der historischen Wirklichkeit des Vormärz, maßgeblich in der Welle des Philhellenismus – unterscheiden und überschneiden sich Idealismus und Romantik. An dem noch lange nicht absehbaren Ausgang des Ukrainekrieges wird sich entscheiden, ob unsere grünen deutschen Idealisten nicht auch von romantischen Wunschvorstellungen – Sieg über Putin und Rückgabe aller russisch besetzten Gebiete an die Ukraine – bewegt sind.

Montag, 27. Februar 2023

Krieg ohne Aussicht auf einen "gerechten" Frieden

I.

Mein zuerst auf auf https://globkult.de/geschichte/zeitgeschichte/2273-die-ukraine-und-die-aktualitaet-des-peloponnesischen-krieges unternommener Versuch, die Hintergründe des von Putin vor einem Jahr eröffneten Ukraine-Krieges  zu entschlüsseln und - ausgehend von der derzeitigen Lage - die geringen Aussichten auf eine Art "Frieden" zu definieren, ist in aktualisierter Version auf Tichys Einblick erschienen: "Die Aussichten auf einen "faulen" Nikias-Frieden" (https://www.tichyseinblick.de/meinungen/ukraine-krieg-nikias-frieden/

Dort hat er in 51 Leserkommentaren breite Resonanz - und mehrheitlich Zustimmung - gefunden. Es geht - jenseits eines schlichten Schwarz-Weiß oder Gut-Böse Schemas - um eine Analyse des Ursachengeflechts des Kriegsgeschehens sowie um eine Abwägung der Chancen auf einen bestenfalls "faulen" Nikias-Frieden.

II.

Für die Leser (m/w) meines Blogs zitiere ich aus meinem Aufsatz auf TE folgenden Auszug:

Mit der...auf amerikanisches Drängen von der Bundesregierung beschlossenen Lieferung von deutschen Kampfpanzern an die Ukraine sowie dem ukrainischen Drängen auf weitere Waffensysteme geht der Krieg in eine weitere Etappe. In das Eskalationsmuster fügt sich die überraschende Reise des amerikanischen Präsidenten Biden nach Kiew und nach Warschau, verknüpft mit Zusagen weiterer Hilfe an Selenskyi. Ob Reaktion oder längst geplanter Schritt im Großmacht-Konflikt – in großer Rede suspendierte Putin die russische Beteiligung an dem mit den USA anno 2010 geschlossenen Abkommen zur Begrenzung von Nuklearwaffen (New Start). Er gab dem Westen die Schuld am Ukrainekrieg und demonstrierte russische Siegesentschlossenheit.

Vor diesem Hintergrund hat sich die deutsche Öffentlichkeit – sprich: das politisch engagierte Publikum - in zwei Lager gespalten: Die eine Seite- befürwortet die umfassende Unterstützung der Ukraine gegen Russland unter Putin, die andere Seite – durch den Aufruf von Sarah Wagenknecht und Alice Schwarzer spektakulär hervorgetreten – warnt vor weiterer Eskalation und plädiert – implizit - für eine deutsche Friedensinitiative. 

Beide Seiten vermeiden eine Analyse der komplexen, für das Kriegsgeschehen ursächlichen und für dessen künftige Entwicklung – und für eventuelle Friedensaussichten – schwer berechenbaren Faktoren. Zusammengesetzt aus Machtverhältnissen und -projektionen, Interessen, Psychologie, Ideologie, militärischem Potential, Ressourcen und Strategie, ergibt sich ein „modernes“ politisches Puzzle. Eine Auflösung des Ukraine-Rätsels scheint in mehreren Varianten denkbar. Sofern wir eine Eskalation bis zum Einsatz von Atomwaffen ausschließen, dürfen wir über folgende Alternativen eines Kriegsausgangs spekulieren: a) der „totale“ Sieg der einen oder anderen Seite b) beidseitige Erschöpfung, die am Ende zu einem wie immer gearteten Kompromissfrieden nötigt c) ein Regimewechsel in Moskau oder Kiew, der den Weg zu Verhandlungen eröffnet d) ein nachlassendes Interesse der USA, ein „Einschlafen“ des Krieges auf dem Gebiet der Ukraine sowie ein Erstarren der Fronten im Donbass.

Vorerst ist – mit Ausnahme der auf einen Sieg der Ukraine eingeschworenen deutschen Grünen - an die Realisierung einer der genannten Varianten – nur schwer zu denken. Aus westlicher Sicht handelt es sich um einen - gemäß UN-Satzung völkerrechtlich sanktionierten – reinen Verteidigungskrieg der ihre staatliche Souveränität, ihre territoriale Integrität und ihre Demokratie und Freiheit verteidigenden Ukraine gegen den russisch-imperialen Aggressor Putin. Aus dieser Sicht, bestätigt und geschärft durch tagtägliche Bilder des Grauens und Leidens, ist unzweideutige Parteinahme geboten: Es geht um die Wahrung des Völkerrechts, allgemein um die Verteidigung des Rechts gegen die Amoral brutaler Macht.

Dass es sich – jenseits aller völkerrechtlichen und mdoralischen Aspekte des Krieges - um einen Großmachtkonflikt zwischen den USA und Russland handelt, wird hierzulande kaum diskutiert, ist in der amerikanischen Debatte als Thema deutlich präsent. Zuletzt lenkte die an der Georgetown Uniersity lehrende Emma Ashford den Blick auf die macht- und geopolitische Rivalität hinter dem Ukrainekrieg („The Persistence of Great Power Politics“ in: Foreign Affairs vom 20.02.2023, https://www.foreignaffairs.com/ukraine/persistence-great-power-politics?utm_medium=newsletters&utm_source=fatoday&utm_campaign=The%20Persistence%20of%20Great-Power%20Politics&utm_content=20230220&utm_term=FA%20Today%20-%20112017 )

[…] Einwände gegen die vorherrschende Deutung des Ukraine-Kriegs sind nicht statthaft. Aus dem Blick geraten dabei indes die unterschiedlichen Interessen, letzlich Machtinteressen aller im Ukraine-Konflikt involvierten Staaten und Regierungen. Ausgeblendet wird zudem die lange Vorgeschichte des Krieges, die weiter zurückreicht als zu dem Machtwechsel in Kiew im Kontext der blutig eskalierten Maidan-Ereignisse 2013/14.

[…] Zu den tieferen Ursachen des Ukraine-Krieges, die im frühen 21. Jahrhundert – etwa seit auf den Machtantritt Putins in Moskau anno 2000 – mit den mittelbaren Konfliktmomenten zusammenfallen, gehört indes das Mächtespiel auf dem europäischen Kontinent. Wie ehedem zweimal zuvor - im politisch-militärischen Machtkalkül der deutschen Führung im Kriegsjahr 1918, sodann Hitler-Deutschlands im Zweiten Weltkrieg – wurde die Ukraine zum Operationsraum der Großmächte.

In der moralisch aufgeladenen Sicht der Dinge erscheint es unstatthaft, angesichts der Kriegsszenen im Donbass sowie der Drohnenangriffe auf ukrainische Städte an diesen Teil der Vorgeschichte zu erinnern. Gleichwohl: Die sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als „einzige Weltmacht“ (Zbigniew Brzezinski) verstehende USA forderte – de facto, intentional aus der Sicht Moskaus – mit der vor allem von den baltischen Staaten und Polen erwünschten Ostausdehnung der NATO 1995ff. das geschwächte, sich als Großmacht gedemütigt fühlende Russland heraus. Die Herausforderung geschah auf geopolitischem, militärischem und – im Zeichen demokratischer Freiheitsrechte gegen autoritäre Strukturen und Traditionen – ideologischem Gebiet.

Als point of no return für den neu aufbrechenden Ost-West-Konflikt erscheint Putins Absage an den Westen auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007. Es folgte im August 2008 der kurze Krieg gegen Georgien, das sich unter dem damaligen Präsidenten Micheil Saakaschwili zu einem Angriff auf – unzweifelhaft provokativ vorgerückte - russische Positionen in Südossetien hatte verleiten lassen. Von dem – im Westen als erfolgreiche „orangene Revolution“ gefeierten - Regimewechsel in Kiew im Februar 2014 (siehe „Chronologie der Maidan-Revolution“, https://www.nzz.ch/international/ukraine-chronologie-der-maidan-revolution-ld.1290571) führt der Weg über die russische Besetzung der strategisch bedeutsamen Krim Ende Februar 2014 und die nur wenig später in der Ostukraine einsetzenden Kämpfe russischer Separatisten gegen die Kiewer Zentralregierung in den von Putin am 24. Februar 2022 eröffneten Krieg.

Ein Ende ist nicht abzusehen

Wir begeben uns auf das Terrain der Spekulation, wenn wir nach dem auslösenden Faktor (trigger) für Putins Entscheidung zum großen Krieg fragen. Am 22. Februar 2022 kündigte Putin das sieben Jahre zuvor (12.02.2015) zur Beilegung des butigen Konfikts im Donbass ausgehandelten Minsk II-Abkommens auf. Er rechtfertigte dies mit der Obstruktion des Abkommens seitens der – in der Tat an der Verwirklichung der Vereinbarungen wenig interessierten - Kiewer Regierung. Ausschlaggebend für den – von Putin als vermeintlich unmittelbar durchschlagende „militärische Spezialoperation“ geplanten – Großangriff dürfte die Wahrnehmung der mutmaßlich auf Rückeroberung der russisch besetzen Gebiete mitsamt der Krim zielenden Ausbildung und Aufrüstung ukrainischer Truppen durch Briten und Amerikaner gewesen sein. [...] 

Schlussfolgerung

Damit kehren wir zu den eingangs erwähnten Varianten eines Kriegsausgangs zurück. Am Ende könnte es auf einen – für die Ukraine und ihre westlichen Unterstützer unbefriedigenden - Deal hinauslaufen, bei dem Putin einen Teil seiner Eroberungen – maßgeblich die Krim - behält und die Ukraine auf einen Beitritt zur NATO verzichten muss. Unabhängig von einem derartigen Szenario haben sich im Gefolge des Krieges – zuletzt durch die in Brüssel groß inszenierte Verkündung eines EU-Kandidatenstatus für die Ukraine – die Machtgewichte in Europa verschoben: Während die Position der östlichen EU-Staaten gestärkt ist, hat die Bundesrepublik Deutschland nach Durchtrennung ihrer Sonderbeziehungen zu Russland und lange unklarer Parteinahme ihre halbhegemoniale Rolle in Europa eingebüßt.

III.

Auf meine Ausführungen haben zwei Freunde mit nicht unberechtiger Kritik geantwortet. Beide beziehen sich auf die in meiner Argumentation enthaltenen Mutmaßungen. Soweit damit die eingangs - und am Ende - als mögliche Varianten eines Kriegsausgangs gemeint sind, habe ich meine diesbezüglichen Überlegungen selbst als "auf dem Terrain der Spekulation" angesiedelt. Anders steht es mit meiner "Mutmaßung" bezüglich des für das Eklatieren des bereits seit dem Regimewechsel in Kiew nach den Ereignissen auf dem Maidan 2013/2014 mit Gewalt - Kämpfe im Donbass und Besetzung der Krim - ausgetragenen Konflikts. 

Für meine These, wesentlich ausschlaggebend für Putins - vor Kiew wider Erwarten gescheiterte - "militärische Spezialoperation" sei die von ukrainischer Seite geplante Rückeroberung der Gebiete im Donbass sowie der Krim gewesen,gibt es enen Beleg in Ukas No 117/2021 der Kiewer Regierung vom 24. März 2021. Darin geht es um "1. Die Politik der Beendigung des Besatzungsregimes und Wiedereingliederung der vorübergehendbesetzten Territorien der Autonomen Republik Krim und der StadtSewastopol (im Folgenden als vorübergehend besetzte Territorien bezeichnet)besteht aus einemganzen elementenkomplex zur Durchführung einer Reihe von Maßnahmen, diplomatischer, miltärischer, wirtschaftlicher, informationeller, humanitärer und anderer Art." (https://www.president.gov.ua/documents/1172021-37533?_x_tr_sl=uk&_x_tr_hl=de&_x_tr_pto=wapp)

Zu erinnern ist auch daran, dass die ukrainische Regierung unter dem damaligen pro-westlichen Präsidenten Viktor Juschtschenko bereits 2008 eine Verlängerung des bis 2017 geschlossenen Pachtvertrags kategorisch abgelehnt hatte.(https://www.derstandard.at/story/1224776229310/verlaengerung-des-pachtvertrages-fuer-russische-schwarzmeerflotte-abgelehnt). Umgekehrt vereinbarte anno 2010 der prorussische Präsident Viktor Janukowitsch  2010 mit Moskau, dass der 2017 zu erneuernde Pachtvertrag für die Stationierung der russischen Flotte um 25 Jahre verlängert werden sollte.  (https://www.handelsblatt.com/politik/international/die-krim-zankapfel-zwischen-moskau-und-kiew/9558502.html).

Kurz vor der russischen Besetzung der Krim Ende Februar 2021 setzte das Parlament in Kiew ein Gesetz außer Kraft, welches das Russische dem Ukrainischen auf der Krim als Amtssprache gleichgestellt hatte. Laut Süddeutscher Zeitung vom 28. Februar hielt "sogar die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) dies für eine ziemlich schlechte Idee... Es könnte der Funke sein, den es braucht für eine Explosion." (https://www.sueddeutsche.de/politik/ukrainische-halbinsel-krim-russlands-faustpfand-am-schwarzen-meer-1.1900555)

Fazit: In der von Schreckensbildern und berechtigter Empörung über Putin geprägten Debatte sind sowohl die komplexen, vorrangig machtpolitischen Hintergründe sowie die von mir als "Trigger" bezeichneten Details außer Blick geraten. Während Nato-Generalsekretär Gerhard  Stoltenberg und andere Akteure von einem noch Jahre andauernden Krieg sprechen, können wir nicht mehr tun, als auf ein möglichst baldiges Ende dieses Krieges zu hoffen.




 

 


Dienstag, 21. Februar 2023

22. Februar 2023: Zum Gedenken an Sophie Scholl und die "Weiße Rose"

 

Historisches Gedenken in  ahistorischer Gesellschaft 
 
Heute, am 22. Februar 2023 - Höhepunkt des Faschings- und Karnevalstreibens in "unserem" Land -   ist des Tages vor achtzig Jahren zu gedenken, an dem die Geschwister Scholl und Christl Probst, von Freislers "Volksgerichtshof" ein paar Stunden zuvor zum Tode verurteilt, im Zuchthaus München-Stadelheim unter dem Fallbeil starben.  Gedenken - in zivilreligiöser Terminologie remembrance -  gedenkwürdiger Ereignisse ist dem historischen Prozess unterworfen und dient den jeweiligen ideellen Tendenzen und geschichtspolitischen Zwecken.  
 
Wenn daher das Gedenken an den Widerstand gegen das verbrecherische NS-Regime im Zeichen der "Weißen Rose", den Hans und Sophie Scholl, Christl Probst, Alexander Schmorell, Willi Graf, Kurt Huber und Hans Leipelt mit ihrem Leben bezahlten, zum historisch-ethischen Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland, so steht derartiges Gedenken in tendenziellem Widerspruch zur ahistorischen Gesellschaft des "modernen Einwanderungslandes Deutschland". Nicht nur für Jüngere muten die Worte, die Sophie Scholl mit ungebrochener seelischer Kraft dem "Volksgerichtshof" entgegenhielt, geschichtlich weit entrückt und politisch ungeeignet an: "Ich bin nach wie vor der Meinung, das Beste getan zu haben, was ich gerade jetzt für mein Volk tun konnte. Ich bereue deshalb meine Handlungsweise nicht und will die Folgen, die mir aus meiner Handlungsweise erwachsen, auf mich nehmen." 
 
Vor allem die Biographien von Hans und Sophie Scholl haben eine ganze Anzahl von Autoren und Autorinnen gefunden. Nachfolgend stelle ich meine Rezension des biographischen Essays vor, den der Historiker Klaus-Rüdiger Mai Sophie Scholl gewidmet hat.

Ricarda Huchs Konzept eines Gedenkbuches

Im Sommer 1946 entdeckte die Cellistin Susanne Hirzel in der Zeitung einen Aufruf von Ricarda Huch Zeugnisse für ein Buch zum Gedenken der „Heldenmütigen“ zu sammeln, die den Versuch gewagt hatten, das „klug gesicherte Schreckensregiment“ zu stürzen. Die Schriftstellerin, über ihren Schwiegersohn Franz Böhm dem Widerstand des 20. Juli verbunden, hatte es sich „zur Aufgabe gemacht, Lebensbilder dieser für uns Gestorbenen“ für ein solches Gedenkbuch aufzuzeichnen, „damit das deutsche Volk daran einen Schatz besitze, der es mitten im Elend noch reich macht.“

Die Ulmer Pfarrerstochter Susanne Hirzel, seit 1935 mit der gleichaltrigen Sophie Scholl befreundet, war im zweiten „Weiße Rose“-Prozess des „Volksgerichtshofs“ unter Roland Freisler, der Kurt Huber, Alexander Schmorell und Willi Graf im April 1943 zum Tode verurteilte, mit einer halbjährigen Strafe davongekommen. Sie antwortete der Schriftstellerin - die das geplante Werk vor ihrem Tod (1947) selbst nicht vollenden konnte - mit einem langen Brief, in dem sie an den Todesmut ihrer Freundin Sophie Scholl erinnerte. Im Januar 1943 habe ihr Sophie von den Flugblattaktionen ihres Münchner Freundeskreises erzählt. Einer müsse den Mut haben, anzufangen. „Wenn ich Gelegenheit hätte, Hitler zu erschießen, so müßte ich es tun, auch als Mädchen.“

Diktatur und „Eigensinn“

Mit seinem biographischen Essay zu Sophie Scholl legt Klaus-Rüdiger Mai ein Buch vor, das – ungeachtet einiger lässlicher Ungenauigkeiten - inmitten der reichhaltigen Literatur über die „Weiße Rose“ über das Gedenkjahr 2023 hinaus Beachtung verdient. Auch in diesem schmalen Buch geht es um das Grundthema aller Scholl-Biographien (siehe zuletzt: https://globkult.de/geschichte/rezensionen/2151-fritz-schmidt-juergen-reulecke-hans-scholl ) – von der anfänglichen Hitler-Begeisterung über Abwendung von der NS-Diktatur hin zu offenem, todesmutigen Widerstand. In seinem Sophie-Scholl-Porträt vertieft der Historiker Mai - unter anderem Verfasser einer Biographie der Märtyrerin Edith Stein - das im Lebensweg angelegte Thema auf vielschichtige Weise. Da geht es zum einen durch die Einordnung des NS-Regimes in dessen historische Bedingungen, zum anderen um die Willkürerfahrungen von selbstbewussten - „eigensinnigen“ - jungen Menschen wie der Scholls und ihrer Freunde mit totalitärer Praxis. Das psychologische Motiv verknüpft Mai mit – im Hinblick auf die Bedeutung des französischen Rénouveau catholique und des Münchner „Hochland“-Kreises um Carl Muth und Theodor Haecker philosophiegeschichtlich weit ausgreifenden - Reflexionen über die christlich-religiösen Ressourcen, aus denen Sophie Scholl, ihre Geschwister und ihre Freunde schöpften.

Die politische Atmosphäre Deutschlands in der Endphase der Weimarer Republik kennzeichnet Mai mit erhellenden Zitaten. Das eine stammt von dem im italienischen Faschismus verwurzelten Schriftsteller Curzio Malaparte, der anno 1931 beobachtete, dass Hitler sich anschickte, die „gefährliche Rolle des Catilina aufzugeben und die ungefährlichere eines plebiszitären Diktators zu übernehmen.“ Andere Beobachtungen hielt 1931 der französische Sozialist Pierre Viénot in einem Buch „Ungewisses Deutschland“ fest. Er registrierte den Zusammenbruch der bürgerlichen Ordnung sowie einen „krankhaften Hang [der Deutschen] zur Selbstanalyse“. Er stellte zugleich eine tiefe Verwurzelung der Idee de „Fürsorgestaats“ fest, „der gewiss nicht der bürgerlichen Kultur [angehört]. Hier treten wir in das weite Gebiet des Sozialismus ein.“

Es handelte sich um das Verlangen nach Volksgemeinschaft, in der aller Parteienstreit, Klassenkonflikte und Klassenschranken überwunden seien. In den „Bünden“ der bürgerlichen Jugendbewegung verschmolzen Naturromantik, Nationalromantik und Sozialromantik. Den Traum von einem „Neuen Reich“ verkündete 1927 der in der bündischen Jugend verehrte Stefan George in einem Gedicht. Mit derlei Emotionen bewegten sich die „Bünde“ in enger Nähe zum Nationalsozialismus. Der Jubel über die „Machtergreifung“ Hitlers am 30. Januar 1933 erfasste auch den jungen Reichswehroffizier Stauffenberg bei einem SA-Aufmarsch in Bamberg. Der spätere NS-Gegner Ernst Forsthoff proklamierte 1933 in seinem Buch „Der totale Staat“: Das bürgerliche Zeitalter wird liquidiert“. Für „die Verheißung einer besseren Zukunft“ komme es darauf an, „die letzten Reserven aus dem Volk herauszuholen.“

Inspiriert von ihrem Umfeld – Schule, Kirche und Altersgenossen - teilten die Scholl-Geschwister, obenan die älteste Tochter Inge mit einem Hitler-Bild an der Wand, die nationalen Hochgefühle. Der Ulmer Stadtpfarrer Oehler nannte im Religionsunterricht den Tag von Potsdam (21.März 1933) „ein wunderbares Ereignis“. Inge Scholl konnte es nicht erwarten, dass Bruder Hans mit seinem „Verein“ - dem Jungvolk des Ulmer CVJM - geschlossen in die Hitler-Jugend übertreten würde. Sie selbst avancierte alsbald als erste der Geschwister zur BDM-Führerin.

Die HJ-Begeisterung der jungen Geschwister war Teil des pubertären Ablösungsprozesses vom Elternhauses. Mit dem agnostischen, pazifistisch und antinazistisch gesinnten Vater Robert Scholl geriet insbesondere Hans in einen häuslichen Dauerkonflikt, was indes den engen Familienzusammenhalt, gestärkt durch die pietistisch geprägte Mutter Magdalena Scholl, zu keiner Zeit gefährdete. Die Familie gab den emotionalen Rückhalt an allen Stationen des Wegs in den Widerstand.

Zu Recht betont Mai, dass Antisemitismus im Hause der Scholls keinen Platz hatte. Starker Eigenwille und intellektuelle Neugier zeichnete den draufgängerischen Hans („Feuerkopf“) aus, musische Begabungen und poetische Sensibilität die als „Buben-Mädel“ im BDM zunächst nicht minder engagierte Sophie. Von ihr zitiert Mai den Satz: „Wer Heinrich Heine nicht kennt, kennt die deutsche Literatur nicht.“

Bündische Umtriebe“

Befördert wurden derlei Dispositionen durch die Aspirationen und Ausdrucksformen der Jugendbewegung, wie sie insbesondere in der von Eberhard Koebel (tusk) 1929 gegründeten d.j.1.11. gepflegt wurden. Nicht von ungefähr unterhielt die Familie Scholl persönliche Beziehungen zu - dem nach seiner Verurteilung im Ulmer Rechswehrprozess 1930 vom NS zum Nationalkommmunismus konvertierten - Richard Scheringer. Allerdings fehlt in Mais Essay ein Hinweis auf diesen die frühe Widerständigkeit der Scholls erhellenden biographischen Aspekt. Auch das patriotische Motiv, („Ich bin nach wie vor der Meinung, das Beste getan zu haben, was ich gerade jetzt für mein Volk tun konnte...") tritt nur beläufig hervor.

Die Ideale und Gefühlsmomente der „Bündischen“ beschrieb Susanne Hirzel in ihrem oben erwähnten Brief: Letzten Endes ging es um die ´Freíheit. Diesem Ziel wollten wir unser Leben weihen, hätten jedoch niemandem genauer sagen können, was das ist ´Freiheit´“. Die Interpretation liefert Autor Mai: Es war die Gefühlswelt des Sturm und Drang. Mai hat seinem Buch eine Passage aus dem Beat-Kultbuch „On the Road“ vorangestellt, wo Jack Kerouac von den „Verrückten, die verrückt sind aufs Leben... schreibt und fragt: „Wie nannte man solche jungen Leute in Goethes Deutschland?“ „Freiheit“ schrieb Sophie Scholl zweimal auf die Rückseiten der ihr am Tag vor der Hinrichtung ausgehändigten Anklageschrift. „Es lebe die Freiheit!“ rief Hans auf dem Weg zum Schaffott.

Die spezifisch bündischen Tendenzen – von Baldur von Schirach bereits 1933 scharf abgelehnt - wurden innerhalb der HJ noch bis 1935 toleriert, ab 1936 unter der Rubrik „bündische Umtriebe“ strafrechtlich verfolgt. Im Gestapo-Verhör im Februar 1943 begründete Sophie ihre Entfremdung von BDM und Nationalsozialismus „in erster Linie“ mit ihrer und ihre Geschwister Verhaftung „wegen sog. bündischer Umtriebe“ im Herbst 1937. Die „Umtriebe“ wurden mit Anklagen gegen Hans Scholl und Inges Freund Ernst Reden wegen Verstoßes gegen § 175 unterlegt. Unter Verweis auf homoerotische Anwandlungen in Pubertätsjahren widerlegt Autor Mai den Theologen Robert Zoske, der – zeitgeistgemäß - in seinen Biographien Hans Scholl für bisexuelle Prägung und Sophie für latent lesbische Neigungen vereinnahmen möchte.

Der christliche Glaube

Zum tragenden Motiv des ins Martyrium führenden Widerstands wird – für Hans und Sophie auf unterschiedliche Weise – ihr christlicher Glaube. Als Hans – kurz vor seiner eigenen Festnahme – von der Verhaftung seiner Geschwister erfährt, bedankt er sich bei seiner Mutter für den Trost in einem „wunderbaren“ Bibelwort: „Es half mir, wieder meine alte Fassung zurückzugeben.“ Über Bruder Werners katholischen Freund Otl Aicher, dem wegen seiner Weigerung, der HJ beizutreten, die Zulassung zum Abitur verweigert wird, kamen die Scholl-Geschwister 1939/40 mit der Geisteswelt des französischen Rénouveau catholique – mit Namen wie Georges Bernanos, Paul Claudel und Jacques Maritain - in Berührung. Über den glaubensstarken, auf Konversion der Geschwister sinnenden Aicher, gelangten Hans und Sophie in den reformkatholischen Kreis der inneren Emigration um Carl Muth. 

Autor Mai mindert die Bedeutung des Münchner Kreises nicht, wenn er die Geschwister, die vor ihrem Henkertod am späten Nachmittag des 22. Februar 1943 das Abendmahl einnahmen, in die protestantische Tradition der Gewissenspflicht stellt. Im Unterschied zu Luther auf dem Reichstag zu Worms mussten diese jungen Menschen in den Tod gehen, weil ihnen in Hitlers Reich eine schützende Hand fehlte.

Klaus-Rüdiger Mai: Ich würde Hitler erschießen. Sophie Scholls Weg in den Widerstand, Paderborn (Bonifatius Verlag) 2023, 192 Seiten, 18 €

Der Text auf https://globkult.de/geschichte/zeitgeschichte/2277-von-den-quellen-der-freiheit-der-christlichen-maertyrerin-sophie-scholl  ist die leicht erweiterte Version der Buchbesprechung, die in Die Tagespost (Jgg. 76, Nr. 7 vom 16. Februar 2023, S.24) unter dem Titel "Das bürgerliche Zeitalter wird liquidiert" erschienen ist: https://www.die-tagespost.de/.

 Postscript

Ich freue mich über die Resonanz, die meine Besprechung des Sophie-Scholl-Essays von K.-R. Mai auf  der "Achse des Guten" (19.02.2023) gefunden hat: 
https://www.achgut.com/artikel/ich_wuerde_hitler_erschiessen.  Ich zitiere daraus den Leserkommentar von Ulla Schneider: 
"Vielen Dank für den Text und das Bild. Ich kann aus vielen Familiengesprächen bestätigen, daß Lisa Remppis zu dem damaligen Zeitpunkt die große Liebe von Hans Scholl und - umgekehrt war. Freundschaftliche Beziehungen zu Sophie Scholl inbegriffen. - Ich hatte das alles ad akta gelegt. Selbst für meine Großmutter war diese Zeit sehr turbulent, höflich ausgedrückt,und nicht ungefährlich. - Lisa Remppis war die Cousine meines Vaters."


 
 

 

 


Montag, 30. Januar 2023

Die aufstrebenden Schwellenländer in der multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts

Der nachfolgende Text ist die erweiterte Version meiner auf  der "Achse des Guten" (28.01.2023) erschienenen Rezension des Buches von Christian Hiller von Gaertringen: Die Neuordnung der Welt. Der Aufstieg der Schwellenländer und die Arroganz des Westens (München; FinanzBuchBuchVerlag, 2022)  https://www.achgut.com/artikel/die_aufstrebenden_schwellenlaender_und_die_multipolare_welt.

                                                                     *

Durch den Ukraine-Krieg, dessen Ende und Folgen nicht abzusehen sind, sowie die spektakulären Klimaproteste hat sich unser Blick auf das Weltgeschehen erneut „eurozentristisch“ verengt. Mit dem programmatisch klingenden Titel seines Buches lenkt der Wirtschaftsjournalist Christian Hiller von Gaertringen die Blickrichtung auf die Prozesse, die im globalen Maßstab im Gange sind und im Zuge der – im Gefolge von Covid schmerzhaft bewusst gewordenen - „Entglobalisierung“ die Zukunft des Globus bestimmen.

Nicht zufällig nimmt der Autor als Ausgangspunkt seiner Kritik an westlicher Selbstgefälligkeit die 1989/1991 von Francis Fukuyama proklamierte These vom „Ende der Geschichte“ im Zeichen siegreicher liberaler Demokratie und kapitalistischer Marktwirtschaft. Fukuyamas Zukunftsvision einer global fortdauernden Pax Americana wurde alsbald widerlegt durch den Aufstieg Chinas - unter ungebrochen kommunistischer Diktatur - zur zweitstärksten Wirtschaftsmacht sowie durch das aus dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums hervorgegangene autoritäre Regime Putins. Als politisch aktuelle Pointe wirkt die Hypothese, Putin hätte die Ukraine nicht angegriffen, wenn er nicht die USA – nach ihrem Debakel im Irak und in Afghanistan - als geschwächte Weltmacht wahrgenommen hätte. (28)

Hillers These, die Zukunft liege in einer multipolaren Welt, mag nicht sehr originell wirken. Nichtsdestoweniger belegt er sie mit Fakten der Wirtschafts- und Kulturgeschichte sowie anhand von Daten, die über unser conventional wisdom hinausreichen. Eine 2022 veröffentlichte Studie des Internationalen Währungsfonds (IMF) diagnostizierte eine Schrumpfung der Wirtschaftsleistung in den entwickelten Ländern von 5,2 Prozent im Jahr 2021 auf 1,4 Prozent im Jahr 2023. Dagegen würden die Schwellenländer 2023 mit 3,8 Prozent fast dreifache Wachstumsraten erzielen. (77)

Die welthistorische Tendenz von der westlich dominierten Welt zum Aufstieg der Schwellenländer (emerging nations) stellt Hiller in Relation zu den vier Phasen der Industriellen Revolution. Nach der ersten Phase der Industrialisierung, geprägt von Dampfmaschine, Eisen- und Textilindustrie, sowie im Zeichen des Freihandels steht das 19. Jahrhundert (1815-1880) unter der Vormacht Großbritanniens und seines Empire. In der zweiten Phase (1880-1945), geprägt von Chemie, Elektrizität und Verbrennungsmotor als führenden Sektoren, war die industrielle Welt multipolar unter den europäischen Mächten (England, Deutschland, Frankreich) sowie den USA aufgeteilt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg sicherten die USA im Zeichen der von ihnen geschaffenen Institutionen (UNO, GATT/WTO, IMF, Weltbank etc.) samt liberalem Werteystem die Dominanz des Westens. Dank der - von rapiden Entwicklungen im Computersektor seit den 1970er Jahren geprägten - Dritten Industriellen Revolution habe die USA ihre Vormacht noch über einige Jahrzehnte behaupten können. Mit der fortschreitenden, nahezu alle Lebensbereiche durchdringenden Digitalisierung sei die Vierte Industrielle Revolution (Stichwort: Künstliche Intelligenz) angebrochen. Diese begünstige den Aufstieg der Schwellenländer, verlagere die Wirtschaftsgewichte und bilde die ökonomisch-technische Grundlage der multipolaren Weltordnung des 21. Jahrhunderts.

Den Ausführungen über die Wachstumsdynamik der Schwellenländer vorangestellt ist ein Kapitel mit dem Titel „Die goldenen Zeiten des Westens - und eine Moral mit zweierlei Maß“ sowe ein weiteres über Aspekte der Abkehr vom Westen. Der Autor verweist auf die Diskrepanz zwischen den Proklamationen der Menschenrechte in der Amerikanischen und der Französischen Revolution und deren fragwürdiger Praxis. Dazu gehörten nicht nur Sklaverei und Rassentrennung, sondern auch der 1875 von der Dritten Republik beschlossene „Code de l´ Indigénat“, der in Algerien - sowie später in allen Kolonien - der einheimischen Bevölkerung staatsbürgerliche Rechte vorenthielt.

Derlei Fakten nährten ehedem die Sympathien der westlichen Linken für die militanten Emanzipationsbestrebungen in der sogenannten „Dritten Welt“. Heutige Linksgrüne – sofern nicht naive Verfechter von „diversity“ - sowie Liberale müssen zur Kenntnis nehmen, dass ihre Vorstellungen von Freiheit und Gleichheit im „globalen Süden“ nicht nur auf kulturelles Unverständnis – begründet in alten Kulturtraditionen wie des Buddhismus oder des Konfuzianismus –, sondern als Ausdruck westlicher Überheblichkeit auf Ablehnung stoßen. Der an der Lee Kuan Yew School of Public Policy der Nationalen Universität von Singapur lehrende frühere Diplomat Kishore Makhabani erklärt, die Menschen in den Schwellenländern hätten viel zu lange in einer „angelsächsischen Blase“ gelebt. „Unser Verstand war kolonisiert .“ Mehr noch, er zweifelt am Charakter der westlichen Demokratie: „In Wahrheit bekamen die Amerikaner und Europäer die Plutokratie.“ (72, 97)

Als Doppelmoral, Bevormundung und/oder Egoismus werden in den aufstrebenden Ländern nicht nur die menschenrechtlichen Ermahnungen, sondern auch – beispielsweise in einem „grünen“ EU-Aktionsplan für „mehr Wohlstand, Frieden und Nachhaltigkeit“ (2020) verpackte - Forderungen nach umweltschonender Produktion wahrgenommen. Im Zuge der Globalisierung wurden – aus Kosten- wie aus Umweltgründen - schmutzige Schlüsselindustrien wie Stahl- und Aluminiumproduktion nach Indien, China und Südkorea verlagert.(105) Die Folgen werden derzeit angesichts der unterbrochenen Lieferketten spürbar.

Umgekehrt können Umweltdiktate nichtwestlichen Unternehmen Nutzen bringen. Als anno 2020 Siemens Energy aus einem der weltweit größten Kohlekraftwerke in Australien aussteigen musste, baute die Adani Group aus Indien die Bahnstrecke zur Verschiffung der Kohle ohne die deutsche Signaltechnik. Vor dem Hintergrund deutscher Umwelt- und Energiedebatten ist festzuhalten, dass laut Global Coal Exit in 60 Ländern der Welt Kohlekraftwerke geplant oder im Bau sind, die zusammen 579 Gigawatt Strom liefern sollen. Die Leistung eines Atomkraftwerks beträgt ein Gigawatt. (85f.)

Das Buch fasst die Gesamtheit der Schwellenländer in Asien, Afrika und Lateinamerika ins Auge. Die Rolle Indiens in der Weltwirtschaft verbinden wir mit der IT-Produktion im Silicon Valley von Bangalore sowie mit seiner Rolle als größter Exporteur von IT-Dienstleistungen. Hiller illustriertden Aufstieg u.a. anhand der feindlichen Übernahme des französischen, bis dahin größten weltweit größen Stahlkonzerns Arcelor durch die indische Mittal Steel Company im Juni 2006. (177-122)

Naturgemäß gilt der Großteil der Ausführungen dem in kaum einer Generation zur zweitstärksten Wirtschaftsmacht aufgestiegenen China (das sich noch immer als Schwellenland versteht). Seine – unter dem Signum „Neue Seidenstraße“ (BRI) bekundete - wirtschaftliche Führungsrolle in der Welt verdankt China seinem – nur selten angezweifelten – Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Landes. Seit langem ist China wirtschaftlich führend in Afrika beim Ausbau der Infrastruktur sowie als Exporteur. Von – auch in Afrika von nüchternen Köpfen kritisierter - „Entwicklungshilfe“ halten die Chinesen nichts. Die Chinesen investieren, bemerkt ein kenianischer Ökonom. aber sie „sagen den Afrikanern: Das gibt es nicht umsonst. Wir wollen, dass ihr zurückzahlt.“ (95) Geraten die rohstoffärmeren unter den Ländern Afrikas danach nicht in eine chinesische Schuldenfalle?

China ist längst über die ihm – nach wie vor ausgeübte - Rolle als Kopierer oder Imitator westlicher Technologie hinausgewachsen. Anno 2020 meldete China internationale 68.703 Patente auf verschiedenen Gebieten moderner Hochtechnologie (Halbleiter, Elektromobilität, Internet of things (IoT), Künstliche Intelligenz, Robotik) an, mehr als die USA und mehr als Europa. (72)

Das von der an „einem China“ festhaltenden Volksrepublik mit Drohungen, von den USA mit Sicherheitsgarantien bedachte Taiwan (Republik China) ist der weltweit größte Hersteller von Computerchips. Im MSCI Emerging Market Index liegt Taiwan Semiconductor mit einem Unternehmenswert von 500 Milliarden Dollar an der Spitze, gefolgt von den chnesischen Internetgiganten Tencent mit 450 Millarden und Alibaba mit 400 Milliarden. Dagegen beträgt der Börsenwert des größten deutschen Unternehmens Vokswagen laut Dax nicht mehr als 140 Millarden Euro. (63f.)

Soweit Militärausgaben Rückschlüsse auf – noch (!) – bestehende globale Machtverhältnisse zulassen, sind noch folgende Daten relevant: Der Militärhaushalt der USA lag (2021 ?) mit mehr als 800 Milliarden Dollar noch weit vor China mit knapp 300 Milliarden. Mit großem Abstand folgten Indien mit rund 77 Milliarden und Russland mit rund 66 Milliarden Dollar. Leider fehlt dazu im Buch, wo der Autor auf den schwindenden militärischen Einfluss der USA verweist (197f.), die Quellenangabe.

Umfassendere Ausführungen zur Zukunft des Kontinents im Süden Europas wären an manchen Stellen wünschenswert. Der Afrika-Experte Hiller beschränkt sich im wesentlichen auf das Erfolgsland Kenia, wo mit dem digitalen Zahlungsinstrument M-Pesa ein bedeutender Wachstumsfaktor die Wirtschaft vorantreibt. Als erfolgreiche Länder nennt er außer Kenia noch Nigeria, Elfenbeinküste, Ruanda und Südafrika- Es muss offenbleiben, inwieweit der Autor des Buches „Afrika ist das neue Asien“ (2014) im Hinblick auf das – von stänfigen Stromusfällen geplagte - BRICS-Land Südafrika, auf Ägypten, Äthiopien, Eritrea sowie auf die von Konflikten zerrissenen Regionen der Sahelzone etwas zu optimistisch in die Zukunft blickt: „Der Kontinent ist so friedlich wie seit langer Zeit nicht mehr.“(150) Fraglich bleibt auch, ob der Einwanderungsdruck – eben nicht nur aus den Krisenstaaten Afrikas - im Gefolge des erwarteten Aufstiegs des Kontinents abflacht.

Von derlei Kritikpunkten sowie dem fehlenden Register abgesehen, ist das gut lesbare Buch als nützliche Informationsquelle zu empfehlen.

 Christian Hiller von Gaertringen: Die Neuordnung der Welt. Der Aufstieg der Schwellenländer un die Arroganz des Westens, München (FinanzBuchBuchVerlag) 2022, 251 Seiten



Mittwoch, 11. Januar 2023

Vor und nach der Berliner Wahl: Leerlauf als Bewegungsprinzip

Die Wahlunterlagen sind eingetroffen, an den Bäumen und Laternen hängen die Wahlplakate, auf denen  sich die Parteien im Wettbewerb um das beim Wahlvolk vermutete niedrigste Niveau geistig übertreffen. Zum 12. Februar 2023 sind wir Bürger (sc. -innen, m/w/d) des Landes Berlin, Hauptstadt der Bundesrepublik, aufgerufen zu wählen. Wir dürfen oder sollen wieder wählen, nachdem  das Verfassungsgericht des Landes nahezu einstimmig das Prozedere der zurückliegenden Wahl am Tag des weltpolitisch bedeutsamen Berlin-Marathons am 26. September 2021 sowie den Modus der Stimmenauszählung als gravierende Verletzung demokratischer Prinzipien befand.

Das war einigermaßen peinlich für den regierenden Senat, will aber nicht viel heißen. Denn nüchtern betrachtet, sind Wahlen im Bundesland Berlin von minderer Bedeutung. Eine Umfrage vom 9. Januar besagt zwar, dass die "konservative" CDU mit 22,5 Prozent rechnen darf und 2,5 Prozent vor den Grünen liegt, gar 3 Prozent vor der SPD. Das Ergebnis der Wahl  ist gleichwohl - wenn  nicht noch ein Wunder geschehen sollte - locker vorherzusagen: Es wird sich in der Hauptstadt nichts ändern, selbst wenn sich die Komponenten der Formel R2G leicht ändern sollten.

Das gänzlich auszuschließende Wunder bestünde darin, dass der CDU-Chef Kai Wegner als Regierender Bürgermeister mit der bisher regierenden SPD und der FDP eine "Deutschland-Koalition" eingeht. An eine wundersame, politisch wirksame Rochade – von R2G hin zu CDU-SPD-FDP ist indes aus zweierlei Gründen nicht zu denken.  Zum einen fiele die FDP - laut genannter Umfrage bei 4 Prozent - als Koalitionspartner aus, zum anderen stieße eine "rechte" Koalition in der SPD an der "Basis"  auf vehementen Widerspruch. Das mindere, von der CDU erhoffte Wunder einer schwarz-grünen  Koalition - mit oder ohne SPD-Annex - wird von den Grünen ausgeschlossen, nachdem die CDU eine Vornamensforschung zur Aufklärung des Neuköllner Silvervesterfeuerwerks ins Spiel gebracht hat. Derlei Statistik verstößt gegen die Skala grüner Grundwerte. Dass die AfD dank der Silvesternacht ein paar Prozent hinzugewinnen wird, verschafft umgekehrt dem Kampf gegen rechts  noch mehr Überzeugungskraft.

Neue Wahlen hin oder her - Berlin bleibt Berlin. Etwas ändern will Bettina Jarasch, Senatorin für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz des Landes Berlin, Spitzenkandidatin der Grünen und Konkurrentin von Franziska Giffey für das Amt der Regierenden Bürgermeisterin.  Ihrer Vorstellung nach soll durch Zentralisierung auf Senatsebene die kostenaufwändige Bürokratie in den Bezirken abgebaut und Ausgaben eingespart werden. Man muss nicht mit Weissagung begabt sein, um vorherzusagen: daraus wird nichts. In allen Bezirken hängen die nach Parteiproporz berufenen Stadträte an ihren Ämtern, nicht nur die „Linken“ auf ihren Erbhöfen in Lichtenberg und Pankow, sondern auch all die anderen Vertreter der politischen Farbenlehre. Und wie die Bürokratie in den Bezirksämtern, wo Anträge auf Ausweis und/oder Reisepass, Baugenehmigung etc. oft monatelanger Bearbeitung bedürfen, zu höherer Leistungsfähigkeit zu motivieren sei, wissen nicht einmal ihre Kritiker. 

Natürlich wird sich auch am Zustand der Straßen in der Stadt wenig ändern, außer dass noch mehr Verkehrswege - nach dem pilot project der ökologisch verödeten Friedrichstraße - radler(-innen)gerecht umgemodelt und/oder Straßenschilder dekolonial umbenannt werden. Vergeblich sperrt sich dagegen die CDU mit dem als anspruchsvoll alternatives Verkehrskonzept gedachten Wahlappell "Berlin Wir lassen uns das Auto nicht  nehmen". Noch weniger ändern wird sich am Leistungsniveau zahlreicher  Berliner Schulen sowie insbesondere an den Zuständen in den Schulen der „Problembezirke“. Daran wird sich kaum etwas ändern, auch wenn der Senat seit kurzem mit der Verbeamtung der Grundschullehrer/innen samt Besoldung nach A 13 hinreichend nervenstarke Pädagogen gewinnen will.

Wahlen sind die Stunde des Souveräns, so einer der Kernsätze demokratischer Theorie. Durch Wahlen werde ermitttelt, ob die Regierung ihren auf Zeit vergebenen Herrschaftsauftrag zum Nutzen aller gut oder zumindest hinreichend erfüllt hat. Der Souverän hat die Chance - oder Pflicht - die bessere Alternative zu wählen. Soweit die Theorie. Die Theorie der Praxis hat Gaetano Mosca schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf den Begriff gebracht: Es herrscht – ungeachtet aller demokratischen Proklamationen - die classe politica, welche die Macht ausübt und gemäß nüchternem Kalkül hungrige Aspiranten oder fügsame Diener der bestehenden Machtverhältnise kooptiert.

Im Bundesland Berlin handelt es sich  - historisch bedingt und öffentlich bedienstet - um eine politische Klasse sui generis. Wir können daher jetzt schon prognostizieren: Auch nach dem 12. Februar regiert die etablierte classe politica nach dem Bewegungsprinzip des politischen Leerlaufs. Angetrieben von edlen Motiven und geölt mit Ideologie.  - P.S. Die - im Hinblick auf die Rolle der Partei "Die Linke" im Bundestag politisch bedeutsamere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Modalitäten der gleichfalls zu wiederholenden Bundestagswahl steht noch aus.

 

Sonntag, 25. Dezember 2022

Noch eine Weihnachtsbotschaft 2022

I.

Beim obligaten - erstmals wieder Coronafreien - Gottesdienst an Heiligabend, war an der Gestaltung - bis auf ein mir in Text und Melodie unbekanntes Lied erkennbar jüngeren Datums - wenig auszusetzen. Allerdings war die Darbietung der Weihnachtsgeschichte nach Lukas 2 nicht so recht nach meinem Geschmack. Der Text wurde - im Wechsel von zwei Gemeindegliedern - stückchenweise in kurzen Verszeilen rezitiert, worauf jeweils die knappe Exegese der nichtgrünen Pfarrerin folgte.

Da ging es naturgemäß um den im Römischen Reich zur Steuerzahlung verpflichteten Josef aus Nazareth, der sich - ohne Seitenhieb aufs Patriarchat - mit der schwangeren Maria nach Bethlehem in die Stadt Davids aufmachen muss. Immerhin diente der Steuereinzug - ohne relativierenden Bezug auf die Pax Augusta - der Finanzierung und Bereitstellung von Soldaten zur Aufrechterhaltung unterdrückerischer Ordnung im riesigen Imperium Romanum. Dass die Heilige Familie nur notdürftige Unterkunft in einem Stall fand und dass Maria ihr neugeborenes Kind, den Gottessohn, in eine Krippe legen musste, gehört zum wunderbaren Drama der Menschwerdung Gottes, ebenso wie die sozial randständigen Hirten auf dem Felde. 

Mit dankbarer Erleichterung vernahm der Gottesdienstbesucher die Friedensbotschaft der Himmlischen Heerscharen. Denn Klage und Gebet über weltweite Not, Elend und Krieg in der Ukraine mündeten nicht  etwa in christlich eingefärbte Parolen zur Wiederherstellung des Friedens gegen den Aggressor Putin, sondern in kritische Fragen und Zweifel bezüglich der nunmehr allerorts betriebenen  Rehabilitierung von Waffen für Zwecke des Friedens, für den Sieg des unzweifelhaften Guten. Verhaltene Zweifel an grüner Kriegsbereitschaft zu vernehmen,  ist mehr, als was man in der Zeit der deutschen "Zeitenwende" erwarten kann. 

II.

Auf die Weihnachtszeit 2022 fiel - in den Medien nicht zufällig nahezu unerwähnt - das Gedenken an die Schlacht von Stalingrad vor achtzig Jahren. Durch Zufall stieß ich im Internet auf ein Interview, das - ausgehend von einem als Spiegel-Bestseller virgestellten Buch von Tim Pröse "...und nie kann ich vergessen" (2022) - der österreichische Autor Markus Leyacker-Schatzl mit Hans-Erdmann Schönbeck, im Alter von hundert Jahren einer der letzten Überlebenden der Schlacht, führen konnte. (https://www.youtube.com/watch?v=z5aR91jyTlk). 

Das Interview ist im besten Sinne ein Zeitzeugen-Dokument. Es besticht zum einen durch die Sensibilität des Fragestellers, zum anderen durch die geistige Präsenz und sprachliche Präzision des von Altersgebrechen gezeichneten, im Rollstuhl sitzenden Mannes. Es vermittelt ein Bild von der Realität  des -  von dem Kriegsüberlebenden Schönbeck als verbrecherisch charakterisierten - Krieges anno 1942/43. Als zwanzigjähriger Panzersoldat nahm der antinazistisch erzogene Schönbeck  - voll Mitgefühl für das schlimme Schicksal Abertausender von sowjetischen Gefangenenen - noch mit einer gewissen Euphorie am großen Vormarsch auf die Wolga teil. Das Elend des Krieges, nicht zuletzt die entsetzlichen Leiden der Zivilbevölkerung, erfuhr er in Stalingrad. Mit einer schweren Rückenverletzung gehörte er zu den letzten, die im Januar 1943 aus dem Kessel ausgeflogen wurden. 

Zu den ihn bis heute  quälenden Erinnerungen gehörte eine Szene, in der er inmitten einer Sommerschlacht (mutmaßlich 1942) - zum einzigen Mal unmittelbar, bewusst und "alternativlos" angesichts der Schlacht -  einen aus einer Getreidehocke brenned hervorstürzenden russischen Soldaten durch Befehl zu einem MG-Feuerstoß  töten ließ. 

Im Interview bleibt offen, ab wann der Leutnant Schönbeck Überlegungen zum Widerstand anstellte. Als sich ihm anläßlich einer großen Vereidigungsinszenierung in der Jahrhunderthalle zu Breslau die Chance zu einem Attentat auf Hitler bot, brachte er es, umringt von SS-Leuten, im entscheidenden Moment nicht fertig, die insgeheim mitgeführte Pistole zu ziehen. Es sind derlei biographische Fakten, die -  das Gesamtbild in keiner Weise "revisionistisch" tangierend - zur Wirklichkeit des Zweiten Weltkriegs gehören. 

III.

Zu den Lesefrüchten der Weinachtstage gehört das Interview mit dem Historiker Thomas Weber, Autor einer Biographie über Hitler im Ersten Weltkrieg, mit dem FAZ-Redakteur Reinhard Müller unter dem Titel "Weihnachten als Waffe" (FAZ v. 24.12.2022, S.8). Dass an Weihnachten 1914 deutsche und britische Soldaten aus den Schützengräben hervorkrochen und sich verbrüderten, ist - auch dank einschlägiger  Fotoaufnahmen - bekannt. Weber berichtet von weniger geläufigen Verbrüderungsszenen im weiteren Verlauf des Krieges, so an Weihnachten 1915 in den Vogesen zwischen Deutschen und Franzosen - eine Erfahrung, die Riachard Schirrmann, den "Vater" der Jugendherbergsbewegung, zu seinem friedensstiftenden Werk inspirierte. 

Zu Recht erklärt Weber derlei pazifistische - die militärischen Führung alarmierenden - Szenen mit der Tatsache, dass ungeachtet aller Propaganda der Erste Weltkrieg "in den Augen gewöhnlicher Soldaten  kein Krieg der Ideologien..., sondern ein christlicher Bruderkrieg war." Anderer Natur war der nationalsozialistische Vernichtungskrieg, nicht zuletzt aufgrund seiner NS-spezifischen religiösen Momente.

Weber äußert sich sodann zu den  ideologischen, orthodox-christlich verbrämten Aspekten von Putins Krieg in der Ukraine. Dass innerhalb der Ukraine, gerade auch im gespaltenen Rahmen der ukrainischen Orthodoxie,  massive, politisch relevante Konflikte im Gange sind, ist hierzulande wenig bekannt. Einen Hinweis enthält darauf der auf derselben Seite 8 nebenstehend plazierte Artikel über Metropolit Onufrij, Oberhaupt der seit 1990 bestehenden Ukrainische-Orthokoxen Kirche (OUK). In den uns präsentierten Medienberichten ist von den religiösen Verwerfungen innerhalb der Orthodoxie kaum je die Rede. Tatsächlich werden die Spannungen von beiden Seiten  unter anderem durchsuchte Selenskijs Geheimdienst unlängst das historische Höhlenkloster über Kiew - forciert. 

An der Ostfront kam es im Ersten Weltkrieg zu Verbrüderungen zur Zeit des orthodoxen Osterfestes. Von Hoffnung auf Verbrüderung der verfeindeten russischen und ukrainischen orthodoxen Gläubigen sind wir an diesem Weihnachtsfest 2022 (oder zum alten orthodoxen Fest am 7. Januar 2023) weit entfernt. Frieden auf Erden? Frieden in Europa?




 

 




Donnerstag, 22. Dezember 2022

Von der Weihnachts- zur Neujahrsansprache 2022/2023

I.

Wir – wir, ein exkludierender, ethno- und/oder egozentrischer Begriff, sofern nicht von Annalena und Claudia in ein deutsch-dekolonialistisches Schuldnarrativ verpackt – wir wissen was uns (!) am ersten Feiertag erwartet: die Weihnachtsansprache unseres Bundespräsidenten Steinmeier. Was ihm der/die/das Redenschreiber (m/w/d) aufgeschrieben hat und was er dem Volk zu verkünden hat, ist leicht zu antizipieren: Unser Entsetzen über den Krieg in der Ukraine, unsere Unterstützung für das leidende Volk (!) der Ukrainer inklusive effektiver Waffenhilfe zur Abwehr des Aggressors Putin. Inwieweit der Redenschreiber (sc. die -in) uns an den historischen Schuldanteil der Deutschen in den bloodlands (Timothy Snyder) erinnert, muss noch offen bleiben.

Danach folgt der Appell zur Vernunft, zum verständnisvoll sparsamen Umgang mit – kriegsbedingt - knapp gewordener Energie. In die grüne Ermahnung passt keine Bemerkung zu den am 26. September 2022 von unbekannter Hand gesprengten Pipelines Nord Stream I und II. Auch Überlegungen zum Nutzen des Weiterbetriebs oder gar der Wiederinbetriebnahme von abgeschalteten Atomkraftwerken wird man aus dem Munde des Bundespräsidenten kaum hören.

Als pastorale Ergänzung zu den bikonfessionellen Friedens- und Flüchtlingsbotschaften in den zusehends schwächer besuchten Kirchen selbst an Heiligabend werden wir Bundesbürger (m/w/d), jung und alt, sodann zu mehr Menschlichkeit und zum vorurteilsfreien Umgang mit den erneut - in höheren Zahlen als zu Merkels Zeiten – hereinströmenden Geflüchteten ermahnt. Ja, wir wissen: Niemand verlässt sein geliebtes Heimatland und oder/seine innig geliebte Familie (our family is our village) ohne Grund. Statistiken über proportional nicht-indigene Gewalttaten sind für eine Sonntagspredigt zu trocken und gehören – ins Ressort „Kampf gegen rechts“ von Innenministerin Nancy Faeser. Vermutlich erinnert Steinmeier auch an  die permanente Bedrohung unserer Demokratie und Werteordnung, wie sie am 8. Dezember im gerade noch verhinderten Sturm der Reichsbürger auf den Reichstag manifest wurde.

II.

Die Öffentlich-Rechtlichen Rundfunkanstalten (ÖRR) bilden – als zur Kritik berufene Beobachter des Weltgeschehens für Gesellschaft und Staat unverzichtbar - eine aus Pflichtbeiträgen und staatlichen Budgets reichlich ausgestattete Institution unserer Demokratie. Vor dem Hintergrund des politischen Bildungsauftrags sowie des alles andere beherrschenden Datums des 24. Februar 2022 ist nicht anzunehmen, dass ein Scherzbold aus den unteren Rängen des Rundfunks des Kanzlers Neujahrsrede vom Vorjahr 2022 aus der Konserve holt und dem Publikum darbietet. Derlei Scherze – wie noch in den längst vergessenen 1980er Jahren – verbieten sich in so ernsten Tagen des Kriegsjahrs 2022/2023. Im übrigen ist Scholz nicht Kohl. Die Kennzeichnung „Scholzomat“ ist für heutige Spiegel-Journalisten/innen auch nicht mehr so witzig wie ehedem die „Birne“.

Was uns aus dem Munde Scholz´erwartet, ist schwer zu sagen. Obenan geht es um den Ukrainekrieg, der für Scholz eine „Zeitenwende“ einläutete. Ich gestehe, dass ich bis zu Putins Auftritt vor den Chargen seines Machtapparats – immerhin riskierte sein Sicherheitschef einen Augenblick lang Bedenken zu äußern – auch zu denen gehörte, die an eine Wiederkehr eines großen Krieges in (Ost-)Europa nicht glauben wollte. Die Fakten nötigten mich zu besserer Einsicht. Einen Ausweg aus Krieg und Kriegselend vermag ich nicht anzugeben, außer meinen privaten Appell zu entsprechenden Appellen Scholzens, Macrons (und Orbáns) an Putin, in milder Form auch an Joe Biden und Wolodomyr Selenskyi.

Scholz wird in seiner Neujahrsansprache also seine Hoffnung auf Frieden mit uns teilen, der indes – widerwillig - nur mit mehr deutschen Waffenlieferungen erreicht werden kann. Die Zeitenwende, der Realitätsschock, ist bis dato im pazifistisch gestimmten Volk noch nicht angekommen. Das muss sich ändern. Mit einem Riesenrüstungsbudget und Reparaturen an unseren traditionsreichen Panzern allein ist der ersehnte Friede nicht zu gewinnen. Scholz sollte sich – auch in seiner Neujahrsrede - an den kampfbereiten Grünen orientieren. Wenn zudem die Panzer mit Sonnenblumen bestückt werden, freuen sich die Ukrainer, und die Russen („Gruppe Wagner“ und andere) werden friedenswillig gestimmt. 

Jedenfalls wird Scholz am Neujahrstag 2023 dem Volk Verantwortung und Tatkraft der Ampel vor Augen halten und um Vertrauen werben. Regieren  - erst recht in einer Demokratie - ist auf Vertrauen gegründet, heißt es schon bei John Locke (all government is based on trust).  Da die Ampel immer auf grün steht, können wir - trotz allerlei Magengrimmen - voll Vertrauen und Hoffnung ins Jahr 2023 starten.

 

Freitag, 9. Dezember 2022

Der Reußenschlag und ähnliche grundstürzende Ereignisse

Meinem Blog-Publikum darf ich - noch ganz unter dem Schock des nicht stattgefundenen Sturms auf den Reichstag - meine bereits auf Globkult präsentierten Betrachtungen zur deutschen Lage,  geprägt  von  realen, imaginären, und minderen Katastrophen, zur Lektüre empfehlen. Die Lage ist nach wir vor ernst, nicht zuletzt weil der für den 8. Dezember 2022 angesetzte Katastrophenalarm in weiten Teilen des Reiches sowie des www.net ausfiel. Was also tun beim nächsten Anschlag auf unsere Demokratie? 

                                                                         *

Mit Entsetzen und Dankbarkeit verfolgen wir seit den Morgenstunden des 7. Dezember  die Nachrichten über den missglückten Putsch der um Prinz Heinrich XIII. Reuß gescharten Truppe von Reichsbürgern. Laut Innenministerin Nancy Faeser standen wir vor „einem Abgrund terroristischer Bedrohung“. Doch gerade noch rechtzeitig wurde die monarchistische Verschwörung mit einem veritablen Fürsten - aus dem von Kaiser Friedrich I. Barbarossa belehnten und zigmal geteilten thüringischen Herrscherhause Reuß - an der Spitze aufgedeckt und zerschlagen. Als überzeugter Demokrat hat sich der in Niederösterreich auf einem Schloss ansässige Chef des Hauses Reuß Heinrich XIV. von der Aktion seines Nebenlinien-Namensträgers distanziert.

Das Datum des 7. Dezember 2022 könnte - als deutsches Pendant zum Sturm der Trumpisten aufs Capitol am 6. Januar 2021 - in die Annalen der westlichen Demokratie eingehen. Wir sind vor einer weiteren deutschen Geschichtskatastrophe gerade noch einmal davongekommen. Einen Guy-Fawkes-Day als zusätzlichen, arbeitsfreien Feiertag wird es in der Bundesrepublik jedoch nicht geben.

                                                                   *

Angesichts der historischen Schwere der Ereignisse – vergleichbar dem gescheiterten Kapp-Putsch anno 1920 - geraten mindere Katastrophen der letzten Tage schnell aus dem Blick. Wir sprechen von zwei Episoden, die mit dem Namen der EU-Hochkommissarin Ursula von der Leyden verknüpft sind. Über den einen Fall berichtet die FAZ (vom 7. Dezember 2022, noch vor Bekanntwerden des Reußenschlags) unter der Überschrift „GW 950m hat das Pony Dolly getötet“. Die kryptische Ziffer bezieht sich auf den Wolf (m.), der bereits Anfang September auf der Koppel in Burgdorf-Beinhorn bei Hannover von der Leyens Lieblingspony riss, sprich: tötete und mindestens teilweise auffraß.

Das Wolfsthema gehört zu den – außer den Corona-Masken und den Gaspreisen - im Volke heiß diskutierten Themen. Laute Klagen über die grüne Wolfspflege kommen seit langem von Bauern mit offenem Weideland, Pferdezüchtern und Schäfern, die über die viel zu niedrigen Entschädigungsgelder für ihre toten, „gerissenen“ Tiere ergrimmt sind. Einige Betriebe mussten wegen hoher Verluste bereits aufgeben. Doch selbst nach der „Beinhorner Tragödie“ wehrt der grüne Umweltminister Christian Meyer Kritik in klassischem Green Speak ab: Nötig sei ein „offener, transparenter und am Ende zielführender Dialog zum Wolfsmanagement, zum Herdenschutz und zur Weidetierhaltung.“

Gleichwohl könnte von der Leyens Privatkatastrophe noch eine Revision der grünen Wolfsschutzpolitik erzwingen und ene Koalitionskrise nach sich ziehen. Denn es ist – bislang nur über die „sozialen Medien“ - zu erfahren, dass die Präsidentin der EU-Kommission dabei ist, auf eine Änderung des bislang gerade auch von Brüssel vertretenen Jagdverbots für die Europas Fauna bereichernden Wölfe zu dringen.

                                                                   *

Von anderer Qualität ist eine – dank umfassenden Stillschweigens in den Medien – gerade noch vermiedene, von Kommissionspräsidentin von der Leyen höchstselbst bzw. von ihrer (mutmaßlich ungegenderten) Redenschreiberin verursachte diplomatische Peinlichkeit. Sie steht in der – in den Geschichtsbüchern meist mit Wilhelminismus assoziierten, den Deutschen allgemein zugeschriebenen Tradition mangelnden diplomatischen Feingefühls. (Adnote: Anders als Wilhelm II. mit seiner „Hunnenrede“ behandeln Historiker seinen Zeitgenossen und vermeintlichen Freund Teddy Roosevelt mit dessen „Big Stick“-Rhetorik meist mit nachsichtigem Lächeln.)

Am 3. Dezember 2022 hielt von der Leyen als EU-Kommissionspräsidentin im irischen Parlament (Dáil und Seanad) zu Dublin eine Rede anlässlich des bevorstehenden 50. Jahrestags des Beitritts der Republik Irland zum damals noch lose geeinten (West-)Europa. (https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/SPEECH_22_7347). In ihrer mit ein paar gälischen Einsprengseln verzierten Rede lobte die Chef-Europäern die enge Verbundenheit der Insel mit Europa, wie sie in dem EWG-Referendum anno 1973 und zuletzt im same-sex-marriage-Referendum zum Ausdruck gekommen sei. Dass die Iren im Juni 2008 den Lissabon-Vertrag der EU bei einem ersten Referendum durchfallen ließen, blieb in der Laudatio unerwähnt.

Umso mehr betonte von der Leyen den irischen Freiheitswillen als nationalspezifischen Beitrag zur europäischen Wertegemeinschaft. Sie rühmte die „heroes of the Easter Rising“ (anno 1915), wobei sie indes den Hinweis unterließ, dass die Freiheitshelden im General Post Office vergeblich auf deutsche Hilfe und Waffen auf dem von der britischen Marine zerstörten Schiff gehofft hatten. Stattdessen schlug sie den Bogen von der tief verwurzelten irischen Freiheitsliebe zum aktuellen Freiheitskampf der Ukraine.

Der Eklat in England über derlei Geschichtsbild erfolgte prompt. Der führende Brexiteer Jacob Rees-Mogg meinte milde: „It is an extraordinary thing for Ursula von der Leyen to say, undiplomatic, unwise and wrong.“ Die „Daily Mail“ benannte den möglichen diplomatischen Schaden der Geschichtslektion der „Top Eurocrat“: „Her comments threatened to sour relations amid talks over renegotiating the post-Brexit Northern Ireland protocol trading arrangements.“ Der „Daily Express“ titelte in offener Empörung: „'How dare she!' Von der Leyen condemned for likening IRA to Ukraine freedom fighters“.

                                                                    *

Für die deutsche Politik, erst recht für die mediale Öffentlichkeit, war von der Leyens Auftritt in Dublin keinen Kommentar wert. Wichtigere Themen waren in den vergangenen Tagen Faesers Binde und künftiges Flüssiggas aus Qatar, seit dem 7. Dezember der gerade noch verhinderte Umsturz. Obenan steht jetzt wieder der „Kampf gegen rechts“.








Mittwoch, 30. November 2022

Ablasshandel zur Weihnachtszeit

Dank Internet und digitalem Schriftverkehr besteht die Briefpost nun schon seit Jahren nur noch aus Reklamesendungen, Rechnungen, amtlichen Schreiben sowie Spendenappellen aller möglichen Organisationen und Institutionen. Datenschutz - ehedem ein grünes Herzensanliegen - ist im digitalen Zeitalter längst kein Thema mehr. Entsprechend häufen sich Briefe mit beiliegenden, antiquiert anmutenden Überweisungsvordrucken samt Spendenquittung. 

Terre des Hommes und/oder des Femmes, Greenpeace, Ärzte/Ärztinnen und/oder Reporter ohne Grenzen, SOS-Kinderdorf usw. decken den säkularen Bereich ab. Diakonisches Werk, Christoffel-Blindenmission und speziell "Brot für die Welt" appellieren an mein christliches Gewissen. Für Bethel empfinde ich, sofern ich die Überweisung (online) nicht vergesse, nach wie vor große Spendenbereitschaft, auch für die Blinden. Bedenken kommen seit längerem bei "Brot für die Welt" auf. Ich beschränke meine entsprechende Spende (unter Verzicht auf Quittung) in der Regel auf den Gottesdienst an Heiligabend, wo in der Kurzpredigt  nach Lukas, 2 die Weihnachtsgeschichte meist (ohne direkten Bezug auf Matthäus, 2) mit dem aktuellen Flüchtlingselend verknüpft wird.

Für den Steuer- und Kirchensteuerzahler wirft das Spendenwesen einige grundsätzliche, zwischen Gewissen und Ratio angelagerte Fragen auf. Natürlich gehöre ich - mit Beamtenpension samt Beihilfe - zu den passabel Situierten in diesem wirtschaftsmächtigen Staat oder - im kirchlichen oder allgemein karitativen Politsprech ausgedrückt - zu den gegenüber dem "globalen Süden" (ehedem "Dritte Welt") Privilegierten in "diesem reichen Land". Ich möchte mich da nicht mit geläufigen, klassenkämpferisch angereicherten Parolen über die Superreichen, beispielsweise über die exorbitanten Einkommen in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten (ÖRR) oder anderswo, herausreden. Nein, das Wissen um soviel Elend in der Welt nagt zuweilen an meinem Gewissen. Und eben darauf zielen die vielen Spendenappelle.  

Aus einiger Distanz betrachtet, handelt es sich beim kirchlichen und nichtkirchlichen NGO-Spendenwesen um die moderne, säkulare Form des spätmittelalterlichen,  in die Kreuzzüge zurückweisenden Ablasshandels. Zwar plagt uns keine Angst mehr vor der Hölle, schon gar nicht Sorge bezüglich der (nicht nur) von Protestanten ohnehin abgelehnten reinigenden Sündenstrafen im Fegefeuer, aber es tut der Seele gut, ein gutes Werk in Cash, per Überweisung oder per Smartphone zu tätigen.

Das Spenden für gute Zwecke - und für ein gutes Gewissen -  soll nicht gänzlich in Zweifel gezogen  werden. Ich spende selbst seit Jahren steuerabzugsfähig, und das Elend von Pfandflaschensammlern und immer zahlreicheren Obdachlosen in deutschen Städten springt mich an. Gleichwohl bleiben einige Fragen. Sie betreffen allgemein die von Eigennutz geprägte Struktur  von Hilfsorganisationen. Welcher Anteil des Spendenflusses landet im von Selbstzweck gesteuerten Apparat, und wieviel kommt in den Hilfsprojekten (wiederum abgesehen von deren nicht immer unzweideutigen Zielsetzungen) an?  

In concreto,  hinsichtlich der kirchlichen Spendenaktionen (beispielsweise "Brot für die Welt"), geht es um deren Funktion im Zusammenhang der kirchlichen Großorganisation EKD und ihrer Landeskirchen. Sie werden maßgeblich getragen von der Kirchensteuer. Auf deren budgetäre Zuweisungen hat das zahlende Kirchenmitglied, sofern nicht delegiert und engagiert in den Synoden, keinerlei Einfluß. Das akute Beispiel ist die direkte oder indirekte Zuweisung von Hilfsgeldern an die im Mittelmeer operierenden Rettungsschiffe für Migranten und/oder reale Flüchtlinge ("Geflüchtete" statt, semantisch richtiger, "Flüchtende"). Die Problematik von derlei Rettungsaktionen - de facto Unterstützung der hochkriminellen Schlepperbanden  - ist unübersehbar. Rettungsschiffe wie Seawatch verdienten Unterstützung, wenn sie allein auf reale Rettung aus Seenot zielten - und nicht (unter der Parole "Open Borders") auf die Förderung illegaler Einwanderung in die "reichen" Länder. Im übrigen geht es - angesichts der Vielzahl von Krisen-, Kriegs- und Armutsregionen - stets um selektive Hilfsaktionen, die am globalen Elend und dessen komplexen Ursachen vorbeizielen.

Inwieweit die Spenden für "Brot für die Welt" und ähnliche Organisationen sinnvolle Verwendung finden oder - als eine Art Nebenquelle - fragwürdige Unternehmungen der politisierten EKD indirekt mitfinanzieren, ist eine unbequeme, aber berechtigte Frage. Wer mit schlechtem Wohlstandsgewissen eine Spende aus dem Gehaltszettel abzweigt, bewegt sich im psychologischen Bereich des ehedem vom Reformator Luther dekonstruierten Ablasshandels. Und dies nicht nur zur Weihnachtszeit.

 


 

 

Donnerstag, 24. November 2022

Gedenktage, Narrative und inkongruente Details

I.

Der traurige Monat November, durchzogen von säkularen (id est zivilreligiösen) und religiösen Gedenktagen, inspiriert zu Reflexionen über Sinn, Ästhetik und Begründungen des Gedenkkalenders. Auf der abstrakten Ebene geht es um die politisch-soziale Funktion von dies festae und den entsprechenden Riten in Gesellschaften. Im konkreten politischen Kontext der Gegenwart richtet sich der Blick auf die Fest- und Gedenktage in den - ungeachtet aller universalistischen Deklarationen (Weltfrauentag, Weltkindertag, Tag der Menschenrechte usw.) - unterschiedlich fortbestehenden, historisch begründeten nationalen (und/oder nationalstaatlichen) Gedenktage. 

Die historisch-politisch relevanten Unterschiede sind an beliebigen Daten zu erkennen, nicht zuletzt am Weltgedenktag des 27. Januar, zum Gedenken der Befreiung von Auschwitz durch sowjetische Truppen an besagtem Januartag 1945. Solange die universalistisch gemeinte Intention, das von deutschen Nationalsozialisten verübte Massenverbrechen für alle Zeit als Mahnung an alle Menschheit zu begreifen, am Selbstverständnis der in diesen Tagen auf acht Milliarden angewachsenen Menschheit vorbeizielt, dürfte der - 1996 von Bundespräsident Roman Herzog in Deutschland proklamierte, anno 2005 von der UNO etablierte -  Gedenktag selbst innerhalb des Westens sehr unterschiedliche Empfindungen und Assoziationen wecken. Vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges tritt die bittere Ironie kollektiven - realiter selektiven - Gedenkens hervor: Im historischen Selbstbewusstsein der ihre Unabhängigkeit gegen den imperial-russischen Aggressor Putin verteidigenden Ukrainer dominiert das Gedenken des "Holodomor", des von Stalin exerzierten, millionenfachen Hungertodes in der Ukraine (und in Südrussland).

II.

Die Symbolik des zivilreligiösen Gedenkens korreliert mit der modischen Begrifflichkeit des "Narrativs" oder der "Erzählung". Diese wiederum erfährt - in reduktionistischer Gestalt - als "Geschichtspolitik" ihre ideologische Zwecknutzung. Hinter derlei akademisch aufgeladenen Begriffen steckt nichts anderes als die alte Erkenntnis, dass die Geisteswissenschaften - ein immer weniger geläufiger Begriff - dem jeweiligen Zeitgeist verpflichtet sind, und dass Erkentnisinteresse nicht selten mit Machtverhältnissen verquickt ist. Nicht zuletzt gilt diese Erkenntnis der auf "Narrative" abhebenden Modeströmung des Dekonstruktivismus. Auch die "große Erzählung" des westlichen Universalismus bleibt von der Dekonstruktion nicht verschont, mit der Konsequenz, dass nunmehr im Zeichen der "wokeness" partikulare Narrative universelle Gültigkeit beanspruchen. Als Quintessenz der Debatte ist festzuhalten, dass in Tradition und Wissenschaft inkongruente Fakten, erst recht mindere historische Details zugunsten der dominanten "Erzählung" geglättet oder ausgelassen werden.

Weitab von akademischen Diskursen, auf der Ebene politischer Realität, erleben wir den Widerspruch zwischen universalistischen Proklamationen und divergierenden Bewusstseinsinhalten im Alltag der zusehends multiethnischen - und/oder multikulturellen - westlichen Gesellschaften. Ein eklatantes Beispiel für ideologische Ungereimtheiten liefert wiederum der Ukrainekrieg: Das - historisch-kulturell begründete - Selbstverständnis der Ukraine als eigenständige, freiheitsliebende Nation wird von deutschen - ansonsten allen nationalhistorischen "Erzählungen", sprich: Traditionen abgeneigten - Linksliberalen und Grünen als unzweifelhaftes Bekenntnis zur liberalen Demokratie akzeptiert und aufgewertet. Bei einem - von der Kulturstaatssekretärin Claudia Roth persönlich beehrten - Solidaritätskonzert in der Berliner Philharmonie erhob sich bei  Intonation der ukrainischen Nationalhymne andächtig das postnationale, postheroische deutsche Publikum. 

Die aktuelle Debatte um fehlgeleiteten Pazifismus und notwendiger Parteinahme in einem "gerechten" Verteidigungskrieg offenbart das spezifisch deutsche Dilemma: Mit gutem und - unter Verweis auf den Zweiten Weltkrieg - schlechtem Gewissen sollen "wir Deutsche"  uns moralisch erweisen, indem wir der Ukraine hinreichend schlagkräftige Waffen liefern. 

III.

Krieg heißt Bereitschaft zu töten, zu verletzen und verletzt oder getötet zu werden. Kriegshandeln ist bereits seit dem Kosovo-Krieg 1999 auch für Deutsche wieder erlaubt, ja - gemäß der damaligen Auschwitz-Rhetorik des Außenministers Fischer und des Verteidigungsministers Scharping - historisch und politisch-moralisch geboten. Seit dem fehlgeschlagenen - politisch sinnlosen - NATO-Einsatz in Afghanistan sind auch wieder deutsche Soldaten als opferbereite Gefallene zu beklagen.

Und auch zu ehren. Am 14. November 2022, dem diesjährigen - terminologisch noch fortbestehenden - Volkstrauertag ehrte die Verteidungsministerin Christine Lambrecht an einer Gedenkstätte, gelegen in Schwielowsee bei Potsdam (!), mit Kränzen die neunundfünfzig in Afghanistan zu Tode gekommenen Bundeswehrsoldaten. Die Gedenkstätte besteht aus einem von einer mit Namen der Toten versehenen Gedenkmauer, davor ein großer Felsblock mit einer Plakette. Die mit Blütenzweigen versehene Tafel trägt diverse Aufschriften. Sie ist dem Gedenken "an unsere toten Kameraden" gewidmet, das von einer eindeutig christlich-religiösen Formel ("In Deine Hände befehle ich meinen Geist") unterlegt ist. Darunter heißt es in bündnistreuer NATO-Sprache: "Lest we forget". Ganz unten befinden sich - etwa als Zeichen der Solidarität für die ungezählten afghanischen Opfer der gescheiterten, im Gefolge von  Präsident Joe Biden abgebrochenen demokratischen Befriedungsaktion ? - zwei Zeilen in arabischen Schriftzeichen. 

Die Symbolik nötigt zum Nachdenken über deutsches Gedenken bezüglich der jüngsten Vergangenheit und der von multiethnischer Vielfalt geprägten Zukunft: Wie passt derlei zeitgenössisches Gedenken mit der "uns Deutsche" - nicht etwa alle Bundesbürger -  bedrückenden Geschichte im 20. Jahrhundert zusammen? Lest we forget.

IV. 

Der zentrale Gedenktag im deutschen Geschichtskalender ist der 9. November. Der Vorschlag, den Tag zum Nationalfeiertag zu erheben, wurde zugunsten des 3. Oktober, dem Tag der staatlichen Wiedervereinigung 1990, ad acta gelegt. Als Nationalfeiertag hätte sich das betreffende Datum - ungeachtet des deutschen Glückstags anno 1989 - als wenig geeignet erwiesen. Das Gedenken an die  Novemberpogrome im Jahre 1938 überlagert längst wieder die Erinnerung an den Mauerfall. Kein Grund zum Feiern.

Es ist hier nicht der Ort, das Geschichtsnarrativ bezüglich der in ganz Deutschland (samt "angeschlossenem" Österreich) allgemein verbreiteten Pogromstimmung in jenen Novembertagen 1938 genauer zu beleuchten. Die Quellen und die Bilder dokumentieren die zahllosen Szenen mörderischer Gewalt, von Teilnahmslosigkeit angesichts der vor aller Augen stattfindenden Verbrechen, aber auch von erkennbarer Ablehnung bis hin zu stummem Entsetzen. 

V.

Ich habe lange gezögert, die nachfolgene Episode aus dem Leben meiner Eltern öffentlich zu machen. Ich tue dies im Gedenken an meine Eltern sowie aus einer gewissen Verantwortung heraus, ein historisches Detail nicht im Orkus des Vergessens verschwinden zu lassen. Meine Mutter (gest.1992),  erinnerte sich genau an jenen Tag in Duisburg, als mein Vater Dr. Christian Ammon, spätabends von der Arbeit (als Chemiker in einem Industriebetrieb) nach Hause kam und berichtete, in der Stadt und in der weiteren Umgebung des Ruhrgebiets seien die Synagogen in Brand gesetzt worden. Bald werde dies auch "mit unseren Kirchen" geschehen. Am nächsten Tag, dem 10. November 1938, erlebte er, wie sich der Mob auf den Straßen austobte. Dabei erblickte er eine Bande von Männern, die eine Frau an den Haaren über den Rinnstein zerrte. Er ging auf die Gruppe zu und herrschte sie "als deutscher Offizier des Weltkriegs" an, von der Frau abzulassen. Von derlei Intervention überrascht, machten sich die Pogromhelden davon, während er der Frau aufhalf. 

Mein Vater, ehedem Anhänger der linksliberalen Deutschen Staatspartei, hatte sich nie Illusionen über Hitler und den Nazismus gemacht. In den dreißiger Jahren ventilierte er die Chancen einer Emigration. Er gehörte keiner aktiven Widerstandsgruppe an, bewegte sich indes im Umfeld des Goerdeler-Kreises.  Nach einer Anzeige wegen defätistischer und "wehrkraftzersetzender" Bemerkungen landete er anno 1943 (?) vor dem Sondergericht Bayreuth, wo er dank Geschick seines Verteidigers mit einem Freispruch davonkam. Zum "Volkssturm" einberufen, stand er Ende Januar/Anfang Februar 1945 in meiner Geburtsstadt Brieg (Niederschlesien) Posten gegen die anrückende Rote Armee unter General Konjew. Er galt seither als "vermisst". Nach Rücksprache mit mir verfasste die Mutter in meinem Abiturjahr 1962 die Todeserklärung.