Montag, 6. Juni 2022

Die Zivilgesellschaft als der neue Souverän der Demokratie

Die Problematik der Begriffe (oder Ideen) ist seit alters das große Thema der Philosophie. Begriffe sind für unser Weltverständnis unentbehrlich, denn sie erleichtern die Wahrnehmung und Verstehen der Vielfalt der Phänomene der erlebten Wirklichkeit. Andererseits führen sie ein Eigenleben, verfestigen sich zu Klischees und verleiten zum Verzicht auf empirische Überprüfung ihrer Inhalte oder versperren gar den Zugang zur komplexen Wirklichkeit. Als Denkschablonen entheben sie der Anstrengung, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Zur Ideologie geronnen, eignen sie sich als politische Kampfbegriffe, im schlimmsten Fall als Instrumente totalitärer Machtausübung.

Auf spezifische Weise prägen Begriffe  unseren politischen Alltag, den vermeintlich ideologiefreien Raum der Demokratie. Anders als in der Antike hegt niemand - außer abseitigen Befürwortern eines autoritären Systems - Zweifel am positiven Gehalt des Begriffs und/oder der entsprechenden Staatsform. Nichtsdestoweniger wirft die Demokratie allerlei Fragen auf. Diese wurzeln zum einen semantisch im Kompositum von dêmos und krátos -  staatstheoretisch im Begriff der "Volkssouveränität" -, zum anderen - in der Ausdeutung und/oder Umsetzung der mit "Demokratie" assoziierten Begriffsvaleurs wie Grundrechte/Bürgerrechte, Menschenrechte/Freiheitsrechte, Geichheit/Gleichstellung, Werte/Wertewandel, Grundkonsens/Pluralismus, last but not least "rechts" und "links" (was eine perspektivische Grundposition in der "Mitte" voraussetzt).

Die skizzierte Vielfalt der Begriffe, die sich um die Demokratie ranken, könnte beim "mündigen Bürger" (w/m/d) eine gewisse Ratlosigkeit erzeugen. Wer ist heute der dêmos, von dem gemäß demokratischer Staatstheorie  alle Staatsgewalt ausgeht? Die "Mütter und Väter des Grundgesetze " - so die Standardformel der lingua politica  - sprachen anno 1949 in der Präambel des Grundgesetzes noch in Großbuchstaben vom Deutschen Volk als Quelle und Träger der als Provisorium beschlossenen Verfassung. Als im wundersamen Wendejahr die Deutschen in der DDR ihre dort anfangs auch als "Volksdemokratie" gepriesene Diktatur stürzten und die Mauer zu Fall brachten, taten sie dies in der Überzeugung, sie - und nicht das herrschende SED-Regime -  seien das Volk. Wenig später proklamierten sie - zum Missfallen einiger ost- und westdeutscher Intellektueller - , dass sie sich zusammen mit den Westdeutschen noch immer als "ein Volk" empfanden. Im August 1990 beschloss die frei gewählte Volkskammer im "Palast der Republik" den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland.

Das "Volk" als corpus mysticum der deutschen Demokratie steht nach wie vor im Grundgesetz. In den letzten Jahrzehnten tauchte es im Vokabular der politisch-medialen Klasse indes kaum mehr auf. Man sprach nur noch - ob aus Peinlichkeit, wenn nicht Aversion gegen das als "Tätervolk" ausgewiesene deutsche Volk oder aus Rücksichtnahme auf die post-nationale Vielfalt der mit Nachdruck geförderten Einwanderungsgesellschaft - von der "Bevölkerung", von der "Gesellschaft" oder der "Zivilgesellschaft", oder noch allgemeiner von "den Menschen in unserem Lande". Teils absichtlich, teils aus Gedankenlosigkeit wurde die begriffliche - politisch bedeutsame - Unterscheidung von "hier" lebenden Menschen und von mit Bürgerrechten ausgestatten deutschen Bürgern (sc.- und -innen) als Trägern der res publica verwischt. 

Im Gefolge des Ukraine-Krieges - dort kämpft das laut Berichterstattung zur "politischen Nation" gereifte ukrainische Volk gegen den russischen Aggressor Putin - ist sogar in den deutschen Medien eine Wiederkehr des Begriffs "Volk" zu beobachten. Es wäre indes verfehlt zu erwarten, dass daraus eine Rehabilitierung des verpönten Begriffs erwachsen könnte. Das "Volk" steht hierzulande unter Populismus-Verdacht, das Wort birgt Gefahren für den "richtigen" Begriff von "Demokratie". 

Um die Durchsetzung begrifflicher - und politischer - Reinheit der Demokratie geht es in dem von der Ampel-Regierung vorbereiteten "Demokratiefördergesetz". Federführend ist die Innenministerin Nancy Faeser. Nach ihrem Konzept geht es um die staatliche Förderung von als NGOs (nongovernmental organizations) bekannten Vereinen, die sich in der Zivilgesellschaft im Kampf gegen Antidemokraten engagieren. Wer gehört dazu? Bei genauerer Betrachtung sind die förderungswürdigen NGOs - mit der denkbaren Ausnahme von deutschen Skatclubs, Kegelvereinen oder islamischen Kulturvereinen - identisch mit der Zivilgesellschaft. 

Vor etwa zwanzig Jahren hielt die verstorbene Historikern Karin Priester die "Zivilgesellschaft" noch für einen "schwammigen Begriff". Heute liegen die Dinge anders. Mit neuen - indirekt bereits längst zugeflossenen - staatlichen Fördermitteln avanciert die Zivilgesellschaft - der Theorie nach Gegenstück zu staatlicher Regierungsgewalt - in begrifflich positiver Eindeutigkeit zum Träger der modernen Demokratie, zum neuen Souverän. 

Immerhin bleibt die staatlich zu fördernde Neudefinition des Begriffs "Demokratie" nicht unwidersprochen. Die FDP-Politikern Linda Teuteberg hält es für "legitim, dass Menschen sich in Vereinen und NGOs organisieren und sich für ihre Anliegen einsetzen. Aber NGOs wird oftmals eine Bedeutung beigemessen, die ihnen nicht zukommt. Sie sind ihrerseits demokratisch nicht legitimiert, sondern betreiben ihre Art des Lobbyismus. die Gesellschaft besteht aus mehr als einer Addition von NGOs... Auch legitimes, ja wünschenswertes Engagement löst nicht per se einen Anspruch auf staatliche Alimentierung aus. Im Übrigen ist es ein Widerspruch in sich, sich ostentativ als Zivilgesellschaft zu bezeichnen und dann den Anspruch zu erheben, vom Staat finanziert zu werden." (Interview in der FAZ v.30.05.2022, S.4).


Mittwoch, 1. Juni 2022

Ein paar weitere Anmerkungen zu Putins Krieg

 

I.

Mein Globkult-Artikel zum "richtigen" Beitrag deutscher Politik zur - in weite Ferne gerückten - Beendigung des Ukraine-Krieges hat auf Facebook allerlei Kritik erfahren. Einer der Leser monierte, dass ich Putins Bruch des Völkerrechts nicht ins Zentrum gerückt hätte. Ohne den Begriff des ius laesum ausdrücklich genannt zu haben, geht indes aus meinem Text die Verurteilung der Invasion klar hervor. Darum geht es in nachstehendem Text gar nicht, sondern um das  factum brutum der Wiederkehr des Krieges in Europa im 21.Jahrhundert. 

Wie immer dieser Krieg zu Ende gehen mag, wir sind zur Einsicht genötigt, dass der "ewige Frieden" auch in diesem Jahrhundert ein fernes Ziel bleiben wird. Über derlei Realität "tiefer", jenseits der bloßen Antithese Moralpolitik - Realpolitik, nachzudenken, ist das Thema der Philosophie. Es ist kein Thema für parteipolitische Proklamationen oder für Kirchentagsparolen. Auf der realpolitschen Ebene ist für die Ukraine gegen Putin  mutmaßlich nur ein "fauler Frieden" zu erreichen. Selbst im Falle eines - als moralische Notwendigkeit  beschworenen - Sieges über Putin bliebe die Frage bestehen: Was kommt im globalpolitischen Kontext von EU-Russland-USA-China danach?

Hinsichtlich des noch nicht absehbaren Endes des Krieges gilt es zu bedenken, dass außer den imperialen und geostrategischen Zielen des Aggressors Putin auch allerlei andere Interessen im Spiel sind. Wer daran erinnert, gerät in den Verdacht eines "Putin-Verstehers". Eine distanzierte Analyse des bitteren Geschehens ist danach kaum noch möglich.

II.

Putins Krieg in der Ukraine, der die Deutschen aus ihrer jahrzehntelangen Friedensgewöhnung aufgeschreckt hat, ist das beherrschende Thema in Politik und Medien.  Alle sind sich einig in der Empörung über den Aggressor Putin und im Entsetzen über die Schrecken des Krieges. Dissens, der sich weniger zwischen Regierung und Opposition als innerhalb der Ampel-Regierung - zwischen Kanzler Scholz und Außenministerin Baerbock, zwischen SPD-Fraktionschef Mützenich und FDP-Wehrexpertin Strack-Zimmermann - und über die Parteilinien hinweg abzeichnet, besteht allein hinsichtlich der Frage, wie dem Aggressor entgegenzutreten, d.h. wie die angegriffene Ukraine zu unterstützen sei und welches der richtige Weg zur Beendigung des Krieges sein könne. 

Sollen wir der Ukraine mit schweren Waffen aus deutscher Produktion - und mit traditonsreichen Serienbezeichnungen -  beistehen? Laut Umfragen sind die Deutschen -  der ukrainische Präsident Selenskyj sprach bei einem seiner kämpferischen und fordernden Appelle einmal gar vom "Brudervolk" -  in dieser Frage gespalten: eine knappe Mehrheit dafür, eine knappe Minderheit dagegen.  Erst recht gilt dies für die wie stets mit moralischem Führungsanspruch hervortretende Intelligentsija: die einen rufen zu umfassender Unterstützung der überfallenen Ukraine auf, die anderen warnen vor möglicher Eskalation durch Lieferung ebensolcher Waffen. Dies und dazu ihr - in der politischen Realität wirkungsloser Appell zu einem Waffenstillstand - trägt den Zögerlichen den Vorwurf eines eigennützigen und - unter Verweis auf den alliierten Sieg über Hitler-Deutschland - überdies stets fragwürdigen Pazifismus ein. Wie auch immer: Die einst massenwirksame protestantische Kirchentagsparole "Frieden schaffen ohne Waffen" ist derzeit außer Kurs gesetzt. Stattdessen ertönte zuletzt in Stuttgart auf dem Kirchentag des progressiven Laienkatholizismus aus dem Munde der ukrainischen - mutmaßlich überwiegend katholisch-unierten - Gäste unwidersprochen der Gebetsruf nach "Waffen, Waffen, Waffen".

III.

Die letztlich entscheidenden Fragen werden in der laufenden Debatte umfassend vermieden. Dabei ginge es zum einen darum, ob und wie von außen - sprich: im Kontext von Nato und EU, im vielfältigen Interessengeflecht atlantisch-europäischer Akteure - von deutscher Seite überhaupt Einfluss auf den Fortgang des Krieges, mit dem Ziel möglichst baldiger Beendigung, zu nehmen sei. Ein einseitiger Vorstoß aus Berlin triebe die Deutschen unverzüglich in die politische Isolation. Zum anderen ginge es darum zu fragen, ob und wie die beiden Kriegsparteien, die je nach Stand der Dinge ihre eigenen militärisch-strategischen und politischen Chancen kalkulieren,  zu einem Waffenstillstand und am Ende gar zu einem erträglichen Frieden zu bewegen seien. 

Es handelt sich um Fragen, die in den Raum der Realpolitik verweisen. Der Anstoß zu ernsthaften Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien müsste aus Washington kommen. Dafür gibt es derzeit  weder bei dem demokratischen Präsidenten Biden noch bei den oppositionellen Republikanern irgendwelche Anzeichen, was die veröffentlichte Meinung hierzulande mit Genugtuung erfüllt. Vehemente Kritik schlägt stattdessen dem Politkwissenschaftler John Mearsheimer entgegen, der als "Realist" und Theoretiker "amoralischer" Machtverhältnisse den Westen als Mitverursacher von Putins Krieg betrachtet. Mearsheimer kann sich auf George F. Kennan berufen, der anno 1997 vor der NATO-Osterweiterung warnte oder auf Zbigniew Brzezinski, der im gleichen Jahr in seinem Buch The Grand Chessboard die Ukraine als geopolitische Schlüsselregion auf dem eurasischen Kontinent kennzeichnete.

Zuletzt, mit seinem Video-Beitrag auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos, erntete der 99jährige Henry Kissinger Entrüstung mit seinem Vorschlag, der Ukraine als Preis für eine Friedenschance mit Putin den Verzicht auf den Donbass (und implizit auch auf die Krim) zuzumuten. Ob Putin, dessen Armee trotz aller technischen Schwächen die gesamte Schwarzmeerküste einschließlich der Stadt Cherson okkupiert hat, sich auf solche Konzessionen noch einzulassen gedenkt, steht auf einem anderen Blatt. 

Wer in Deutschland derartige Analysen und  - hypothetische - Konzepte der Konfliktlösung ins Spiel bringt, begibt sich ins politisch-mediale Abseits. Mit seinen Einwänden gegen historische und politische Einseitigkeit zog der Sozialdemokrat Klaus von Dohnanyi denunziatorische Anwürfe als "Putin-Versteher" sowie - im hämischen Jargon der "woken" Moral - als "alter weißer Mann" auf sich. Selbst Bundeskanzler Scholz, der offenbar anders als seine Außenministerin Baerbock oder der CDU-Oppositionsführer Merz bei Panzern und schwerem Gerät noch Zurückhaltung empfiehlt, wird in den Qualitätsmedien bereits ob seiner zögerlichen Haltung kritisiert. 

Man kann derlei - politisch wirksame -  Emotionen auf drei Ursachen zurückführen: erstens auf die aus der deutschen Vergangenheit erwachsenen, politisch abrufbaren Schuldgefühle, zweitens auf die ideologischen Maßgaben im demokratischen Zeitalter, in denen es - wie drittens allgemein in Kriegszeiten - nur um die eine Frage geht: Wer sind die Guten, wer die Bösen? Entsprechend der Dichotomie geht es danach nur noch um den Sieg über das Böse. Mit seinem - weder zu rechtfertigenden noch zu verharmlosenden - Angriff auf die Ukraine, mit der Art der Kriegführung, erst recht angesichts der Massaker von Butscha, erscheint der KGB-Mann Putin als Protagonist des Bösen.  Der als Experte aufgerufene Osteuropa-Historiker Timothy Snyder bringt das Böse auf den politisch zeitlosen Begriff: Putin ist ein Faschist.

Ungeachtet solch geistiger Gewissheit zieht sich der Ukraine-Krieg in noch ungewisser Länge hin. Mehr noch: Es gibt Stimmen, die - entgegen aller moralisch motivierten Parteinahme für die Ukraine   - eine Niederlage des Landes vorhersehen. Zu ihnen gehört hierzulande der emeritierte Politikwissenschaftler und Machiavelli-Experte Herfried Münkler. Für die Ukraine bedeutete selbst ein beide Seiten erschöpfendes Patt eine Niederlage. Denn in aller Wahrscheinlichkeit wird Putin die von ihm okkupierten Gebiete in der Ostukraine, die breite Landbrücke von Noworossija zur Krim, am Ende dieses Krieges nicht mehr herausgeben. 

All das mag unsere Vorstellungen von Gerechtigkeit und politischer Moral verletzen, ändert indes nichts an den Bedingungen und Spielregeln der politischen Realität. Anders als die Deutschen im II. Weltkrieg erfahren mussten, ist die Weltgeschichte nicht das Weltgericht. Diese - nicht nur im Hinblick auf die Ukraine unbequeme - Einsicht wäre in ahistorischer Gegenwart in deutschen Schulen, Seminaren, auch in den sich leerenden Kirchen zu vermitteln. Sie zwingt zum tieferen Nachdenken, steht indes im Widerspruch zu einfachen Kategorien von Politik und Moral.