Mittwoch, 30. November 2022

Ablasshandel zur Weihnachtszeit

Dank Internet und digitalem Schriftverkehr besteht die Briefpost nun schon seit Jahren nur noch aus Reklamesendungen, Rechnungen, amtlichen Schreiben sowie Spendenappellen aller möglichen Organisationen und Institutionen. Datenschutz - ehedem ein grünes Herzensanliegen - ist im digitalen Zeitalter längst kein Thema mehr. Entsprechend häufen sich Briefe mit beiliegenden, antiquiert anmutenden Überweisungsvordrucken samt Spendenquittung. 

Terre des Hommes und/oder des Femmes, Greenpeace, Ärzte/Ärztinnen und/oder Reporter ohne Grenzen, SOS-Kinderdorf usw. decken den säkularen Bereich ab. Diakonisches Werk, Christoffel-Blindenmission und speziell "Brot für die Welt" appellieren an mein christliches Gewissen. Für Bethel empfinde ich, sofern ich die Überweisung (online) nicht vergesse, nach wie vor große Spendenbereitschaft, auch für die Blinden. Bedenken kommen seit längerem bei "Brot für die Welt" auf. Ich beschränke meine entsprechende Spende (unter Verzicht auf Quittung) in der Regel auf den Gottesdienst an Heiligabend, wo in der Kurzpredigt  nach Lukas, 2 die Weihnachtsgeschichte meist (ohne direkten Bezug auf Matthäus, 2) mit dem aktuellen Flüchtlingselend verknüpft wird.

Für den Steuer- und Kirchensteuerzahler wirft das Spendenwesen einige grundsätzliche, zwischen Gewissen und Ratio angelagerte Fragen auf. Natürlich gehöre ich - mit Beamtenpension samt Beihilfe - zu den passabel Situierten in diesem wirtschaftsmächtigen Staat oder - im kirchlichen oder allgemein karitativen Politsprech ausgedrückt - zu den gegenüber dem "globalen Süden" (ehedem "Dritte Welt") Privilegierten in "diesem reichen Land". Ich möchte mich da nicht mit geläufigen, klassenkämpferisch angereicherten Parolen über die Superreichen, beispielsweise über die exorbitanten Einkommen in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten (ÖRR) oder anderswo, herausreden. Nein, das Wissen um soviel Elend in der Welt nagt zuweilen an meinem Gewissen. Und eben darauf zielen die vielen Spendenappelle.  

Aus einiger Distanz betrachtet, handelt es sich beim kirchlichen und nichtkirchlichen NGO-Spendenwesen um die moderne, säkulare Form des spätmittelalterlichen,  in die Kreuzzüge zurückweisenden Ablasshandels. Zwar plagt uns keine Angst mehr vor der Hölle, schon gar nicht Sorge bezüglich der (nicht nur) von Protestanten ohnehin abgelehnten reinigenden Sündenstrafen im Fegefeuer, aber es tut der Seele gut, ein gutes Werk in Cash, per Überweisung oder per Smartphone zu tätigen.

Das Spenden für gute Zwecke - und für ein gutes Gewissen -  soll nicht gänzlich in Zweifel gezogen  werden. Ich spende selbst seit Jahren steuerabzugsfähig, und das Elend von Pfandflaschensammlern und immer zahlreicheren Obdachlosen in deutschen Städten springt mich an. Gleichwohl bleiben einige Fragen. Sie betreffen allgemein die von Eigennutz geprägte Struktur  von Hilfsorganisationen. Welcher Anteil des Spendenflusses landet im von Selbstzweck gesteuerten Apparat, und wieviel kommt in den Hilfsprojekten (wiederum abgesehen von deren nicht immer unzweideutigen Zielsetzungen) an?  

In concreto,  hinsichtlich der kirchlichen Spendenaktionen (beispielsweise "Brot für die Welt"), geht es um deren Funktion im Zusammenhang der kirchlichen Großorganisation EKD und ihrer Landeskirchen. Sie werden maßgeblich getragen von der Kirchensteuer. Auf deren budgetäre Zuweisungen hat das zahlende Kirchenmitglied, sofern nicht delegiert und engagiert in den Synoden, keinerlei Einfluß. Das akute Beispiel ist die direkte oder indirekte Zuweisung von Hilfsgeldern an die im Mittelmeer operierenden Rettungsschiffe für Migranten und/oder reale Flüchtlinge ("Geflüchtete" statt, semantisch richtiger, "Flüchtende"). Die Problematik von derlei Rettungsaktionen - de facto Unterstützung der hochkriminellen Schlepperbanden  - ist unübersehbar. Rettungsschiffe wie Seawatch verdienten Unterstützung, wenn sie allein auf reale Rettung aus Seenot zielten - und nicht (unter der Parole "Open Borders") auf die Förderung illegaler Einwanderung in die "reichen" Länder. Im übrigen geht es - angesichts der Vielzahl von Krisen-, Kriegs- und Armutsregionen - stets um selektive Hilfsaktionen, die am globalen Elend und dessen komplexen Ursachen vorbeizielen.

Inwieweit die Spenden für "Brot für die Welt" und ähnliche Organisationen sinnvolle Verwendung finden oder - als eine Art Nebenquelle - fragwürdige Unternehmungen der politisierten EKD indirekt mitfinanzieren, ist eine unbequeme, aber berechtigte Frage. Wer mit schlechtem Wohlstandsgewissen eine Spende aus dem Gehaltszettel abzweigt, bewegt sich im psychologischen Bereich des ehedem vom Reformator Luther dekonstruierten Ablasshandels. Und dies nicht nur zur Weihnachtszeit.

 


 

 

Donnerstag, 24. November 2022

Gedenktage, Narrative und inkongruente Details

I.

Der traurige Monat November, durchzogen von säkularen (id est zivilreligiösen) und religiösen Gedenktagen, inspiriert zu Reflexionen über Sinn, Ästhetik und Begründungen des Gedenkkalenders. Auf der abstrakten Ebene geht es um die politisch-soziale Funktion von dies festae und den entsprechenden Riten in Gesellschaften. Im konkreten politischen Kontext der Gegenwart richtet sich der Blick auf die Fest- und Gedenktage in den - ungeachtet aller universalistischen Deklarationen (Weltfrauentag, Weltkindertag, Tag der Menschenrechte usw.) - unterschiedlich fortbestehenden, historisch begründeten nationalen (und/oder nationalstaatlichen) Gedenktage. 

Die historisch-politisch relevanten Unterschiede sind an beliebigen Daten zu erkennen, nicht zuletzt am Weltgedenktag des 27. Januar, zum Gedenken der Befreiung von Auschwitz durch sowjetische Truppen an besagtem Januartag 1945. Solange die universalistisch gemeinte Intention, das von deutschen Nationalsozialisten verübte Massenverbrechen für alle Zeit als Mahnung an alle Menschheit zu begreifen, am Selbstverständnis der in diesen Tagen auf acht Milliarden angewachsenen Menschheit vorbeizielt, dürfte der - 1996 von Bundespräsident Roman Herzog in Deutschland proklamierte, anno 2005 von der UNO etablierte -  Gedenktag selbst innerhalb des Westens sehr unterschiedliche Empfindungen und Assoziationen wecken. Vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges tritt die bittere Ironie kollektiven - realiter selektiven - Gedenkens hervor: Im historischen Selbstbewusstsein der ihre Unabhängigkeit gegen den imperial-russischen Aggressor Putin verteidigenden Ukrainer dominiert das Gedenken des "Holodomor", des von Stalin exerzierten, millionenfachen Hungertodes in der Ukraine (und in Südrussland).

II.

Die Symbolik des zivilreligiösen Gedenkens korreliert mit der modischen Begrifflichkeit des "Narrativs" oder der "Erzählung". Diese wiederum erfährt - in reduktionistischer Gestalt - als "Geschichtspolitik" ihre ideologische Zwecknutzung. Hinter derlei akademisch aufgeladenen Begriffen steckt nichts anderes als die alte Erkenntnis, dass die Geisteswissenschaften - ein immer weniger geläufiger Begriff - dem jeweiligen Zeitgeist verpflichtet sind, und dass Erkentnisinteresse nicht selten mit Machtverhältnissen verquickt ist. Nicht zuletzt gilt diese Erkenntnis der auf "Narrative" abhebenden Modeströmung des Dekonstruktivismus. Auch die "große Erzählung" des westlichen Universalismus bleibt von der Dekonstruktion nicht verschont, mit der Konsequenz, dass nunmehr im Zeichen der "wokeness" partikulare Narrative universelle Gültigkeit beanspruchen. Als Quintessenz der Debatte ist festzuhalten, dass in Tradition und Wissenschaft inkongruente Fakten, erst recht mindere historische Details zugunsten der dominanten "Erzählung" geglättet oder ausgelassen werden.

Weitab von akademischen Diskursen, auf der Ebene politischer Realität, erleben wir den Widerspruch zwischen universalistischen Proklamationen und divergierenden Bewusstseinsinhalten im Alltag der zusehends multiethnischen - und/oder multikulturellen - westlichen Gesellschaften. Ein eklatantes Beispiel für ideologische Ungereimtheiten liefert wiederum der Ukrainekrieg: Das - historisch-kulturell begründete - Selbstverständnis der Ukraine als eigenständige, freiheitsliebende Nation wird von deutschen - ansonsten allen nationalhistorischen "Erzählungen", sprich: Traditionen abgeneigten - Linksliberalen und Grünen als unzweifelhaftes Bekenntnis zur liberalen Demokratie akzeptiert und aufgewertet. Bei einem - von der Kulturstaatssekretärin Claudia Roth persönlich beehrten - Solidaritätskonzert in der Berliner Philharmonie erhob sich bei  Intonation der ukrainischen Nationalhymne andächtig das postnationale, postheroische deutsche Publikum. 

Die aktuelle Debatte um fehlgeleiteten Pazifismus und notwendiger Parteinahme in einem "gerechten" Verteidigungskrieg offenbart das spezifisch deutsche Dilemma: Mit gutem und - unter Verweis auf den Zweiten Weltkrieg - schlechtem Gewissen sollen "wir Deutsche"  uns moralisch erweisen, indem wir der Ukraine hinreichend schlagkräftige Waffen liefern. 

III.

Krieg heißt Bereitschaft zu töten, zu verletzen und verletzt oder getötet zu werden. Kriegshandeln ist bereits seit dem Kosovo-Krieg 1999 auch für Deutsche wieder erlaubt, ja - gemäß der damaligen Auschwitz-Rhetorik des Außenministers Fischer und des Verteidigungsministers Scharping - historisch und politisch-moralisch geboten. Seit dem fehlgeschlagenen - politisch sinnlosen - NATO-Einsatz in Afghanistan sind auch wieder deutsche Soldaten als opferbereite Gefallene zu beklagen.

Und auch zu ehren. Am 14. November 2022, dem diesjährigen - terminologisch noch fortbestehenden - Volkstrauertag ehrte die Verteidungsministerin Christine Lambrecht an einer Gedenkstätte, gelegen in Schwielowsee bei Potsdam (!), mit Kränzen die neunundfünfzig in Afghanistan zu Tode gekommenen Bundeswehrsoldaten. Die Gedenkstätte besteht aus einem von einer mit Namen der Toten versehenen Gedenkmauer, davor ein großer Felsblock mit einer Plakette. Die mit Blütenzweigen versehene Tafel trägt diverse Aufschriften. Sie ist dem Gedenken "an unsere toten Kameraden" gewidmet, das von einer eindeutig christlich-religiösen Formel ("In Deine Hände befehle ich meinen Geist") unterlegt ist. Darunter heißt es in bündnistreuer NATO-Sprache: "Lest we forget". Ganz unten befinden sich - etwa als Zeichen der Solidarität für die ungezählten afghanischen Opfer der gescheiterten, im Gefolge von  Präsident Joe Biden abgebrochenen demokratischen Befriedungsaktion ? - zwei Zeilen in arabischen Schriftzeichen. 

Die Symbolik nötigt zum Nachdenken über deutsches Gedenken bezüglich der jüngsten Vergangenheit und der von multiethnischer Vielfalt geprägten Zukunft: Wie passt derlei zeitgenössisches Gedenken mit der "uns Deutsche" - nicht etwa alle Bundesbürger -  bedrückenden Geschichte im 20. Jahrhundert zusammen? Lest we forget.

IV. 

Der zentrale Gedenktag im deutschen Geschichtskalender ist der 9. November. Der Vorschlag, den Tag zum Nationalfeiertag zu erheben, wurde zugunsten des 3. Oktober, dem Tag der staatlichen Wiedervereinigung 1990, ad acta gelegt. Als Nationalfeiertag hätte sich das betreffende Datum - ungeachtet des deutschen Glückstags anno 1989 - als wenig geeignet erwiesen. Das Gedenken an die  Novemberpogrome im Jahre 1938 überlagert längst wieder die Erinnerung an den Mauerfall. Kein Grund zum Feiern.

Es ist hier nicht der Ort, das Geschichtsnarrativ bezüglich der in ganz Deutschland (samt "angeschlossenem" Österreich) allgemein verbreiteten Pogromstimmung in jenen Novembertagen 1938 genauer zu beleuchten. Die Quellen und die Bilder dokumentieren die zahllosen Szenen mörderischer Gewalt, von Teilnahmslosigkeit angesichts der vor aller Augen stattfindenden Verbrechen, aber auch von erkennbarer Ablehnung bis hin zu stummem Entsetzen. 

V.

Ich habe lange gezögert, die nachfolgene Episode aus dem Leben meiner Eltern öffentlich zu machen. Ich tue dies im Gedenken an meine Eltern sowie aus einer gewissen Verantwortung heraus, ein historisches Detail nicht im Orkus des Vergessens verschwinden zu lassen. Meine Mutter (gest.1992),  erinnerte sich genau an jenen Tag in Duisburg, als mein Vater Dr. Christian Ammon, spätabends von der Arbeit (als Chemiker in einem Industriebetrieb) nach Hause kam und berichtete, in der Stadt und in der weiteren Umgebung des Ruhrgebiets seien die Synagogen in Brand gesetzt worden. Bald werde dies auch "mit unseren Kirchen" geschehen. Am nächsten Tag, dem 10. November 1938, erlebte er, wie sich der Mob auf den Straßen austobte. Dabei erblickte er eine Bande von Männern, die eine Frau an den Haaren über den Rinnstein zerrte. Er ging auf die Gruppe zu und herrschte sie "als deutscher Offizier des Weltkriegs" an, von der Frau abzulassen. Von derlei Intervention überrascht, machten sich die Pogromhelden davon, während er der Frau aufhalf. 

Mein Vater, ehedem Anhänger der linksliberalen Deutschen Staatspartei, hatte sich nie Illusionen über Hitler und den Nazismus gemacht. In den dreißiger Jahren ventilierte er die Chancen einer Emigration. Er gehörte keiner aktiven Widerstandsgruppe an, bewegte sich indes im Umfeld des Goerdeler-Kreises.  Nach einer Anzeige wegen defätistischer und "wehrkraftzersetzender" Bemerkungen landete er anno 1943 (?) vor dem Sondergericht Bayreuth, wo er dank Geschick seines Verteidigers mit einem Freispruch davonkam. Zum "Volkssturm" einberufen, stand er Ende Januar/Anfang Februar 1945 in meiner Geburtsstadt Brieg (Niederschlesien) Posten gegen die anrückende Rote Armee unter General Konjew. Er galt seither als "vermisst". Nach Rücksprache mit mir verfasste die Mutter in meinem Abiturjahr 1962 die Todeserklärung.