Mittwoch, 27. April 2016

Beck is back

Vor einigen Wochen (2. März 2016 http://herbert-ammon.blogspot.de/2016/03/finale-im-reichstag.html) beschloss ich meine historische Kurzskizze über die multifunktionale, deutschem Forschergeist zu verdankende, libidosteigernde Partydroge Crystal Meth (a.k.a. Methamphetamin, Speed, Panzerschokolade) mit folgendem Passus:

"Beck legt seine Ämter nieder. Offenbar will er, der Diäten und der Pensionsansprüche halber, noch seinen Platz im Bundestag behalten. Interna aus der Grünen-Fraktion, wie man im Hinblick auf die anstehenden Landtagswahlen mit dem ob seiner Zivilcourage unersetzlichen Kollegen  Beck verfahren solle, sind leider noch nicht ins Internet gelangt. Falls grüne Führungspersönlichkeiten  wie Claudia Roth oder Karin Göring-Eckart, gleich Beck erfolgreiche Studienabbrecher,  in Sorge um die Parteimoral ihrem Menschenrechtsexperten Beck die Niederlegung seines Mandats aufnötigen sollten, wäre dies erneut das Finale eines deutschen Kämpfers; diesmal im - nicht vor - dem  Reichstag."

Die hypothetische Frage nach dem möglichen Ende der Karriere des Rundum-Experten Volker Beck hat sich erledigt: Beck is back.  Der mit medizinisch indizierter Krankschreibung (ad libitum: wegen moralischer Erschöpfung, Schnupfen, Husten, Atembeschwerden, Tachykardie, temporärer  Erektionsschwäche oder dergl.) abgesicherte, abrupte  Rückzug vom anstrengenden politischen Tagesgeschäft unter Beibehaltung des Sitzes im Bundestag war nur ein kurzzeitiger. Nach Zahlung einer Strafe von mickrigen 7000  €  und einem lockeren Eingeständnis ("war dumm") - ein mea culpa, mea maxima culpa  ist nach den Riten der  bundesrepublikanischen Zivilreligion für eine Absolution nicht mehr erforderlich - ist Beck, bedankt und beglückwünscht von Karin Göring-Eckart (s.o.) mit allen Ehren in seine Ämter als  grüner Multifunktions-MdB zurückgekehrt. Er verzichtet jedoch - wegen der Gefahr neuerlicher Arbeitsüberlastung und eines erneuten, von der unverändert illiberalen Drogengesetzgebung  ("Ich bin immer für liberale Drogenpolitik eingetreten", dixit Beck, nach seinem polizeilich gestörten Auftritt auf der heiligen "Nolle") strafbewehrten  Rückgriffs auf den Wachmacher Crystal Meth auf seine Rolle als innenpolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag (im Reichstag, s.o.).  Zusätzlich zu all seinen sonstigen Meriten - vom Bundesverdienstkreuz bis sonstewas -  ist Beck seit 2015 auch noch Träger  der Leo-Baeck-Medaille. Er darf sich nach der Drogenlappalie auf der Strichermeile weiterhin ungehindert im Kölner Karneval und auf dem Evangelischen Kirchentag, selbstverständlich auch im Bundestag und bei Anne Will,  für Menschen- und Schwulenrechte, für Religion und den Deutsch-Israelischen Dialog ins Zeug legen.

Welch ein Stoff für großes Drama im Shakespeare-Jahr 2016: Beck, ehedem Student (Studierender) der Theaterwissenschaften (Histrionik), hochrangiger Repräsentant der  Republik (s.a. Der gründeutsche Chefmoralist im Spiegel seines Innenlebens),  dem tragischen Schicksal eines  Scheiterns nach glänzender Karriere gerade noch entkommen!? Oder doch nur ein weiteres Beispiel für die Banalität des Berliner Politalltags? - Ein Autor mit dem hübschen nom de plume "habimmerrecht" hat die Affäre auf der Kommentarseite des "Tagesspiegels" (27.04.2016,  0.8.49 Uhr; http://www.tagesspiegel.de/politik/nach-der-drogen-affaere-volker-beck-bleibt-religionspolitischer-sprecher-der-gruenen-fraktion/13506168.html) in  Kurzprosa gefasst:
"Alles Gute! Nach dem Vorfall, der Krankschreibung und Blitzgenesung nun wieder mit Kraft für neue Aufgaben. Die Staatsanwaltschaft wartet auf neue Anzeigen."

Dienstag, 26. April 2016

Immer auf der richtigen Seite (mit Gott und/oder der Geschichte)

I.
Zunächst verweise ich das geneigte Publikum bezüglich der an Begriffs- Gefühls- und Zielverwirrung leidenden Nicht-Debatte über Merkels  "Willkommenskultur", über die von ihr - zu Erdogans Bedingungen - plötzlich abgebremsten Flüchtlingsströme (zur Begriffsklärung siehe  die Beiträge in Globkult von Eckhard Stratman-Mertens: http://www.globkult.de/gesellschaft/modelle/1092-fl%C3%BCchtlinge-sch%C3%BCtzen-%E2%80%93-einwanderung-begrenzen,  von Ehrhart Körting: http://www.globkult.de/ulrich-horb-debatte/migration/1063-klarstellungen-zur-fluechtlingspolitik sowie von mir: http://www.globkult.de/gesellschaft/identitaeten/1057-fluechtlingsstroeme-einspruch-gegen-die-leichthaendige-behandlung-eines-schwierigen-themas) 
sowie der damit vermengten Einwanderungsthematik - auch zu diesem Thema gibt es durchaus noch einige Fragen die  Steigerung unserer Exportindustrie, die  Nachfüllung unserer Rentenkassen, last but not least die Ablösung unserer Geschichtslasten betreffend - auf das in der der Welt von heute zu findende Interview mit Richard Schröder.

Mit protestantischer Nüchternheit, die sich wohltuend abhebt a) von Merkels Gefühls- und Politschwankungen b) von Margot Käßmanns Kita-Losungen (der einst West-Berlin geprägte Infantil-Neologismus ist begriffsinhaltlich ausweitbar: von Kindertagesstätten bis hin zu  Kirchentagen) c) von Papst Franziskus´  demutsvoller Symbolpolitik, spricht der Theologe (ehedem SPD-Fraktionsvorsitzender in der letzten DDR-Volkskammer, heute Emeritus der Philosophie an der Humboldt-Universität)  von der unzulässigen Begriffsvermischung (i.e. von real bedrohten Flüchtlingen, von vermeintlichen "Flüchtlingen" und Einwanderern). Er verweist auf das Faktum, dass - im Gegensatz zu den in den letzten Wochen im Gefolge des evidenten Chaos verbreiteten Zahlen - "Abschiebungen" - ein zugegebenermaßen unschöner Begriff - von Immigranten ohne berechtigten Aufenthaltsstatus kaum je stattgefunden haben. Die laxe bundesrepublikanische Praxis wirkt seit langem als Stimulus für die von kriminellen "Schleppern" betriebene Immigration aus Asien und Afrika.

Richard Schröder (s.a. http://herbert-ammon.blogspot.de/2015/11/richard-schroder-eine-evangelische.html) expliziert in klaren Worten die allenthalben - exemplarisch in Merkels wechselvollen Auftritten - verwischte Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik. "Die Kirchen können von ihren Mitgliedern mehr Barmherzigkeit verlangen. Von Barmherzigkeit, vom Herz für die Elenden kann es nicht genug geben. Der Staat aber darf nicht barmherzig sein. Der Staat muss gerecht sein. Er hat nach Regeln zu handeln, und er hat die Folgen zu bedenken. 
Der Barmherzige fragt nicht viel, er hilft. Er sieht in die Augen der Kinder von Idomeni und sagt, ´Kinderaugen lügen nicht´, und will sie hierherholen. Den Politiker mögen die Kinderaugen genauso rühren, er aber muss fragen: Was passiert, wenn ich heute 10.000 Menschen hierherhole?
Dann nämlich sind morgen weitere 10.000 Menschen da, die auch nach Deutschland wollen. Kurzum: Wenn der Staat barmherzig wäre, wäre er korrupt, denn er würde Ausnahmen machen. Der Barmherzige darf das."  Zum Interview s. http://www.welt.de/politik/deutschland/article154741851/Ohne-Strenge-bei-Migranten-machen-wir-uns-zum-Affen.html

II.

Über Barack Obamas historische Leistung ein Urteil zu fällen, sei Historikern überlassen, die sich nach seinem Abgang im nächsten Frühjahr ans Werk machen, um die Karriere und "performance" (engl.= Ausführung, Leistung, auf der Bühne: Darstellung; jetzt akad. neudt.auch: "Performanz") des ersten "farbigen" Präsidenten der USA zu würdigen. Bei seinem Auftritt auf der Hannoverschen Industriemesse machte er jedenfalls nicht den Eindruck, er sei bereits in der Phase der lame-duck-Präsidentschaft  angekommen.

Obama trat den weniger Mächtigen aus dem von ihm nicht etwa als old Europe ridikülisierten, sondern als lebendiger Hort der westlichen Werte gepriesenen Europa lächelnd, locker, dynamisch - und belehrend -  gegenüber. Über den Zweck seines Besuchs und seiner Reden sollte Klarheit bestehen: Es geht ihm zum einen darum, die von unterschiedlichen Kräfte genährten Zweifel an den Segnungen des Freihandels - zu US-amerikanischen Bedingungen (TTIP) - zu entkräften. Zum anderen möchte er "die Europäer", sprich: das bislang transatlantisch verbundene - und eingebundene - EU-Europa auf Kurs halten. Dafür gibt es - nicht nur aus der amerikanischen Interessenlage heraus - gute und weniger gute Gründe. Ein Freund wies mich unlängst auf die politischen - nicht primär wirtschaftlichen Folgen - eines "Brexit" für Deutschland hin: Das ungeliebte große Kind in der Mitte des Kontinents geriete erst recht wieder in die von allen Seiten mit Argwohn beäugte, (halb-)hegemoniale Mittellage...

Obama fand besonders liebevoll lobende Worte für seine Freundin Angela:  Mit ihrer großherzigen "Flüchtlingspolitik" - ihre Herzklappen verengten sich im späten Reflex auf die das Wahlvolk irritierenden  Szenen auf der Kölner Domplatte - habe Merkel vor aller Welt gezeigt, dass "die Geschichte auf ihrer Seite" stehe. Die Worte zierten die Schlagzeilen aller (west-)europäischen Qualitätsmedien sowie der weniger qualitätvollen Bild-Zeitung.

Der Blogger fühlt sich bei derlei Worten an frühere Zeiten und Szenen erinnert. Einst mokierten sich historisch Unbedarfte und Möchtegern-Zyniker über das Signum "Gott mit uns" auf der Gürtelschnalle preußisch-deutscher Soldaten - als wären  nicht andere Heere mit denselben Insignien und Fahnen in den Krieg gezogen. Dass es ohne göttlichen und/oder geistlichen Beistand nicht so leicht geht, junge Männer (heute auch Frauen) in die Schlacht, im Zweifel also in den Tod, zu schicken, wissen auch die kühlsten Zyniker und/oder Rationalisten unter den Politikern. Aus eben diesem Grund lässt beispielsweise selbst die laizistische französische Republik Feldgeistliche (unterschiedlicher Konfession oder Religion) vor und hinter der Front agieren. Das wusste selbst der entlaufene Priester-Seminarist Stalin....

III.
Nun wissen wir seit Hegel, dass hinter allem, d.h  an den einstigen Kriegsfronten sowie in den heutigen asymmetrischen Kriegen,  der Weltgeist,  p.p. Gott oder die Geschichte steht. Auf das künftige Urteil der  Geschichte beriefen sich denn auch Revolutionäre unterschiedlicher Couleur, wenn sie nach - vorläufigem Scheitern - ihrer Absichten vor Gericht landeten. Zu erinnern ist an einen Prozess vor 93 Jahren in München. Auf das Recht der Geschichte berief sich auch der Jesuitenschüler, Jurist und Revolutionär Fidel Castro in Havanna nach seinem  missglückten Sturm auf die Moncada anno 1953 im Kampf gegen den Diktator Fulgencio Batista. Am Neujahrstag 1959 behielt er tatsächlich Recht. Wie die Geschichte des nunmehr 90jährigen Revolutionärs (im Trainingsanzug von "Adidas", presumably made in China)  und des Landes Kuba, dem Obama unlängst einen Besuch abstattete, weitergehen wird, wissen vorerst die Götter. Diesbezüglich ist auch keinem/-r der Kandidaten in den US-Primaries zu trauen...

Somit wissen wir auch nicht, was in der kommenden Generation - womöglich schon in wengen Jahren - aus Angela Merkels Geschichte, genauer: bei ihrem historischen Experiment, herausgekommen sein wird. Womöglich verhüllt Clio dann ihr Antlitz  hinter einem protestantisch-violett bestickten Niqab.









Freitag, 15. April 2016

Im Gehäuse der postdeutschen Kunst

I.
Geschichtsschreibung ist ein unsicheres Metier, abhängig von Erkenntnisinteresse  und Quellenlage, von Zeitgeist und politischer Wetterlage. Erst recht gilt dies für die mit dem Anspruch ästhetischen Feinsinns ausgestattete Kunstgeschichte. Dahingestellt sei daher die Frage, ob es ungeachtet der etwa in der Alten Nationalgalerie auf der Berliner Museumsinsel zu bewundernden  Romantiker  und/oder der Deutschrömer je so etwas wie "deutsche Kunst"  gegeben hat. Im übrigen scheint die Frage erledigt, seit man - aus plausiblen  Gründen - in München  aus dem "Haus der Deutschen Kunst" (Entwurf 1933, Eröffnung 1937) das Attribut samt Kapitälchen gestrichen hat.

Leider scheint der Geist der deutschen Kunst nicht so leicht zu verscheuchen, im Gegenteil. Vergeblich blieb alle Entrüstung  angesichts der geschichtsvergessenen Simulation der Berliner Schlossfassade von Franco Stella. Selbst wenn die Idee als Projektion von einer Französin stammte, der prämierte Entwurf von einem Italiener - unsere postdeutsche Seele fühlt sich durch das Ding an sich gestört, selbst wenn es alsbald in seinem Innern diversity, i.e. den multiplen Geist der Kulturen der Welt, bergen soll.

II.
Es geht  um die richtige Ästhetik für die Berliner Republik, um die Symbolik  postnationaler Weltoffenheit. Von der Mauer, die in der Nacht am 9. November 1989 dank Günter Schabowski (gest. 1.11.2015) und Michail Gorbatschow  zum Einsturz kam, ist (fast) nichts geblieben, aber das will nicht viel heißen. Es geht um die ästhetische Deutung der Bilder vom 9. November 1989 und der Tage, Wochen, Monate danach bis zum 3. Oktober 1990. Immerhin wissen wir als wertebewusste Wessis,  was die mauerstürmenden Ossis und Trabbifahrer damals bewegte: die Lust auf Bananen, die Gier nach der D-Mark, das Verlangen nach schnelleren Autos. Außerdem ging´s ihnen um  Freiheit und/oder Mobilität, sodann um die deutsche Einheit, Leipziger Parolen und Fahnen hin oder her! Gewiss, verdammt lange her...  "History is bunk", wusste schon Heny  Ford. Nichtsdestoweniger  geht es  darum, die reale  Dialektik der Bilder von damals zu ergründen sowie all jene Emotionen, die in den Dezemberwahlen 1990 vorübergehend selbst westdeutsche Grünen-Wähler beseelten, geschichtspädagogisch zu kanalisieren. Für derlei Zwecke bedarf es einer adäquaten Symbolik. Richtig, ein deutsches Denkmal (recte  Denk-mal!)  müsste her!

Zur Erinnerung: Dank der Stimmen der PDS - ein längst vergessener Parteiname - wurde die Hauptstadt von Bonn nach Berlin transferiert. In processu kam dem deutschen Bedürfnis nach schuldbehaftet entsühnender Symbolik die von der Jury - deren Zusammensetzung ist dem Blogger leider nicht erinnerlich  - zunächst die preisgekrönte gläserne  Schüssel Norman Fosters als Dach überm Reichstag am nächsten. Allerdings erwies sich die Glasschale, die Foster - im edlen Bestreben, den finsteren  Geist des Ermächtigungsgesetzes ästhetisch zu widerlegen,  dem Reichstag verpassen wollte,  a) für die Statik des Wallot-Torsos als zu schwer b) als historisch-ästhetisch unbrauchbar, da einer Fehlassoziation  des britischen Architekten entsprungen. Sir Norman war die historische Lokalität und Realität der Kroll-Oper, Schauplatz der parlamentarischen Selbstaufgabe der Weimarer Republik, nicht bekannt. - Mit Rita Süssmuths (ehedem Bundestagspräsidentin, Haupstadtgegnerin, CDU) Segen wurde der Reichstag dann doch noch mit Fosters Ersatzidee, einer Art Eierbecher aus Glas,  gekrönt und im Inneren demokratisch blau bestuhlt.

Die ethno-demokratische Inschrift "Dem Deutschen Volke" über dem Westportal des Gebäudeshatte dereinst schon Kaiser Wilhelm II. missfallen. Eine zeitgemäße Änderung - die Entfernung der Lettern  - kam für die Volksvertretung bei ihrem Umzug  nach Berlin noch nicht in Betracht. Immerhin entschied man sich  anno 2000 mit  Mehrheit für eine - dem Volke und den Hauptstadtbesuchern leider  mehr oder weniger verborgene - Alternative: für einen Riesenfuttertrog mit des nachts aufleuchtender Inschrift "Der Bevölkerung", ersonnen von dem in New York residierenden biodeutschen Konzeptkünstler Hans Haacke (der sich mutmaßlich kunstdidaktisch des bekannten Brecht-Zitats bediente). Das Konzept sah folgendes vor: Die Abgeordneten, i.e. die Volksvertreter, sollten symbolträchtig Eimer mit Erden aus deutschen Landen, genauer: aus ihren Wahlkreisen, in den Hinterhof des begrifflich kontaminierten Gebäudes tragen, um den Schweinetrog aufzufüllen, sodann die Natur durch Wind und Samenflug dem demokratischen Wildwuchs zu überlassen. Der Grünen-Abgeordneten Antje Vollmer gebührt die Ehre, sich dem Konzept verweigert zu haben. Ihr widerstrebte die Idee, "Kitsch in Kübeln" nach Berlin zu tragen.

III.
In ähnlichem Ringen um die Ästhetik der Berliner Republik sollte endlich ein Denkmal für "Einheit und Freiheit", nein: "Freiheit und Einheit",  vor dem Berliner Schloss errichtet werden. Ein gegenständlicher Entwurf zur Erinnerung an die  Nacht vom 9. auf den 10. November 1989, kam - wenn es ihn denn je gab - gar nicht erst zur Vorlage.  Geleitet von hoher historischer Sensibilität, entschied sich die unbekannte Jury für den Entwurf einer doppelseitig oval-weiträumigen, auf einem wie immer verankerten Widerlager aufruhenden Wippe aus Beton. Die ins demokratische Deutschland strömenden Massen aus aller Welt sollten durch ein dialektisch zu deutendes Schaukelspiel sinnlich erfahren, dass es den Deutschen (oder der entsprechenden Bevölkerung) endlich geglückt sei, die in früheren Zeiten (1806? 1814/15? 1848/49? 1871? 1918/19? usw.) jeweils verfehlte historische Aufgabe, Freiheit und Einheit ("Freiheit geht vor Einheit" -  tröstliche Phrase aus den 1980er Jahren) zu realisieren.

Das Projekt verzögerte sich, als sich der Erstentwurf für Rollstuhlfahrer als mutmaßlich ungeeignet erwies -  körperlich beeinträchtigte Patrioten wären womöglich  in die Spree gerollt. Angesichts solcher Bedenken bemühte sich der Künstler und/oder das Künstlerkollektiv um eine statische Nachbesserung, denkbarerweise zusätzlich mit Geländer oder Fangnetz. Sodann sorgten sich Tierschützer und sonstige Gegner der Einheitsschaukel um die im freigelegten Sockel des einstigen Denkmals für den Kaiser wider Willen Wilhelm I.  heimisch gewordenen Fledermäuse. In der letzten Woche befasste sich der Haushaltsausschuss des Bundestages mit dem projektierten Geschichtskunstobjekt. Dessen Errichtung hätte sich nach jüngsten Berechnungen von ca. 10 Millionen € auf 15 Millionen verteuert. Derlei Ausgaben erschienen den Hütern der Finanzen der Republik im Zeichen der aufgeschobenen Eurokrise als  unzumutbar.

Fazit: Im Gehäuse der (post-)deutschen Kunst ist für die Darstellung glücklicher Menschen - für einen Moment historischen Glücks - kein Platz. Zum Glück blieb uns wenigstens die Schaukel erspart. 




Mittwoch, 6. April 2016

Durch Einfalt zur Vielfalt

I.
In längst vergangenen Gymnasialzeiten gehörte Johann Joachim Winckelmanns Diktum  "edle Einfalt,  stille Größe" zum Standardrepertoire des Philologen und/oder Deutschlehrers zur Abfertigung von Schüleraufsätzen, die sich anstelle der geforderten, ins Dialektische zielenden "Erörterung" mit einer simplen These und entsprechend schlichten, wiederholsamen Argumenten begnügten. Ein derart  ungnädiger Pauker hätte auch auf die Winckelmanns Inspiration beflügelnde - von übler Schlangenvielfalt umzüngelte - Figur des Laokoon verweisen können, dessen Warnungen vor dem Troja bereichernden Danaergeschenk von der rachsüchtigen Athene abgewürgt wurden. Er hätte auch sagen können, dass eine schrille These nicht dadurch besser wird, wenn sie mit dem Holzhammer vorgetragen wird.

II.
Derlei aus dem  deutsch-abendländischen Bildungsfundus geschöpfte Erinnerungen drängten sich am 1. April (!) bei der Lektüre der FAZ-Rubrik "Fremde Federn"  (S.8) auf. Ich gestehe eine politische Bildungslücke:  Der Name des Autors Michael Roth ("Der Autor ist Mitglied der SPD und Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt") war mir bis dato nicht bekannt. In besagter Rubrik unternimmt Herr Roth (oder dessen mit Pressekram beauftragter Referent) die Erörterung der Fragestellung "Multikulti oder Wahnwitz der Gleichförmigkeit"?  In der Frage liegt bereits die demokratische Antwort: Wer am Segen der Vielfalt zweifelt, gehört zu den Kindern des Wahnwitzes. Im Aufsatz von Herrn Roth findet sich indes - aus karrierebedingter geistiger Vorsicht? - keinerlei kritischer Verweis auf seine Kabinettschefin Angela Merkel, die vor ein paar Jahren noch deklarierte: "Multikulti ist gescheitert."

Der Aufsatz über den "Wahnwitz der Gleichförmigkeit" beginnt mit düsterem Lamento: "Europa droht sich zu verlieren, wenn es nicht mehr weiß, was es im Kern ausmacht." Gewiß doch, den Kern einer europäischen Gesellschaft bilden die Werte, die Europa zusammenhalten. [Rote Randbemerkung des Korrektors: "Welche ´Werte´ gelten im Lande des EU-Aspiranten Albanien, welche im kleinalbanischen Protektorat Kosovo, welche im Euro- und Flüchtlingskrisenland Griechenland? Welche Werte hat Poroschenko in Panama angelegt? Gelten die alten neuen Werte in der Ukraine auch nach dem derzeit (Mittwoch, 06.04.2016) noch ungewissen Ausgang der Volksabstimmung in den Niederlanden über das EU-Assoziierungsabkommen mit Kiew?].

Weiter im Text: Die Werte sind laut Roth in den EU-Verträgen eindeutig fixiert: "Toleranz, Pluralismus und Nichtdiskriminierung". Ja, wenn´s so in den Verträgen steht, ist Zweifel an den Werten unzulässig. Der wertebewußte Autor hätte sein Argument jedoch korrekt differenzieren sollen: Keine Toleranz für die Intoleranten! Das gilt für alle, die unter Verdacht fallen, d.h. die renitenten Osteuropäer und insbesondere für Viktor Orbán, der soeben von Altkanzler Helmut Kohl, Europäer von Jugend auf und Protagonist der in Maastricht begründeten EU, eingeladen wurde. Frage: Um sich etwa von Kohl über die neuen EU-Werte belehren zu lassen?

Der Autor affirmiert seine These: "Die EU ist nun einmal (sic!) mehr als nur die Summe von 28 Mitgliedstaaten. Sie ist ein Wert an sich, sie bindet Länder und deren Völker." [Rote Randbemerkungen: "Reine Behauptung! Weiß Verf. nicht, dass ´Völker´ ein blumiger Begriff  ist?"] Immerhin, der Schlenker wird vom Verf. sogleich korrigiert: "Gesellschaften, die sich auf einem homogenen Verständnis gründen, sind dagegen nur vorgestrig, sie widersprechen auch dem Geist der Verträge." [Rote Ringellinie (Stil!), Randbemerkung: "Unfundierte Affirmation!"]

Der Verf. fährt mit einem Definitionsversuch fort: "Vielleicht haben wir [?1? Wer ist "wir"?]  nicht deutlich genug klargemacht, dass es (sc. bei "Multikulti") eben nicht um Beliebigkeit, sondern um wertegebundene Verlässlichkeit geht. Multikulturalität, - ethnizität und -religiösität [gilt nicht für Salafisten, wohl aber für die entsprechenden Spenden der wertegebundenen Saudis, der Korrektor] brauchen einen  gemeinsamen Wertekanon." [Wh!])  Doch diese Werte fallen nicht einfach so vom Himmel, sie müssen vermittelt und erlernt werden - in Kindergärten und Schulen, in Jugendgruppen und Sportvereinen." [Randnotiz: "Wie wäre es mit der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht als Schule der postnationalen Multikulti-Nation?"] 

Mit Merkels Rede von gestern/vorgestern (s.o.) will sich Verf. gar nicht erst auseinandersetzen, denn "nicht das Konzept des Multikulturalismus ist gescheitert, sondern dessen bisherige Umsetzung. Keine Frage, bei der Integration müssen wir noch viel besser werden." [Rot am Rande: "Keine Frage!"]  Sodann  fällt Verf. das allfällig affirmative  Argument ein: "Schließlich ist unser Kontinent historisch schon immer ein Ort der Ein- und Zuwanderung gewesen." [Rot am Rande: "Historisch genauer! Wer? Wann? Wo? Wie?"]

"Ja, Gesellschaften, die sich offen zeigen für unterschiedliche Kulturen ["also mit unterschiedlichen Werten?"], Religionen und Ethnien, sind anstrengend. Aber sie sind eben auch  (sic!) bunt und bereichernd." [Marginalie: "Wer bereichert wen? Wer bereichert sich?"] Sodann, wie dereinst im Schulaufsatz geboten, setzt der Schlußpassus den  Höhepunkt im Traktat: "Wenn wir ["Nochmal: Wer ist ´wir´?"] diese Debatte jetzt nicht offensiv (!?!) führen, dann überlassen wir Europa zunehmend dem Wahnwitz der ethnischen, kulturellen und religiösen Gleichförmigkeit..."

III.
Vor derlei Macht des Arguments hätte selbst der eingangs erwähnte ungnädige Pauker resigniert. - Es bedarf eines beträchtlichen  Maßes an politischer - und intellektueller - Einfalt, um sich auf die dargestellte  Weise mit der durch die unverminderte, von den "Eliten" offenkundig geförderte Immigration aufgeworfenen Problemlage in West- und Mitteleuropa auseinanderzusetzen. Zur Erläuterung und Vertiefung der Problematik empfehle ich u.a. den Artikel von Martin Otto in der heutigen FAZ (v. 06.04.2106; Rubrik "Geisteswissenschaften, S. N 1) unter der Überschrift "Näheres siehe unter ´islamisches Recht´". Was "uns Europäer" (gemeint sind die Deutschen mit Geschichtstrauma) im besten Fall erwartet, faßt auf derselben Seite ein Aufsatz über die Verhältnisse in den USA zusammen: "Wer eine multikulturelle Gesellschaft will, muss auch mit den Schattenseiten leben: mehr Polizei, mehr Überwachung, weniger Solidarität, mehr Segregration und mehr Privatisierung." Sollte die Verf.  mit diesem letzten Begiff den Rückzug in die Privatheit gemeint haben, so wäre dies vermutlich genau das, was der politische Klasse in Brüssel und Berlin  für die EU-Staaten  vorschwebt: Der mündige Bürger hat den Mund zu halten.



Dienstag, 5. April 2016

Broders Blick auf die neurotische Republik

Liebe Fangemeinde,

anstelle eines längst fälligen neuerlichen Kommentars zur (grün-)alldeutschen Merkelei empfehle ich die Reflexionen Henryk F. Broders über die entschwundenen Jahrzehnte der stets von Neurosen geplagten, aber trotz allem ehedem noch einigermaßen lebenstüchtigen Bundesrepublik. Broders Diagnose der jüngsten Neurose ist bestechend. Leider verfügt er nicht über die richtigen Mittel zur Therapie, i.e. die Machtinstrumente der classe politica.
http://www.welt.de/debatte/kommentare/article154026217/Suspekter-Tanz-auf-dem-moralischen-Hochseil.html