I.
Sankt Petrus meint es gut mit den multikolorierten Revolutionären (und -innen) Berlins zum diesjährigen 1. Mai. Zur Erläuterung für jüngere, von historischem Grundwissen unbelastete Bundes- und Neubürger ein paar Notizen zur Bedeutung des Tages:
1) Es handelt sich um den im Juli 1889 zu Paris von der ebendort gegründeten II.Internationalen Arbeiterassoziation - sie erlebte in den Augusttagen 1914 ihr historisches Fiasko - proklamierten Gedenk- und Protesttag a) zur Erinnerung an die Opfer des am 1.Mai 1886 - nach einer Bombenexplosion - blutig geendeten Streiks von hauptsächlich deutschen Arbeitern auf dem Chicagoer Heumarkt. Vier der acht als Anarchisten des Bombenanschlags beschuldigten und zum Tode verurteilten Arbeiter wurden gehängt. b) zur allgemeinen Durchsetzung des von den vergebens streikenden Einwanderern geforderten 8-Stunden-Tages.
Ungeachtet aller in der Arbeiterbewegung gepflegten Erinnerung an das "Haymarket Massacre" kam der 1. Mai in den USA, kapitalistischer Hauptfeind aller Alten und Neuen Linken, historisch nicht zur Geltung. Stattdessen beschloss der US-Kongress - nach entsprechenden Vorläufern in einigen Bundesstaaten - anno 1894, den ersten Montag im September jeden Jahres als arbeitsfeien nationalen Labor Day zu feiern.
Über Jahre hin wurden im Deutschen Reich die zum 1. Mai ausgerufenen Streiks und Kundgebungen (in dt. Neusprech "Demos") von den Behörden unterdrückt bzw. niedergeknüppelt. In den Jahren Weimars kam es an den Tagen des "Blutmai" 1929 - nach einem Demonstrationsverbot des sozialdemokratischen Polizeipräsidenten Zörgiebel - zu blutigen Zusammenstößen zwischen "roten" Arbeitern und der Berliner Polizei. 33 Menschen verloren ihr Leben. Fortan gehörte der Proletariertod durch "Zörgiebels Polizei" zur Martyrologie und zum Liedgut der KPD.
Zum "Tag der deutschen Arbeit" erstmals zum arbeitsfreien Feiertag erhoben und in der Reichshauptstadt auf dem Tempelhofer Feld zelebriert wurde das aus vorindustrieller Tradition stammende Frühlingsfest von den Nazis am 1. Mai 1933. Mit Bratwurst und Freibier gewannen die Nationalsozialisten so manchen deutschen Proletarier für ihre Idee von Volksgemeinschaft im Dritten Reich.
In der DDR waren die "machtvollen" Demonstrationen zum 1. Mai Pflichtveranstaltungen für die Werktätigen sowie für die - als Avantgarde der Arbeiterklasse zugerechnete - Intelligenz. Nicht wenige verdrückten sich aus den Demonstrationszügen zum frühest möglichen Zeitpunkt, um sich an den Wurst- und Bierständen bzw. in den wenigen Kneipen zu verlustieren.
2) Schon in Jahren vor dem Mauerfall gehörte Randale am Vorabend und Abend des 1.Mai zur Westberliner Folklore. Seit Jahren begeht die dem Arbeitsleben meist fernstehende "linke Szene", verstärkt durch multikulturelle - und/oder nationalkulturell imprägnierte - Kampfgenossen, zu Berlin - mutmaßlich auch in Hamburg, Leipzig und anderswo -, stellvertretend für die im Zuge der Automatisierung, Digitalisierung und Globalisierung weithin soziologisch abhanden gekommene, klassenbewusste Arbeiterklasse, den 1. Mai nach strengem Ritual: Marschkolonnen mit Transparenten und Parolen gegen den allenthalben anwachsenden Faschismus, vorneweg (auch mittendrin oder als Nachhut) der Schwarze Block, von Trommeln begleitete, von globaler Erwärmung und Bierkonsum gesteigerte antikapitalistische Kampfeswut, die Steine oder Bierflaschen gegen Schaufenster oder - trotz online-banking noch bestehende - Bankfilialen fliegen läßt, sodann Böller (made in China), brennende Autoreifen und Mülltonnen, und zum Finale ein Steinhagel auf die mit Schutzschilden ausgestatteten, aus anderen Bundesländern herangekarrten Polizisten (ohne P- innen).
Die Kampfszenen vom "revolutionären 1. Mai" in der "Tagesschau" bereiten manchen von der Idee des Pluralismus überzeugten Demokraten (und -innen) einiges Unbehagen. Ähnliches gilt bei Wahrnehmung des geeordneten Aufmarsches frommer Neubürger unter Führung eines migrantischen Lehramtskandidaten in Hamburg, derfür das Kalifat als "Lösung" aller Probleme in der bunten Republik kämpft.
3) Am Tag danach, 2. Mai, diesmal im Kalender kein "Brückentag", verkünden die Sprecher/die Sprecherinnen der Polizei und des Senats die Bilanz: "Es gab einige (oder zahlreiche) Festnahmen mit Feststellung der Personalien, gegenüber dem Vorjahr eine höhere - oder niedrigere - Zahl von verletzten Polizisten und Demonstranten, die Schäden liegen über oder unter einer Million €. Die Stadtreingung ist dabei, die Kampfspuren zu beseitigen."
Wie eingangs gesagt: Petrus meint es gut in diesem Jahr mit den Berliner Revolutionären. Auch die Kneipenbesitzer und die Inhaber von Bierständen dürfen sich auf guten Umsatz freuen.
II.
Mit der Verszeile "April is the cruellest month"
eröffnete ich in der zweiten Aprilwoche einen Text auf meinem Blog.
(
https://herbert-ammon.blogspot.com/2024/04/lesefruchte-und-leseempfehlungen.html).
Tatsächlich mochte der nachfolgende, keineswegs ungewöhnliche Wintereinbruch
Klimaskeptikern (
a.k.a. „Klimaleugner) für ein paar Tage
ein schwaches Argument liefern. Doch ging es T.S. Eliot in the „The
Waste Land“ nicht um die unberechenbare Natur, sondern um
Selbstreflexion und den geistigen Zustand des Abendlands nach dem
Großen Krieg.
Mehr als hundert Jahre nach seiner Entstehung erweist sich das
Poem in seinen so düsteren wie bitter-ironischen Passagen im Blick
auf die gründeutschen Lande, auf EU-Europa und die Außenwelt als
zeitlos aktuell.
Als erstes fällt uns, die schon länger hier leben, das
Erscheinungsbild deutscher Großstädte ins Auge: Vermüllte
Bürgersteige und Bushaltestellen, „Grafitti“, sprich
Schmierereien, allerorten, an frisch getünchten Fassaden, an den
Rollläden noch bestehender oder leer stehender Geschäfte, an
U-Bahn-Waggons, an Straßenschildern, Briefkästen usw.,
dazu monokulturell verhüllte Frauengestalten inmittten des
multikulturellen Gewoges auf Straßen und Plätzen und eine
wachsende Zahl von Obdachlosen in schmuddeligen Schlafsäcken unter Brücken und
Unterführungen.
Als nächstes kommen andere Phänomene des politischen Alltags in den Sinn: die Statistiken zu Wirtschaft und Finanzen,
zu Demographie und Sicherheit. Mit einem auf knapp über null
Prozent geschrumpftem BIP befindet sich Deutschland am unteren Ende
der Skala in Europa. Die Infrastruktur (Straßen, Brücken,
Schienennetz) liegt darnieder, das flache Land leidet an fehlender
Verkehrsanbindung, Ärztemangel u. dergl. Die Staatsschulden liegen
mit 2,6 Billionen Euro exorbitant hoch, die deutschen Privatvermögen
hingegen niedriger als anderswo. Das Rentensystem ist auf Dauer
nicht mehr finanzierbar, die Geburtenquote ist 2023 mit 1,46 Kinder
pro gebärfähiger Frau erneut gesunken (erhellend dazu die Cora
Stephan:
https://www.achgut.com/artikel/babys_sind_der_goldstandard_des_menschenhandels),
während die registrierte Zahl der Abtreibungen anno 2023 mit 106
000 gegenüber dem Vorjahr erneut gestiegen ist. Die - um
petty
crimes bereinigte - Kriminalitätsrate ist seit 2015 zwar
gesunken, doch ist eine "neue Gewaltdynamik" (FAZ v.
08.04.2024, S.1) zu verzeichnen, die - um politisch unerwünschte
Nachfragen zu vermeiden - statistisch nicht weiter
aufgeschlüsselt wird.
Ungewissheit überlagert die Große Politik. Wie es im Gaza-Krieg
– und danach - weitergehen soll, weiß Israels Ministerpräsident
Netanjahu womöglich selbst nicht. Ein Ende des Krieges in der
Ukraine ist nicht abzusehen. Besorgnis bereitet die schwindende
Widerstandskraft der Ukraine, während Putin eine Sommeroffensive
vorbereitet. Damit schwinden von Tag zu Tag Aussichten auf einen
Waffenstillstand, der von realen oder vermeintlichen
„Putinverstehern“ beschworen wird.
Mehr noch: Wir („Wir“ - der peinlich kollektivistisch ,
„rechts“ klingende - Titel des Buches unseres
Bundespräsidenten), wir, die friedensgewohnten Deutschen, werden
von dem - laut Umfragen - populären Verteidigungsminister Pistorius
ermahnt, wieder „kriegstüchtig“ zu werden. Ob „wir“ -
gemeint ist die Bundesregierung unter Kanzler Scholz – bereit sind,
die von Selenskyj geforderten „Taurus“-Raketen zu liefern, um
Putins Sieg zu verhindern, hängt nicht von „uns“, sondern vom
politisch-strategischen Kalkül der westlichen Führungsmacht USA und
unserer Nato—Verbündeten ab. Immerhin gibt es auch in und
außerhalb der Ampelregierung hinreichend Befürworter einer –
naturgemäß als defensiv deklarierten - Eskalation der
Kriegstechniken zum Schutz der Ukraine. Wie reagiert der Westen, wenn
sich der militärische Zusammenbruch der – in Teilen kriegsmüden -
Ukraine abzeichnen sollte?
Kurz: Zu Frohsinn besteht in diesen schönen Frühlingstagen wenig
Anlass. Was den Missmut befördert, sind die wie stets auf
Kritiklosigkeit des Wahlvolks zielenden Plakate der Parteien zur
Europa-Wahl im Juni. Die Banalität der Slogans (SPD: „Mitte, Maß
und Frieden“; "In Stadt und Land - und Wir-Gefühl" (sic!) Grüne: „Klima schützen, Wirtschaft stärken“;
CDU: „Europa braucht dich“, FDP mit Konterfei von
Strack-Zimmermann: „Europas Rückgrat“ usw.) soll über die
Fehlentscheidungen, Unterlassungen und Anmaßungen deutscher Politik
seit der Ära Merkel – Nährstoff der „in
Teilen rechtsextremen“ AfD - hinwegtäuschen. In zentralen Fragen –
obenan Migration, Energiegewinnung, innere und äußere Sicherheit –
hat die etablierte Politik seit langem an Glaubwürdigkeit und
Überzeugungskraft verloren.
Last but not least geht es um den Kern der immer deutlicher
werdenden Misere. Ungeachtet des historischen Glücksfalls der
Wiedervereinigung fehlt es der deutschen
res publica – entgegen
aller Betonuung „unserer Werte“ - an innerer Substanz.
Sinnfällig wurde die geistige Leere der Bundesrepublik beim jüngsten
Staatsbesuch des Bundespräsidenten, als er dem türkischen
Präsidenten Erdogan als Gastgeschenk einen gefrorenen Dönerspieß
überreichte. Dass sich hierzulande niemand über diese peinliche
Geste mokierte, bestätigt nur das Bild – das beschädigte
Selbstbild - eines waste land.
So führt jegliche Betrachtung der deutschen Gegenwart auf den
von Deutschen inszenierten „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) im
Zweiten Weltkrieg zurück, der wiederum – von seinen tiefliegenden
ideologischen Wurzeln abgesehen – aus der europäischen
Urkatastophe des Ersten Weltkriegs hervorging. Im Zeichen der
jüngsten ideologischen Mode der decolonization,
die – bittere Ironie
– de facto in der radikalen Kriminalisierung der neuzeitlichen
Geschichte Europas die geschichtliche Einzigartigkeit der
Nazi-Verbrechen relativiert, ist nicht zu hoffen, dass es noch zu
einer Regeneration des „öden Landes“ in der Mitte Europas
kommen könnte. In den Bologna-Universitäten Westeuropas und in den
deutschen Feuilletons vertrocknet alles, was nicht lila-grün-wokem
Saatgut entsprungen ist.
Siehe auch: https://www.achgut.com/artikel/am_ende_des_deutschen_april