Montag, 8. April 2024

Lesefrüchte und Leseempfehlungen im April

"April is the cruellest month" heißt es bei Chaucer und T.S. Eliot. Zumindest für die Natur trifft das Dichterwort im gründeutschen Lande in diesenTagen nicht zu. Denn erfreulich anzusehen ist das zarte Grün der Parks und die Blütenpracht in den Obstgärten. 

Wenig Freude hingegen bereitet der morgendliche Streifgang durch Zeitung und Internet. Ein Ende des Gaza-Krieges ist so wenig abzusehen wie ein Ende des Ukraine-Krieges. "Einfrieren", Verhandlungen mit Aggressor Putin oder mehr Geld und "deutsche" Waffen (und Ausbilder), damit Putin "nicht gewinnen" darf, wenn schon ein Sieg der Ukraine nicht mehr in Aussicht steht? Trifft die in den Medien vermittelte Stimmungslage in den USA zu, so steht im November 2024 wieder Trump vor der Tür des Weißen Hauses. Dann wird es für die "Europäer" - gemeint sind "wir Deutsche" - richtig teuer. Nur weiß man nichts Genaues, etwa wem die angeblich wahlentscheidenden Frauen in den Suburbs der "swing states" den Vorzug geben - dem senilen Biden oder dem noch rüstigen Macho Trump? - oder ob die Demokraten die von ihnen abgefallenen weißen Arbeiter zurückgewinnen können. 

Noch leben wir nicht in dem T.S. Eliot vor hundert Jahren beschriebenen "öden Land". Gleichwohl: Die Statistiken zu Wirtschaft und Finanzen, zu Demographie und Sicherheit sehen nicht rosig aus. In Europa befindet sich Deutschland mit dem schrumpfenden BIP am unteren Ende, die Infrastruktur (Straßen, Brücken, Schienennetz) liegt darnieder, die Staatsschulden liegen mit 2,6 Billionen Euro exorbitant hoch, die deutschen Privatvermögen niedriger als anderswo, das Rentensystem ist auf Dauer nicht mehr finanzierbar, die Geburtenquote ist 2023 mit 1,46 Kinder pro gebärfähiger Frau erneut gesunken (zum Thema "Kind als Luxusgegenstand"  siehe die Rezension von Cora Stephan: https://www.achgut.com/artikel/babys_sind_der_goldstandard_des_menschenhandels), die - um petty crimes bereinigte - Kriminalitätsrate ist seit 2015 zwar gesunken, doch ist eine "neue Gewaltdynamik" (FAZ v. 08.04.2024, S.1) zu verzeichnen, die - um politisch unerwünschte Nachfragen zu vermeiden -  statistisch lieber nicht weiter aufgeschlüsselt wird. 

Aufgehellt wird die Mißstimmung eines lesenden Bürgers durch die süßsauren Kommentare in den "Leitmedien" zum 80. Geburtstag von Gerhard Schröder, der zu Zeiten seiner Regierungsjahre  nicht nur durch flotte Sprüche für  gute Laune sorgte. Ich empfehle Roland Tichys Laudatio auf  den Jubilar Schröder auf "Tichys Einblick". Daraus folgendes Zitat: "Gegen den Apparat der SPD von gestern und der sektiererhaft triumphierenden Grünen hat Schröder Deutschland viele gute Jahre gesichert, sich selbst auch. Was wäre geschehen, wenn er [2005] ein paar Wählerstimmen mehr gewonnen hätte? Merkel wäre Deutschland erspart geblieben – schon das eine vertane historische Chance." https://www.tichyseinblick.de/meinungen/gerhard-schroeder-80-geburtstag/

Meinem Blog-Publikum empfehle ich zudem -  nicht zu Erheiterung - meinen jetzt auch auf "Globkult" https://www.globkult.de/politik/deutschland/2357-der-kampf-um-begriffe-und-die-verfassung erschienenen "Achse-des-Guten"-Aufsatz zum Umgang Haldenwangs und anderer Verfassungsschützer mit dem im Grundgesetz fixierten Begriff "deutsches Volk". Man soll sich ja nicht selbst zitieren, aber trotzdem: "Der von links-progressiver Seite propagierte, politisch beliebige Volksbegriff ist nicht nur ahistorisch, sondern zielt evident am Selbstbewusstsein der ›neuen Deutschen‹ vorbei. Die Veränderung der Gesellschaft im Zeichen von ›Multikultur‹ und/oder unter den – in sich widersprüchlichen Leitbildern von ›Vielfalt‹ hier und ›Identität‹ dort (diversity vs. identity) – führt entgegen aller Intention dazu, dass in der ›demokratisch‹ deklarierten politischen Sozialisation der NS-Bezug an Relevanz verliert. Sichtbar und lautstark hörbar wurde diese Negativkonsequenz für das am Gegenbild des Nazi-Regimes orientierte nationale – zugleich postnationale – Selbstbild der Bundesrepublik in den antiisraelischen – und antisemitischen – Parolen (›Free Palestine From German Guilt‹) auf den Demonstrationen im Gefolge des Gaza-Krieges."

Mittwoch, 3. April 2024

Wer schützt die deutsche Sprache vor dem Verfassungsschützer?

Dass "in der Nachkriegsgeschichte die Demokratie in unserem Land selten so in Gefahr [war] wie heute", verkündet Thomas Haldenwang unter der Rubrik "Fremde Federn" in der FAZ vom 2. April 2024, S. 10. Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) gehört unter den politischen Beamten der Bundesrepublik zu einer jüngeren Generation, für die die höchst reale Bedrohung der Nachkriegsdemokratie durch den Terrorismus der RAF offenbar nur noch eine ferne historische Episode darstellt. 

Namen von Personen und Gruppen, von denen die heutigen Gefahren für "die Demokratie in unserem Land" ausgehen, nennt der Autor nicht. Stattdessen konstatiert er, dass "die Zahl der Extremisten und das Extremismuspotential seit Jahren [steigen]. Digitalisierung  und Virtualisierung helfen einschlägigen Organisationen und Akteuren bei der Verbereitung ihrer gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Ideologien und von hasserfüllter Hetze." Im folgenden wird er konkreter: "Die zu Jahresbeginn bekannt gewordenen Vernetzungstreffen zwischen Rechtsextremisten  und Teilen der gesellschaftlichen Mitte (sic!) belegen Entgrenzungsprozesse, vor denen das BfV zuvor schon gewarnt hatte." 

Gemeint ist das Potsdamer "Geheimtreffen" im November 2023 von AfDlern und Mitgliedern der - damals noch innerhalb der CDU existierenden - "Werteunion".  In all der Aufregung über den dort von demokratisch wachsamen Investigativjournalisten mit- oder abgehörten Plan zur "Massendeportation" von Staatsangehörigen nichtdeutscher Herkunft wurde nie gefragt, warum die verfassungsfeindliche Zusammenkunft erst ca. sechs Wochen nach dem eigentlichen Treffen von den  Journalisten des staatlich geförderten Portals "Correctiv" ans Licht gebracht wurde.

Haldenwangs Artikel ist übertitelt "Meinungsfreiheit ist kein Freibrief". Darin proklamiert er, "um unmissverständlich klarzustellen: In Deutschland herrscht Meinungsfreiheit - und das ist gut so!" Die Meinungsfreheit im Grundgesetz schütze "selbst anstößige, absurde und radikale Meinungen". "Meinungsfreiheit und Diskurs" seien  "nämlich das, was eine Demokratie von einer Autokratie oder Diktatur mit ihrem staatlich vorgegebenen propagandistischen Einheitsbrei unterscheidet." Dass auch im  - vor allem im öffentlich-rechtlichen - Medienbetrieb der Bundesrepublik meist nur politischer Einheitsbrei angeboten wird, scheint dem Geschmackssinn - und dem Sprachstil - des obersten Verfassungsschützers besser zu entsprechen. 

Laut Art. 5(2) GG finden die Freiheitsrechte (Meinungs- und Pressefreiheit, Freiheit der Kunst und der Wissenschaft) "ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre." Kraft seines Amtes versteht sich Haldenwang zu einer eigenständigen Auslegung des Verfassungsartikels berufen: Meinungsäußerungen können "auch unterhalb ihrer strafrechtlichen Grenzen und unbeschadet ihrer Legalität verfassungsrechtlich von Belang sein." Aufgabe seines Amtes sei, in Meinungsäußerungen "tatsächliche Anhaltspunkte" von "verfassungsschutzrechtlicher Relevanz" aufzuspüren, unabhängig davon, "ob diese strafbar oder illegal sind."

Was für Anhaltspunkte er im Auge hat, erläutert Haldewang in einem Endlossatz:  "Wenn beispielsweise Bestandteile unserer freiheitlichen Grundordnung attackiert werden, zum Beispiel die Menschenwürde von Angehörigen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen oder politischer Akteure verletzt wird, wenn zulässige Kritik und demokratischer Protest in Teilen umschlägt, eskaliert und zu aggressiver, systematischer Delegitimierung staatlichen Handelns wird bis hin zu Gewaltaufrufen, wenn an sich legitime  Kritik und Meinungen in extremistische Agitation umschlagen, die die Grundfesten unserer demokratischen Ordnung erschüttern sollen und so den Boden für unfriedliche und gewalttätige Aktivitäten bereiten können, können solche Äußerungen Belege für gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen darstellen." 

Spätestens an dieser Stelle des Haldenwang-Aufsatzes würde jeder Deutschlehrer wutentbrannt den Rotstift ansetzen und ihn mit zig Ausrufe- und Fragezeichen garnieren. Haldenwangs zu Papier gebrachter Kreuzzug gegen reale und imaginierte Verfassungsfeinde scheitert bereits an der Syntax, nicht allein am Stil.   Dass bei Haldenwangs Kampf gegen "systematische Delegitimierung staatlichen Handelns" demokratische Grundprinzipien auf der Strecke bleiben, hat unlängst Henryk Broder auf der "Achse" verdeutlicht.https://www.achgut.com/artikel/kein_freibrief_von_haldenwang. (Siehe auch:https://www.tichyseinblick.de/daili-es-sentials/tichys-einblick-04-2024-angriff-auf-die-verfassung) Für mich geht es um eine ästhetische - im Hinblick auf den Gender-Unsinn auch politische - Grundsatzfrage: Wer schützt die deutsche Sprache vor dem Verfassungsschützer Haldenwang?