Dienstag, 28. Oktober 2014

Stabilisierte Begriffskoordinaten

In einer hochkomplexen Welt, in der laut dem bundesrepublikanischen Staatsphilosophen J.H. seit längerem eine "neue Unübersichtlichkeit" herrscht, sich geistig zurechtzufinden, bedarf einiger Anstrengung. Um einfache Gemüter intellektuell nicht zu überfordern, um uns im tautologischen Raum der "globalisierten Welt" die Orientierung zu erleichtern, stellt der herrschende Diskurs ein schlichtes Begriffspaar zur Verfügung: links - rechts.

Dass bei mancherlei  Phänomenen -warum sind die radikalsten Nationalisten (n.b.: Nationalismus = rechts) in Katalonien ausgerechnet  bei der Esquerra Republicana zu finden ? -  das begriffliche Scheidemesser kaum taugt, die Wirklichkeit klar zu durchtrennen,  tut dem Gebrauch der einfachen Formel keinen Abbruch. Wer sich im Besitz der Wahrheit und der höheren Moral weiß, braucht sich um Logik nicht zu scheren. Was kümmert es die "Linke" - gemeint ist die Schar um Ulla Jelpke, M. Riexinger e tutti quanti -, wenn sie, die Protagonisten (sc.-Innen)  atheistischer Aufklärung, des radikal "linkesten" europäischen Traditionsstranges, sich um die Religion, das Opium des Volkes (Marx: gen. poss.; Lenin: gen. obj.) besorgte Schutzherren (sc. -Herrinnen) des Islam, selbst in seinen "rechtesten" Spielarten des "Islamismus", empfehlen? Zugleich versteht sich die "Linke" als Sachwalterin der linksnationalistischen PKK. Allein Allah mag an derlei  begriffsstarker Ideologieakrobatik Gefallen finden.

Zuweilen gerät das Begriffsgerüst angesichts der Wirklichkeit für einen Augenblick ins Wanken, so beim Aufmarsch der Hooligans - es handelt sich um gewöhnlich verfeindete, prügelstarke Fangemeinden in der Nord- oder Südkurve unserer säkularen Fußballstadien - unter dem abendländischer Werbesprache angelehnten Kampfnamen HoGeSa (= Hooligans gegen Salafismus) im heiligen Cöln. (In Kölle residierte vor Jahren schon mal ein "Kalif von Köln", der - damals noch - nach langem Hin und Herr aus der Domstadt und der Bundesrepublik ausgewiesen wurde.) Ehe die auf 4800 Mann (!) bezifferten Hooligans, versammelt  aus ganz Deutschland und verstärkt durch namentlich bekannte Neonazis (u.a. "SS-Siggi"), gegen die Polizei sowie gegen die in sicherer Distanz versammelte, von der "Linken" und "Verdi" aufgerufenen Truppe der "Antifa" in Aktion trat, hatten sich den Hooligan-"Antisalafisten" auch eine Gruppe Kurden beigesellt. Von den durch den drohenden Fall von Kobane gegen das IS-Salafisten-Kalifat mobilisierten Kurden war in der Berichterstattung indes kaum irgendwo die Rede.

Von Interesse scheint daher folgender, unter dem direkten Eindruck der Ereignisse entstandener  online- Bericht in  Süddeutsche.de v. 26. Oktober 2014, 17.11 h, der nachfolgend auszugsweise zitiert sei:

"Wir stehen nicht hier, weil wir Sympathien für die Frauen- und Demokratiefeindlichkeit von Salafisten hätten", sagt Heidrun Abel von Verdi. Man sei hier, um gegen die "Rattenfänger" von der anderen Seite zu demonstrieren, die gegen alle Andersdenkenden und Ausländer seien.

Auf der anderen Seite stehen mitten unter den Hooligans auch Kurden mit ihrer Flagge, die sie fröhlich schwenken. Zumindest zu Beginn, vor den Krawallen. Es ist eine seltsame Gemengelage in Köln, weil Hooligans auf einmal so tun, als würden sie das Abendland verteidigen. "Hooligans gegen Salafisten" (HoGeSa) nennt sich die Gruppierung, die zu der Kundgebung aufgerufen hat.
Die meisten Hooligans sind bisher nicht durch politische Beiträge aufgefallen. Die Szene definierte Freund und Feind streng entlang der Anhängerschaft zu einem Fußballverein. Das hat sich mit dem Feindbild des Salafismus nun geändert. Nach Köln kamen Anhänger aus Dortmund und Schalke. Ein Leitspruch der HoGeSa ist: "Unsere Fahne, unser Land, maximaler Widerstand." Es stehen Mitglieder der rechtsextremen Rockband Kategorie C auf der Bühne, die schon mehrmals Auftrittsverbot erhielten. Es ist eine Art Unplugged-Konzert, "Hooligans gegen Salafisten, sonst wird Deutschland ein Massengrab", heißt es in einem Lied. Dazu wird viel Dosenbier getrunken.
Die Hooligans sagen selbst oft, sie würden Distanz zu rechten Parteien und Organisationen wahren. In Köln wurde die Demo am Sonntag ursprünglich aber von Dominik Roeseler angemeldet, einem Mitglied der rechtsextremen Partei Pro-NRW. Später hat er sich von der Veranstaltungsleitung zurückgezogen.
Am Sonntag sieht man aber auch viele Leute, die nicht sehr rechts aussehen, eher wie Autonome mit Palästinenser-Tüchern. Dazu Rocker und Kurden. Von einem klassischen Links-rechts-Schema könne nicht mehr die Rede sein, hatte die Polizei vorher gesagt. Eines war dann aber doch wie immer: Es hat sich keine neue Bewegung formiert in Köln, wie manche glaubten. Es waren rechte Hooligans, die Biersaufen und Prügeln als Werte sehen, die es zu verteidigen gilt."

Die Szenerie auf dem Kölner Bahnhofsplatz wird in dem Bericht sehr anschaulich. Auch scheint der Reporter angesichts der bunten Versammlung ("Leute, die nicht sehr rechts aussehen")  in seinem Begriffssystem vorübergehend unsicher geworden zu sein. Durch den Verweis  auf die "Werte" der "rechten Hooligans"  wurden die Koordinaten  wieder stabilisiert. Wohin aber gehörten die - nur anfangs? - mit ihrer Fahne inmitten der Hooligans fröhlich  präsenten Kurden?  






Samstag, 25. Oktober 2014

Neu im Kino: Homogene Vielfalt

Der Blogger empfiehlt dem Publikum (w/m/t/xyz) die Rubrik "Neu im Kino" in der  FAZ (nr. 246 v. 23. 10. 2014, S. 11). In den Kurzkommentaren zu den fünf "neuen" Filmen tritt die lebendige Vielfalt (diversity) unserer Gegenwartskultur in beeindruckender Homogenität  hervor. Sie können also bei der Auswahl für anspruchsvolle Freizeitgestaltung am Wochenende nichts falsch machen.

Mittwoch, 22. Oktober 2014

Verursacherprinzip für Nahost

Henry M. Broder ist ein Autor, der sich  die Freiheit nimmt, mit Ironie, meist  zugespitzt zu satirischer Schärfe, sich zu unbequemen Themen zu äußern wie im  Lande des hermetischen Konformismus  kaum jemand sonst. Mit Vorliebe macht er sich über die herrschende Hypermoral lustig.

In einem Essay (in: Die Welt v. 21.10.2014) unter dem Titel "Nicht jedes Elend ist unsere Schuld" über das durch das mörderische Chaos ("Bürgerkrieg") in Nahost verursachte Flüchtlingselend verzichtet er weithin auf den ironischen Gestus. Er nennt die Dinge, die sich anscheinend jeglicher Analyse, geschweige denn Lösung, entziehen, beim Namen: An die 10 Millionen Menschen befinden sich laut UNHCR im Raum Syrien, Irak, Jordanien, Libanon, Türkei auf der Flucht. Broder: "Es ist eine Jahrhundertkatastrophe, ein Völkermord."

Broder mokiert sich diesmal nicht, wenn er den Schauspieler Benno Fürmann  zitiert,  der nach Lampedusa reiste, um einer Aktion von Amnesty International "ein Gesicht" zu geben. Fürmann: "Als Deutsche und als Europäer sind wir in der Schuld." Broder widerlegt den Satz, indem er die - aus seiner Sicht wesentlichen - Ursachen des Horrors benennt. Schuld seien nicht die Europäer und deren kolonialistische Expansion, sondern der ewige, auf Gewalt gegründete Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten. Versagt hätten "wir" - die Europäer, die Nato, die USA, die Uno - allenfalls insofern, als sie das blutige Drama nach Ausbruch nicht unverzüglich durch militärische Intervention beendet hätten.

Es sei dahingestellt, ob damit das ganze Ursachengeflecht des Dramas erfaßt ist und ob eine Intervention -
etwa zugunsten der sog. FSA oder zugunsten der einen oder anderen Partei im Irak? - die Gewaltzustände in Nahost unter Kontrolle gebracht hätten. Recht hat Broder, wenn er den diversen islamischen Organisationen, von der Arabischen Liga bis zur Organisation der Islamischen Konferenzen (OIC) vorhält, nicht das mindeste zur Verhinderung oder Linderung der Katastrophen getan zu haben oder zu tun.  Ihr politischer Beitrag bestehe darin, auf "pompösen Konferenzen...zum Widerstand gegen die um sich greifende Islamophobie in Eruopa" aufzurufen.

Er hätte hinsichtlich der hunderte von  migrantischen und biodeutschen (taz-speak) Bundesbürgern, die zum Dschihad nach Nahost aufgebrochen sind - deutsche Politiker denken derzeit noch laut über "Ausreiseverbote" nach - hinzufügen sollen, dass der Nährboden - und die Finanzquelle - des derzeitigen Dschihadismus vornehmlich  im wahabitischen Saudi-Arabien zu finden ist. Er hätte auch erwähnen können, dass eine Debatte über das Verhältnis zur Gewalt in der islamischen Friedensbotschaft, wie sie vor Jahren noch der evangelische Bischof Wolfgang Huber sowie Papst Benedikt führen wollten, von wohlmeinend pseudoliberalen Universalisten abgewürgt wurde.

Broder plädiert - entgegen dem von der Meinungsindustrie  ins Normative erhobenen Faktischen  - für die Aufnahme und Integration der Flüchtingsmassen in der nahöstlichen Region, womöglich als "Zwischenlösung". Sodann schreibt er Sätze, die den Moral- und Diskursfürsten  in den Ohren dröhnen müssten: "Sie (die Flüchtlinge) allen Schwierigkeiten zum Trotz in Europa anzusiedeln, wäre nicht nur ein kulturell und klimatisch riskantes Vorhaben, das allein der boomenden Helferindustrie zugute käme."

Als Realitätsverweigerung  erklärt Broder die Idee von "Brüsseler Bürokraten wie Martin Schulz, der glaubt, das Problem durch eine ´Reform unserer Einwanderungsgesetze´ lösen zu können." Zum Schluß wiederholt er seine - leider auch vergebliche - Forderung, des Problems solle man sich dort annehmen, "wo es generiert wurde." Und er kehrt zu seinem bekannten Stil zurück: "Wer meint, das sei nicht geng, der möge sein Häuschen in Bogenhausen oder im Grunewald einer Flüchtlingsfamilie zur Verfügung stellen.Und garantieren, dass er sich die nächsten zehn Jahre um sie kümmern wird."




Mittwoch, 8. Oktober 2014

Zur Selbstbespiegelung eines russischen "Intelligent"

Als vor  Jahren in der FAZ in Fortsetzungen ein Roman über russische Zustände aus der Feder von Viktor Jerofejew erschien, kamen mir  bei der Lektüre  Zweifel an Intention und Verfahren des Autors. Jerofejew, selbst der Nomenklatura enstammend, machte sich daran, die in der eigenen, im engeren Kreis der  Macht angesiedelten Familie praktizierten kommunistisch-poststalinistischen Denk- und Verhaltensweisen zu ironisieren ("dekonstruieren"). Da dem Roman jeglicher Tiefgang - Reflektionen über die leidvolle Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert, über die zweifelhafte Rolle der von der Macht Privilegierten, nicht zuletzt über die eigene Rolle - fehlte, wurde mir die biographische Selbstbespiegelung bald langweilig.

Als ich  am 2. Oktober auf einen Artikel von Jerofejew unter dem Titel "Amnesie als Rettungsfallschirm" stieß, indem er  den  Opportunismus der Putin anhängenden Russen anprangerte, kam bei der Lektüre Ärger hoch: Hier redete   - gleichsam als nachgeborener radikaler "Westler" - ein Vertreter der russischen Intelligentsija  in überheblichem Ton von dem ihm fernen Volk. Von einer kritisch-abwägenden Analyse der russischen Zustände keine Spur...

Da man nicht an  jedem Tag und zu jeder Stunde in der Lage ist, zu jedem Thema seinem kritischen Impetus unverzüglich nachzugeben, zitiere ich nachfolgend den Leserbrief des GlobKult-Autors Arno Klönne in der heutigen FAZ (v. 8.10.2014, S.18):

"Den begabten [ein immerhin fragwürdiges Attribut; H.A.] russischen Romancier lässt die F.A.Z. mit einem Beitrag im Feuilleton zu Wort kommen, der offenbar den Anspruch enthält, historische und aktuelle Grundmuster der Politik Russlands zu beschreiben und zu erklären. Die russische "Volksseele", ein "Organismus", so der Autor, ist demnach von einem bösartigen "Virus" befallen - Jerofejew hätte sich ein anderes, das heilsame europäische, Russland gewünscht. Und so ist weiteres russisches "Monstertum" zu befürchten. Bemerkenswert ist an dem Artikel, welcher ja nicht dem Genre Roman zugeordnet ist, der entschlossene Verzicht auf eine empirisch-analytische Betrachtung politischer Verhältnisse, auch deren mentaler Seiten. Jerofejew denkt und schreibt in einer Manier, die methodisch der des russischen Publizisten Alexander Dugin entspricht, bei gegensätzlichen politischen Standpunkten. Von solcherart Politikberatung, aus welcher weltanschaulichen Richtung auch immer, ist abzuraten. Sie hatte stets fatale Folgen."

Montag, 6. Oktober 2014

Ein weiterer Beitrag zum Revisionismus im Gedenkjahr

I.
Im Zuge der von Christopher Clarks Bestseller "Die Schlafwandler"  (The Sleepwalkers, 2011) ausgelösten Revisionismus-Debatte zu den Ursachen des I. Weltkrieges ist - zum Ärger der letzten Vertreter des deutschen "Sonderwegs" - von den lange vorherrschenden Thesen Fritz Fischers vom deutschen "Griff nach der Weltmacht" kaum mehr  übriggeblieben als das sträfliche Versagen der Reichsführung in der von allen Seiten -  Österreich, Frankreich, Rußland, Serbien - zugespitzten Julikrise. Die Debatte hat starken Widerhall außerhalb Deutschlands gefunden, vor allem in England und in den  USA, wo  in den 1960er Jahren Fischer bei seinen akademischen Auftritten ein Publikum vorfand, das teilweise bereits durch ältere Werke - namentlich die Bücher des im II. Weltkrieg und danach als Deutschlandexperten fungierenden amerikanischen Historikers Bernadotte E. Schmitt (The Coming of the War 1914, 2 Bde., 1930) und des italienischen Journalisten Luigi Albertini  (It. Orig.1942-43, engl. Origins of the War of 1914, 3 Bde.1953) auf die deutsche Kriegsschuld eingestimmt war.

Außer Clark und  Herfried Münkler (Der Goße Krieg. die Welt 1914-1918, 2013)  haben der Amerikaner Sean McMeekin (The Russian Origins of the First World War, 2011; July 1914. Countdown to War, 2013) sowie die Briten Gerry Docherty und Jim MacGregor (Hidden History. The Secret Origins of the First World War, 2013) das von den  Fischer-Thesen dominierte Geschichtsbild zum Einsturz gebracht.

Auch die englische Politik anno 1914 geriet  spätestens durch Clarks Buch ins Licht der Revision. Seit langem, d.h. seit 1906, existierte in London eine aus Militärs und Politikern zusammengesetzte Führungsgruppe, die - im Gegensatz zu der bis zum Abschluß der Entente Cordiale 1904 distanziert wohlwollend pro-deutschen Linie - den Aufstieg des Deutschen Reiches mit Ablehnung verfolgte und im militärischen Bündnis mit Frankreich die deutsche  Hegemonialmacht  auf dem Kontinent verhindern wollte. Exponent der in der Julikrise im  Kabinett Asquith als  Kriegspartei agierenden Gruppe war Außenminister Edward Grey. Der liberale Imperialist Grey  war -  wie seine Kollegen in dem von Sidney und Beatrice Webb gegründeten  "Coefficients Club", darunter Kriegsminister Richard Haldane, Alfred Lord Milner, Arthur Balfour sowie der Schriftsteller H.G. Wells  - von den Ideen des Geopolitikers Halford Mackinder, Mitglied der "Coefficients",  inspiriert.

Von  Grey  werden hauptsächlich seine Worte am Abend des 3. August, dem Tag der britischen Kriegserklärung an Berlin zitiert, wonach "the lamps are going out all over Europe. We shall not see them lit again in our lifetime." Die resignativ klingenden Worte entsprachen durchaus nicht seiner eigenen Rolle bei der  Eröffnung der Tragödie.

II.
Ein weiterer Beitrag zur kritischen Revision der britischen Politik vor 1914 liegt nun aus der Feder von David Owen vor, dem früheren britischen Außenminister (1976-77 im Labour-Kabinett unter James Callagahan) und pro-europäischen Gründers der kurzlebigen Social Democratic Party:
David Owen: The Hidden Perspective. The Military Conversations 1906-1914, Haus Publ. Ltd. 2014.

Siehe dazu die Rezensionen von
Andrew Roberts: "The Hidden Perspective",
http://online.wsj.com/articles/book-review-the-hidden-perspective-by-david-owen-1412356055

Charles Crawford: "Diplomacy´s Hidden Perspectives",
http://www.diplomatmagazine.com/issues/2014/february-march/950-may-june/851-diplomacy-s-hidden-perspectives.html

III.
 Ich verweise auf meine bisherigen Kommentare zum Thema im Blog:

- "Nichts als Überfälle" (04.08.2014)
- "Kriegsschulddebatte (Forts).." (05.07.2014)
- "Zur Neuverteilung der Kriegsschuldanteile" (02.06.2014)
- "Herfried Münkler zum großen Gedenkjahr des Großen Krieges" (03.01.2014)
- "Revisionismus: Chr. Clark, Fritz Fischer, Egmont Zechlin" (17.12.2013)



Freitag, 3. Oktober 2014

Unzensierte Gedanken zum 3.Oktober

I.
Wenn  der 3. Oktober sich in  frühherbstlicher Farbenpracht darbietet, kommen selbst in Deutschland freudige Gedanken auf.  Sogar der "Tag der deutschen Einheit" gewinnt - fern der in einem der alten oder neuen Bundesländer  anberaumten, mit weihevollen politischen Bekenntnissen garnierten  Festveranstaltung -  an freudigem Glanz. Die Freude gilt nicht in erster Linie der am  3.Oktober 1990 vollzogenen staatlichen Neuvereinigung - in Bewusstsein und Wortwahl der meisten Deutschen, mehr in der DDR als in der damaligen Bundesrepublik,  war es die  "Wiedervereinigung"  -, sondern der Erinnerung an die Perzeptionen und Empfindungen in den drei Monaten  vom August 1989 über den 9. Oktober bis zum 9. November 1989. An jenem Abend, da ich, erschöpft von eines langen Tages Arbeit, in den  Fernsehnachrichten jene Schlußszene aus Günter Schabowskis  Pressekonferenz sah und hörte,   in der er - "meines Wissens  gilt das ab sofort"-  Reisefreiheit für alle ankündigte, entging mir die reale Bedeutung des Augenblicks und des Datums. Erst am frühen Morgen  nach dem ersten Telefonanruf,  an dem neblig sonnigroten Vormittag des 10. November, sodann beim Tanz auf der Mauer, drang der von den Deutschen in der DDR erzwungene Mauerfall, die welthistorische Zäsur am 9. November 1989, ins volle Bewußtsein: "...und wir können sagen, wir sind dabeigewesen".

Die historische Assoziationsfülle des Datums für "uns Deutsche" wurde  erst am Abend des 10. ins Gedächtnis zurückgerufen, als wir   in einer Kreuzberger Kneipe die Ostberliner Mitstreiter, die realen Mauer-Subversanten - darunter  m.W. kaum irgendwelche  idealistischen DDR-Bewahrer um jeden Preis -   trafen.  Es war die Frau von Ludwig Mehlhorn (1950 -2011) die an den unheilvollen 9. November 1938 erinnerte. Ich begegnete ihr zuletzt bei Ludwig Mehlhorns Beerdigung auf dem Friedhof Friedrichshain im Mai 2011.    -  Zur Biographie des "Dissidenten" Ludwig Mehlhorn siehe: http://www.havemann-gesellschaft.de/fileadmin/Redaktion/Aktuelles_und_Diskussion/Maerz-Dezember_2011/Ludwig_Mehlhorn_Biographie_.pdf.

Dass die staatliche Einheit der aus der Nazi-Katastrophe und dem Kalten Krieg hervorgegangenen Staatsgebilde zwischen Rhein und Oder in absehbarer Zeit eine historisch reale Chance haben könnte, schien vor dem 9. November 1989 den wenigsten Deutschen  noch plausibel, ungeachtet der - von immer weniger westdeutschen Politikern gepflegten - Rede von der "offenen deutschen Frage", selbst ungeachtet wiederholter Äußerungen Michail Gorbatschows, die immerhin Verständnis für die deutsche Problematik anklingen ließen. Selbst in Kohls CDU glaubten nur wenige noch daran, und Leuten wie Heiner Geißler - dem als "Mittler" in der absurden Stuttgart 21-Affäre wiederbelebten Bundespolitiker - war sie zu keiner Zeit  ein Herzensbedürfnis. Dass sie 1989/90 in weniger als einem Jahr realisiert wurde, könnte man diesbezüglich zu den historischen Mirakeln zählen. Voraus ging das eigentliche Wunder,  der von der sowjetischen Führung unter Gorbatschow und  - dank  fortschreitender Systemparalyse - von der SED hingenommene Machtverfall in der DDR bis hin zum Mauerfall.

II.
Die deutsche Einheit - die staatliche Einheit der  Deutschen in Gestalt der Bundesrepublik Deutschland - erscheint heute - 24 Jahre danach - wie selbstverständlich. Selbst unter den Genossen der "Linken" sehnt sich kaum  irgendwer nach dem Status quo ante murum fractum zurück, allenfalls ein paar Sektierer oder Bekloppte aus der Fraktion der "Antideutschen" (im Bundestag immerhin präsent in Person von Ulla Jelpke)  möchten die Teilstaaten wiederherstellen.

Ob die staatliche Einheit sowie die  Eigenstaatlichkeit  eines Volkes  historisch sinnvoll und - im Sinne des  kodifizierten, zugleich  "umstrittenen" Völkerrechtsprinzips der "Selbstbestimmung" - politisch geboten ist, scheint einerseits - im Hinblick auf die historisch zufällig wiedergewonnene deutsche Einheit - eine müßige und abstrakte Frage, andererseits angesichts der politisch höchst realen, wenngleich gewöhnlich für anachronistisch erklärten Sezessionsbewegungen in Europa - und in Quebec, Taiwan, Kurdistan etc. - eine akute Frage.

Die Frage zerfällt in Einzelfragen: a) Wer ist das "Volk" ("we the people"), wer gehört dazu? b) Bedarf das "Volk" eines  nationalen staatlichen Rahmens, in dem es sich politisch "selbst bestimmt"? c) Was heißt "Volk" und/oder Nation  angesichts der historisch  relativ kurzen Zeit der europäischen Nationalstaatlichkeit (als "demokratisches" Geburtsdatum sei hier an die kurzlebige  Republik Korsika 1755-1769 erinnert)? d) Welche theoretische und politisch-reale Qualität kommt dem ahistorisch gedachten Begriff der "Gesellschaft" zu? Selbst Rousseau und den amerikanischen "Verfassungsvätern" standen in ihrem Konzept des "Gesellschaftsvertrages" historisch reale Gesellschaften - in concreto: die griechische Polis, die Römische Republik, die Stadtrepublik Genf, nicht zuletzt die von  Pasquale Paoli proklamierte Republik Korsika - vor Augen. Sämtliche erfolgreichen oder mißglückten Versuche "demokratischer" Loslösung von Imperien oder von bestehenden Staaten gründeten nicht allein auf realer oder als real empfundener Unterdrückung, sondern auf Selbstbildern einer "historischen Nation", sei es in Polen  1831-1918, sei es in Finnland 1918, in den baltischen Staaten, in der Ukraine und im Kaukasus 1918 sowie erneut  1991, sei es beim Zerfall Jugoslawiens ab 1991 oder bei den mit unterschiedlicher Intensität verfolgten gegenwärtigen Sezessionsbestrebungen.

III.
Als politisch fragwürdig, in der Realität weithin unbrauchbar erweist sich der im Zuge der Entkolonialisierung proklamierte Begriff der" nationalen Selbstbestimmung" für die Mehrheit der in der UNO versammelten  "nations". Die Konflikte  in zahlreichen bestehenden Staaten (oder in "failing states") entspringen einem Ursachengeflecht, das im weitesten Sinne in der europäischen machtpolitischen und kulturellen Expansion vor - sowie  im Hinblick auf die Auflösung des Osmanischen Reiches nach - dem I. Weltkrieg und den weithin  mißglückten "Modernisierungsprozessen" verwurzelt ist. Die blutigen Konflikte entzünden sich innerhalb der von den europäischen Kolonialmächten einst willkürlich gezogenen Grenzen. Nicht zufällig mündete der "arabische Frühling" in Libyen, Syrien und Irak - von Ägypten abgesehen -  in einem blutigen Fiasko. Nur aus einer "westlichen" Fehlwahrnehmung heraus konnte man den diversen  Bewegungen einen freiheitlich-friedlichen Charakter und das Recht auf "Selbstbestimmung" ansinnen.

 Die seit den 1970er Jahren aufgebrochenen radikal-islamischen Bewegungen - mit der schiitisch-persischen  "Islamischen Revolution" im Iran als historischem Sonderfall - werfen, von ihrem mörderisch-blutigen Charakter abgesehen, als anscheinend "irrationale" Eruptionen das im Westen etablierte politologische und ideologische Kategoriensystem über den Haufen. Warum scheitert(e) die "westlich-demokratische" FSA in Syrien, warum verbreiten die Mordbrigaden des von einem sunnitisch-islamischen Theologen ausgerufenen Kalifats blankes Entsetzen, warum  konnte sich/kann sich  andererseits  - entgegen den eigentlichen Absichten der westlichen "Ordnungsmächte" - im nördlichen Iraq ein relativ stabiler Kurdenstaat mit anscheinend gesicherter Rechtsordnung etablieren?

Eine widerspruchsfreie Analyse  des blutigen Konfliktensembles in Nahost scheint schier unmöglich. Als historisch-politisch wirksame Faktoren seien stichwortartig genannt: Urbane Lebensweisen neben traditionalen, archaischen Strukturen,  ethnische, religiöse und kulturelle Antagonismen, Traditionen der Gewalt,   Modernisierungsbestrebungen unter (halb-)säkularen Vorzeichen seitens diktatorischer Regimes, als "fundamentalistisch" deklarierte religiös-kulturelle Reaktionen auf das Vordringen westlich-liberaler Denk- und Verhaltensmuster, sodann die geopolitischen Ambitionen der Großmächte im nahöstlichen Krisenbogen,  last but not least der offenbar unlösbare Israel-Palästina-Konflikt. Wann immer die genannten Konfliktmomente eklatieren, kommt es zu Flüchtlingsströmen in und aus der Region. Drängen die von Krieg und Verfolgung Bedrohten als Asylsuchende nach Europa, so verstärken sie nur den Strom derjenigen, die aus materiellen Gründen  ihr Glück  in den westlichen Wohlstandsgesellschaften suchen.

Über die Folgen der anhaltenden, von unterschiedlichen Interessengruppen geförderten Migrationsbewegungen für die europäischen Gesellschaften findet keine ernsthafte Auseinandersetzung statt. Bestenfalls fordert die "Aufnahmegesellschaft" unter dem   Schlagwort  "Willkommenskultur"  die Anpassung an die hiesige Gesetzesordnung, ansonsten werden  die in den "Parallelgesellschaften" etablierten archaischen Strukturen politisch  hingenommen, sofern sie nicht in grotesker Verkehrung der Fakten als kulturelle "Bereicherung" der Mehrheitsgesellschaft deklariert werden.

Wie angesichts dieser Tendenzen  die europäischen Nationen - laut Lissabon-Vertrag die Bausteine Europas - ihr von der Geschichte Europas geprägtes Selbstverständnis erhalten und  kontinuieren können, erscheint in hohem Maße fragwürdig.  In der Konsequenz berührt die Frage den Sinn von Nationalfeiertagen, des weiteren Symbolik und Inhalte der Zivilreligion.

IV.
Der 3. Oktober wurde dank der  weltpolitischen Bedingungen der deutschen Einigung ("Zeitfenster" für den 2+4-Vertrag) sowie der spezifischen Verhältnisse der seit dem Mauerfall in Auflösung begriffenen DDR durch Beitritt des zweiten deutschen Nachkriegsstaates zur westdeutschen Bundesrepublik Deutschland zum "Tag der deutschen Einheit". Einer derjenigen Politiker, dem in all den Jahren der Teilung die deutsche Einheit noch am Herzen lag, war der damalige SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel. In einem soeben erschienenen Buch  (Hans-Jochen Vogel - Erhard Eppler - Wolfgang Thierse: Was zusammengehört. Die SPD und die deutsche Einheit,  Freiburg i.B.: Herder Verlag 2014) - in einer Art Verteidigungsschrift den "Anteil der SPD am deutschen Einigungsprozess" dar. Er schreibt unter der Zwischenüberschrift "Der 3. Oktober wird Nationalfeiertag" folgendes:

"Auf der staatlichen Ebene wurde die Einheit am 3. Oktober 1990 wirksam. Zu Recht ist dieser Tag auch zum nationalen Feiertag geworden. vorübergehende Überlegungen in unseren Reihen, stattdessen den 9. November zu wählen, wurden nicht weiter verfolgt. die Zahl der schon vor dem Mauerfall historisch bedeutsamer (sic) Ereignisse an diesem Tag - von der Erschießung des Paulskirchen-Abgeordneten Robert Blum im Jahre 1848 über die Revolution im Jahre 1918, den Hitler-Putsch im Jahre 1923 bis zur Reichspogromnacht im Jahre 1938 und dem Attentat Georg Elsers auf Hitler im Jahre wäre zu groß und der Interpretationsbedarf zu mannigfach gewesen." (S. 139).

Man mag diesen Sätzen zustimmen - insbesondere, wenn man an a) die genannten historischen Unglücksdaten (aus historisch unvermeidlichen sowie politisch korrekten Gründen sei der 9. November 1918 von der Kennzeichnung ausgenommen) im Gedächtnis hat  b) die österreichischen Sensibilitäten bei der Interpretation der genannten Daten mitbedenkt und c) die geographisch-klimabedingt grauen deutschen Novembertage vor Augen hat. Ja, wir dürfen uns über den in Herbstfarben strahlenden 3. Oktober freuen.

V.
In die  Freude über einen Glückstag der deutschen Geschichte drängt sich die unsichere Frage nach der Zukunft Deutschlands und Europas auf. Eine Frage gilt der politischen Zukunft des 1990 wiedergewonnenen Nationalstaats und dessen Aufhebung in der ab 1992 sukzessiv in Richtung Bundesstaat ausgebauten Europäischen Union, deren bürokratisch-zentralistischer Charakter vielfach Anlaß zu Ärgernis gibt, deren machtpolitische Konstruktion und politische Zielsetzung Fragen aufwirft, die im herrschenden politisch-medialen Diskurs in Deutschland und anderswo tunlich gemieden werden.

Die andere Frage gilt der Zukunft der Deutschen als historische Nation. Im ideologischen - einheitsgrünen -Selbstbild der bundesrepublikanischen Gesellschaft existiert die Frage nicht, sofern sie nicht vom Phrasenkatalog der mal multikulturell, mal nur pluralistisch, mal sich sonstwie konstituierenden "Zivilgesellschaft" zugeschüttet wird. Der  faktisch unbeschränkte Zugang zum "Einwanderungsland" Bundesrepublik verändert die historische Gesellschaft - oder  historische Nation - in Deutschland von Grund auf. Nach wie vor definiert sich diese Gesellschaft über die deutsche Geschichte, in erster Linie durch die Invokation der unsagbaren Verbrechen in der Ära des Nationalsozialismus.

VI.
Im vergangenen September war eine - von einer für Berliner Protestverhältnisse bescheidenen Anzahl von max. 6000 Teilnehmern frequentierte - Demonstration vor dem Brandenburger Tor angesetzt, die als Manifestation gegen "Antisemitismus" in Deutschland deklariert war. Der aktuelle Hintergrund  waren Haß- und Gewaltausbrüche bei Demonstrationen anläßlich des letzten Gaza-Krieges in mehreren Städten. Für jeden Beobachter unübersehbar, stammten die Akteure der judenfeindlichen Manifestationen aus dem nahöstlichen Migrantenmilieu. Die offenkundige Realität hinderte den als Redner auftretenden Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Nikolaus Schneider nicht, die unheilige  Trinität von "Antisemitismus, Islamophobie und Fremdenfeindlichkeit"  in Deutschland zu invozieren. Die Einsicht in das  factum brutum, dass ein erheblicher Teil der Migranten aus dem Morgenland allenfalls für die beiden letzteren Elemente der zivilreligiösen Trinitätsformel empfänglich ist, lag dem Protestanten-Chef als einem Interpreten deutscher Geschichte und Gegenwart fern.

Zur Debatte steht die historische Zukunft der Deutschen, genauer: der politischen Integrationskraft der von Geschichtslast bedrückten historischen Nation der Deutschen in einer - von nicht wenigen  Protagonisten angestrebten - Postnation oder namenlosen political society. Was letztere betrifft, ist ein gravierender gesellschaftlicher Wandel im Gange, der über Herkunft, Kultur und Religion eine "neue Gesellschaft" hervorbringen könnte, für die der 3. Oktober als "Tag der deutschen Einheit" Hekuba ist, so belanglos wie alle anderen bedrückenden oder hell beglückenden Daten deutscher Geschichte.

Vor Jahren erklärte der ZMD ("Zentralrat der Muslime in Deutschland") den 3. Oktober zum "Tag der offenen Moschee". Ein Schelm, wer denkt, der Initiator Nadeem Elyas, heute Ehrenmitglied des ZMD, ehedem Vorsitzender des Islamischen Zentrums Aachen, einer Unterorganisation der Muslimbruderschaft, hätte sich bei seiner der interkulturellen Begegnung dienenden Initiative nichts gedacht.

VII.
Wir aber denken am Ende dieses strahlenden 3. Oktober 2014 an die faszinierenden, glücklichen Tage im deutschen Herbst 1989 zurück.