I.
Wenn
der 3. Oktober sich in frühherbstlicher Farbenpracht
darbietet, kommen selbst in Deutschland freudige Gedanken auf. Sogar
der "Tag der deutschen Einheit" gewinnt - fern der in einem
der alten oder neuen Bundesländer anberaumten, mit weihevollen politischen Bekenntnissen garnierten Festveranstaltung -
an freudigem Glanz. Die Freude gilt nicht in erster Linie der
am 3.Oktober 1990 vollzogenen staatlichen Neuvereinigung - in
Bewusstsein und Wortwahl der meisten Deutschen, mehr in der DDR als
in der damaligen Bundesrepublik, war es die
"Wiedervereinigung" -, sondern der Erinnerung
an die Perzeptionen und Empfindungen in den drei Monaten vom
August 1989 über den 9. Oktober bis zum 9. November 1989. An jenem
Abend, da ich, erschöpft von eines langen Tages Arbeit, in den
Fernsehnachrichten jene Schlußszene aus Günter Schabowskis
Pressekonferenz sah und hörte, in der er - "meines
Wissens gilt das ab sofort"- Reisefreiheit für alle
ankündigte, entging mir die reale Bedeutung des Augenblicks und des
Datums. Erst am frühen Morgen nach dem ersten Telefonanruf,
an dem neblig sonnigroten Vormittag des 10. November, sodann
beim Tanz auf der Mauer, drang der von den Deutschen in der DDR
erzwungene Mauerfall, die welthistorische Zäsur am 9. November 1989,
ins volle Bewußtsein: "...und wir können sagen, wir sind
dabeigewesen".
Die
historische Assoziationsfülle des Datums für "uns Deutsche"
wurde erst am Abend des 10. ins Gedächtnis zurückgerufen, als
wir in einer Kreuzberger Kneipe die Ostberliner
Mitstreiter, die realen Mauer-Subversanten - darunter m.W. kaum
irgendwelche idealistischen DDR-Bewahrer um jeden Preis -
trafen. Es war die Frau von Ludwig Mehlhorn (1950 -2011) die
an den unheilvollen 9. November 1938 erinnerte. Ich begegnete ihr
zuletzt bei Ludwig Mehlhorns Beerdigung auf dem Friedhof
Friedrichshain im Mai 2011. - Zur Biographie des
"Dissidenten" Ludwig Mehlhorn siehe: http://www.havemann-gesellschaft.de/fileadmin/Redaktion/Aktuelles_und_Diskussion/Maerz-Dezember_2011/Ludwig_Mehlhorn_Biographie_.pdf.
Dass
die staatliche Einheit der aus der Nazi-Katastrophe und dem Kalten
Krieg hervorgegangenen Staatsgebilde zwischen Rhein und Oder in
absehbarer Zeit eine historisch reale Chance haben könnte, schien
vor dem 9. November 1989 den wenigsten Deutschen noch
plausibel, ungeachtet der - von immer weniger westdeutschen
Politikern gepflegten - Rede von der "offenen deutschen Frage",
selbst ungeachtet wiederholter Äußerungen Michail Gorbatschows, die
immerhin Verständnis für die deutsche Problematik anklingen ließen.
Selbst in Kohls CDU glaubten nur wenige noch daran, und Leuten wie
Heiner Geißler - dem als "Mittler" in der absurden
Stuttgart 21-Affäre wiederbelebten Bundespolitiker - war sie zu
keiner Zeit ein Herzensbedürfnis. Dass sie 1989/90 in weniger
als einem Jahr realisiert wurde, könnte man diesbezüglich zu den
historischen Mirakeln zählen. Voraus ging das eigentliche Wunder,
der von der sowjetischen Führung unter Gorbatschow und -
dank fortschreitender Systemparalyse - von der SED hingenommene
Machtverfall in der DDR bis hin zum Mauerfall.
II.
Die
deutsche Einheit - die staatliche Einheit der Deutschen in
Gestalt der Bundesrepublik Deutschland - erscheint heute - 24 Jahre
danach - wie selbstverständlich. Selbst unter den Genossen der
"Linken" sehnt sich kaum irgendwer nach dem Status
quo ante murum fractum zurück, allenfalls ein paar Sektierer oder
Bekloppte aus der Fraktion der "Antideutschen" (im
Bundestag immerhin präsent in Person von Ulla Jelpke) möchten die Teilstaaten wiederherstellen.
Ob
die staatliche Einheit sowie die Eigenstaatlichkeit eines
Volkes historisch sinnvoll und - im Sinne des kodifizierten,
zugleich "umstrittenen" Völkerrechtsprinzips der
"Selbstbestimmung" - politisch geboten ist, scheint
einerseits - im Hinblick auf die historisch zufällig wiedergewonnene
deutsche Einheit - eine müßige und abstrakte Frage, andererseits
angesichts der politisch höchst realen, wenngleich gewöhnlich für anachronistisch erklärten Sezessionsbewegungen in Europa - und in Quebec, Taiwan,
Kurdistan etc. - eine akute Frage.
Die
Frage zerfällt in Einzelfragen: a) Wer ist das "Volk" ("we
the people"), wer gehört dazu? b) Bedarf das "Volk"
eines nationalen staatlichen Rahmens, in dem es sich politisch
"selbst bestimmt"? c) Was heißt "Volk" und/oder
Nation angesichts der historisch relativ kurzen Zeit der
europäischen Nationalstaatlichkeit (als "demokratisches"
Geburtsdatum sei hier an die kurzlebige Republik Korsika
1755-1769 erinnert)? d) Welche theoretische und politisch-reale
Qualität kommt dem ahistorisch gedachten Begriff der "Gesellschaft"
zu? Selbst Rousseau und den amerikanischen "Verfassungsvätern"
standen in ihrem Konzept des "Gesellschaftsvertrages"
historisch reale Gesellschaften - in concreto: die griechische Polis, die Römische Republik, die Stadtrepublik Genf, nicht zuletzt die von Pasquale Paoli proklamierte Republik Korsika - vor Augen. Sämtliche
erfolgreichen oder mißglückten Versuche "demokratischer"
Loslösung von Imperien oder von bestehenden Staaten gründeten nicht
allein auf realer oder als real empfundener Unterdrückung, sondern
auf Selbstbildern einer "historischen Nation", sei es in
Polen 1831-1918, sei es in Finnland 1918, in den
baltischen Staaten, in der Ukraine und im Kaukasus 1918 sowie erneut
1991, sei es beim Zerfall Jugoslawiens ab 1991 oder bei den mit
unterschiedlicher Intensität verfolgten gegenwärtigen
Sezessionsbestrebungen.
III.
Als
politisch fragwürdig, in der Realität weithin unbrauchbar erweist
sich der im Zuge der Entkolonialisierung proklamierte Begriff der"
nationalen Selbstbestimmung" für die Mehrheit der in der UNO
versammelten "nations". Die Konflikte in
zahlreichen bestehenden Staaten (oder in "failing states")
entspringen einem Ursachengeflecht, das im weitesten Sinne in der
europäischen machtpolitischen und kulturellen Expansion vor - sowie
im Hinblick auf die Auflösung des Osmanischen Reiches nach -
dem I. Weltkrieg und den weithin mißglückten
"Modernisierungsprozessen" verwurzelt ist. Die blutigen
Konflikte entzünden sich innerhalb der von den europäischen
Kolonialmächten einst willkürlich gezogenen Grenzen. Nicht zufällig
mündete der "arabische Frühling" in Libyen, Syrien und
Irak - von Ägypten abgesehen - in einem blutigen Fiasko. Nur
aus einer "westlichen" Fehlwahrnehmung heraus konnte man
den diversen Bewegungen einen freiheitlich-friedlichen
Charakter und das Recht auf "Selbstbestimmung" ansinnen.
Die
seit den 1970er Jahren aufgebrochenen radikal-islamischen Bewegungen
- mit der schiitisch-persischen "Islamischen Revolution"
im Iran als historischem Sonderfall - werfen, von ihrem
mörderisch-blutigen Charakter abgesehen, als anscheinend
"irrationale" Eruptionen das im Westen etablierte
politologische und ideologische Kategoriensystem über den Haufen.
Warum scheitert(e) die "westlich-demokratische" FSA in
Syrien, warum verbreiten die Mordbrigaden des von einem sunnitisch-islamischen
Theologen ausgerufenen Kalifats blankes Entsetzen, warum konnte
sich/kann sich andererseits - entgegen den eigentlichen
Absichten der westlichen "Ordnungsmächte" - im nördlichen
Iraq ein relativ stabiler Kurdenstaat mit anscheinend gesicherter
Rechtsordnung etablieren?
Eine
widerspruchsfreie Analyse des blutigen Konfliktensembles in
Nahost scheint schier unmöglich. Als historisch-politisch wirksame
Faktoren seien stichwortartig genannt: Urbane Lebensweisen neben
traditionalen, archaischen Strukturen, ethnische, religiöse
und kulturelle Antagonismen, Traditionen der Gewalt,
Modernisierungsbestrebungen unter (halb-)säkularen Vorzeichen
seitens diktatorischer Regimes, als "fundamentalistisch" deklarierte religiös-kulturelle Reaktionen auf das
Vordringen westlich-liberaler Denk- und Verhaltensmuster, sodann die
geopolitischen Ambitionen der Großmächte im nahöstlichen
Krisenbogen, last but not least der offenbar unlösbare
Israel-Palästina-Konflikt. Wann immer die genannten Konfliktmomente
eklatieren, kommt es zu Flüchtlingsströmen in und aus der Region. Drängen
die von Krieg und Verfolgung Bedrohten als Asylsuchende nach Europa,
so verstärken sie nur den Strom derjenigen, die aus materiellen
Gründen ihr Glück in den westlichen
Wohlstandsgesellschaften suchen.
Über
die Folgen der anhaltenden, von unterschiedlichen Interessengruppen
geförderten Migrationsbewegungen für die europäischen
Gesellschaften findet keine ernsthafte Auseinandersetzung statt.
Bestenfalls fordert die "Aufnahmegesellschaft" unter dem
Schlagwort "Willkommenskultur" die
Anpassung an die hiesige Gesetzesordnung, ansonsten werden die
in den "Parallelgesellschaften" etablierten archaischen
Strukturen politisch hingenommen, sofern sie nicht in grotesker
Verkehrung der Fakten als kulturelle "Bereicherung" der
Mehrheitsgesellschaft deklariert werden.
Wie
angesichts dieser Tendenzen die europäischen Nationen - laut
Lissabon-Vertrag die Bausteine Europas - ihr von der Geschichte
Europas geprägtes Selbstverständnis erhalten und kontinuieren können,
erscheint in hohem Maße fragwürdig. In der Konsequenz berührt
die Frage den Sinn von Nationalfeiertagen, des
weiteren Symbolik und Inhalte der Zivilreligion.
IV.
Der
3. Oktober wurde dank der weltpolitischen Bedingungen der
deutschen Einigung ("Zeitfenster" für den 2+4-Vertrag)
sowie der spezifischen Verhältnisse der seit dem Mauerfall in
Auflösung begriffenen DDR durch Beitritt des zweiten deutschen
Nachkriegsstaates zur westdeutschen Bundesrepublik Deutschland zum
"Tag der deutschen Einheit". Einer derjenigen Politiker,
dem in all den Jahren der Teilung die deutsche Einheit noch am Herzen
lag, war der damalige SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel. In einem
soeben erschienenen Buch (Hans-Jochen Vogel - Erhard Eppler -
Wolfgang Thierse: Was zusammengehört. Die SPD und die
deutsche Einheit, Freiburg i.B.: Herder Verlag 2014) - in
einer Art Verteidigungsschrift den "Anteil der SPD am deutschen
Einigungsprozess" dar. Er schreibt unter der Zwischenüberschrift
"Der 3. Oktober wird Nationalfeiertag" folgendes:
"Auf
der staatlichen Ebene wurde die Einheit am 3. Oktober 1990 wirksam.
Zu Recht ist dieser Tag auch zum nationalen Feiertag geworden.
vorübergehende Überlegungen in unseren Reihen, stattdessen den 9.
November zu wählen, wurden nicht weiter verfolgt. die Zahl der schon
vor dem Mauerfall historisch bedeutsamer (sic) Ereignisse
an diesem Tag - von der Erschießung des Paulskirchen-Abgeordneten
Robert Blum im Jahre 1848 über die Revolution im Jahre 1918, den
Hitler-Putsch im Jahre 1923 bis zur Reichspogromnacht im Jahre 1938
und dem Attentat Georg Elsers auf Hitler im Jahre wäre zu groß und
der Interpretationsbedarf zu mannigfach gewesen." (S. 139).
Man
mag diesen Sätzen zustimmen - insbesondere, wenn man an a) die
genannten historischen Unglücksdaten (aus historisch unvermeidlichen
sowie politisch korrekten Gründen sei der 9. November 1918 von der
Kennzeichnung ausgenommen) im Gedächtnis hat b) die
österreichischen Sensibilitäten bei der Interpretation der
genannten Daten mitbedenkt und c) die geographisch-klimabedingt
grauen deutschen Novembertage vor Augen hat. Ja, wir dürfen uns über
den in Herbstfarben strahlenden 3. Oktober freuen.
V.
In
die Freude über einen Glückstag der deutschen Geschichte
drängt sich die unsichere Frage nach der Zukunft Deutschlands und
Europas auf. Eine Frage gilt der politischen Zukunft des 1990
wiedergewonnenen Nationalstaats und dessen Aufhebung in der ab 1992
sukzessiv in Richtung Bundesstaat ausgebauten Europäischen Union,
deren bürokratisch-zentralistischer Charakter vielfach Anlaß zu
Ärgernis gibt, deren machtpolitische Konstruktion und politische
Zielsetzung Fragen aufwirft, die im herrschenden politisch-medialen
Diskurs in Deutschland und anderswo tunlich gemieden werden.
Die
andere Frage gilt der Zukunft der Deutschen als historische Nation.
Im ideologischen - einheitsgrünen -Selbstbild der
bundesrepublikanischen Gesellschaft existiert die Frage nicht, sofern
sie nicht vom Phrasenkatalog der mal multikulturell, mal nur
pluralistisch, mal sich sonstwie konstituierenden "Zivilgesellschaft"
zugeschüttet wird. Der faktisch unbeschränkte Zugang zum
"Einwanderungsland" Bundesrepublik verändert die
historische Gesellschaft - oder historische Nation - in
Deutschland von Grund auf. Nach wie vor definiert sich diese
Gesellschaft über die deutsche Geschichte, in erster Linie durch die
Invokation der unsagbaren Verbrechen in der Ära des
Nationalsozialismus.
VI.
Im
vergangenen September war eine - von einer für Berliner
Protestverhältnisse bescheidenen Anzahl von max. 6000 Teilnehmern
frequentierte - Demonstration vor dem Brandenburger Tor angesetzt,
die als Manifestation gegen "Antisemitismus" in Deutschland
deklariert war. Der aktuelle Hintergrund waren Haß- und
Gewaltausbrüche bei Demonstrationen anläßlich des letzten
Gaza-Krieges in mehreren Städten. Für jeden Beobachter
unübersehbar, stammten die Akteure der judenfeindlichen
Manifestationen aus dem nahöstlichen Migrantenmilieu. Die
offenkundige Realität hinderte den als Redner auftretenden
Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Nikolaus Schneider nicht, die unheilige
Trinität von "Antisemitismus, Islamophobie und
Fremdenfeindlichkeit" in Deutschland zu invozieren. Die
Einsicht in das factum brutum, dass ein erheblicher Teil
der Migranten aus dem Morgenland allenfalls für die beiden letzteren
Elemente der zivilreligiösen Trinitätsformel empfänglich ist, lag
dem Protestanten-Chef als einem Interpreten deutscher Geschichte und
Gegenwart fern.
Zur
Debatte steht die historische Zukunft der Deutschen, genauer: der
politischen Integrationskraft der von Geschichtslast bedrückten
historischen Nation der Deutschen in einer - von nicht wenigen
Protagonisten angestrebten - Postnation oder
namenlosen political
society. Was letztere betrifft, ist ein gravierender
gesellschaftlicher Wandel im Gange, der über Herkunft, Kultur und
Religion eine "neue Gesellschaft" hervorbringen könnte,
für die der 3. Oktober als "Tag der deutschen Einheit"
Hekuba ist, so belanglos wie alle anderen bedrückenden oder hell
beglückenden Daten deutscher Geschichte.
Vor
Jahren erklärte der ZMD ("Zentralrat der Muslime in
Deutschland") den 3. Oktober zum "Tag der offenen Moschee".
Ein Schelm, wer denkt, der Initiator Nadeem Elyas, heute
Ehrenmitglied des ZMD, ehedem Vorsitzender des Islamischen Zentrums
Aachen, einer Unterorganisation der Muslimbruderschaft, hätte sich
bei seiner der interkulturellen Begegnung dienenden Initiative nichts
gedacht.
VII.
Wir
aber denken am Ende dieses strahlenden 3. Oktober 2014 an die
faszinierenden, glücklichen Tage im deutschen Herbst 1989 zurück.
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