Montag, 15. September 2014

Kritik am Ausschluss Russlands aus Europa

I.
Kritik an der vom "Westen" gegenüber Russland verfolgten Politik war seit dem Eklat der Ukraine-Krise (datierbar auf den 23.11.2013), erst recht  seit Ausbruch des Krieges im Donbass  kaum irgendwo zu finden, am ehesten noch in den Leserbriefen, die auf blinde Flecken in der in den deutschen "Leitmedien" vermittelten Wahrnehmung hinwiesen. Durchwegs ging es im Politikteil, in den Korrespondentenberichten aus der Krisenregion, in den Leitartikeln sowie in den Feuilletons um die Verteidigung demokratischer Grundwerte auf dem Majdan, um die Erhebung des Volkes gegen den korrupten Janukowitsch und seine Oligarchen, um das Recht der Ukraine auf  "Selbstbestimmung" gegenüber dem neo-imperial agierenden Russland unter dem autoritären, eurasisch inspirierten, aggressionslüsternen Putin.

Aus derlei Perspektive konnte man über die weniger erfreulichen Phänomene des auf dem Majdan versam-melten Protests hinwegsehen, die Hintergründe des Kriegsszenarios im Industrierevier am Don ausblenden, den gegen die "Separatisten" angerückten Bataillone des "Rechten Sektors" aus der Westukraine zumindest kämpferische Qualitäten zubilligen (wenn schon keine lupenreine demokratische Gesinnung). Nach dem Absturz - oder Abschuss? -des Flugzeugs MH17 der Malaysian Airlines über der Ost-Ukraine mit 298 Toten (s. dazu: spiegel-online vom 24.08.2014,  http://www.spiegel.de/panorama/flug-mh17-was-das-schweigen-der-ermittler-ueber-den-abschuss-bedeutet-a-987100.html.) war die Sache für die Kommentatoren endgültig klar: In der Ukraine steht demokratische Freiheit gegen großrussisch gesteuerten Terror.

Schon vorher waren Zweifel an der offiziellen Doktrin verstummt, die da  lautet:  Russland,  unter Putin in seine alte Tradition der Autokratie zurückgefallen, gehört nicht zu Europa. Entsprechend verkündete die neue EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini - bei ihrer Berufung durch Jean-Claude Juncker wurde ihr noch eine verständnisvolle Haltung gegenüber Putin nachgesagt - nach dem NATO-Gipfel in Wales (04.09.2014), was  eben dort nicht zufällig der polnische Verteidigungsminister als erster erklärt hatte: Russland sei für Europa kein strategischer Partner mehr.

II.
NATO dixit. Der Ausschluss Russlands aus dem "gemeinsamen Haus Europa" scheint beschlossene Sache.

Mit Erstaunen  liest man daher den mit  "Lesen Sie Putins Stellenbeschreibung" übertitelten Artikel  (in: FAZ v. 12.09.2014, S. 11) der langjährigen Russland-Korrespondentin der FAZ Kerstin Holm, aus deren  Feder bis dato nichts anderes denn moralisch aufgebrachte Anklagen gegen die in Putins Reich herrschende Unfreiheit, Willkür, Schwulen- und Intellektuellenfeindschaft zu lesen waren. Die Journalistin scheint eine conversio erlebt zu haben. Denn Russland ist für sie untrennbarer Teil der  "okzidentalen Kultur", die sie als einen großen Organismus begreift, der  von den USA (als Kopf) über Europa (ein "formenreichen Körper", zugleich "Brutstätte und Paradiesgarten künstlerischer Ideen") bis nach Russland reicht, dem sie die Funktion der "tragenden Füße" zuweist. Weiter unten  - nach Nennung der großen Namen der russischen Literatur und Musik - wird das Bild abgewandelt: "Ohne die russische Erfahrung würde die europäische Kultur vollends wattig und kastriert."

Nach all dem metaphorischem Überschwang  kommt die Autorin zum Politischen, und zwar zu ihrer "Stellenbeschreibung des russischen Präsidenten". Gemeint sind die geopolitischen  Handlungsbedingungen Putins in seinem unsicheren, geschwächten Riesenreich ("ein überdehntes, untervölkertes, rauhes Land"). Dieses sehe sich den politischen Konzepten der NATO unter Führung der USA ("das oberste Nervenzentrum in seiner geostrategisch exzeptionell begünstigten Lage") ausgesetzt..  "Im entwickelteren Westen" (?), will heißen im östlichen Mitteleuropa, habe die NATO das gesamte von Gorbatschow freigegebene Terrain besetzt und rücke immer näher an die russischen Grenzen heran. Die Analyse  im Donbass der in Krieg ausgeuferten Konflikte zwischen Washington, Kiew und Moskau fällt für Putin bemerkenswert verständnisvoll aus: "Wie sollte da ein russisches Staatsoberhaupt den Gorbatschow-Jelzin-Kurs nicht bitter bereuen...?"

Die Autorin bemüht das Bild des russischen Bären, den man in seiner Höhle nicht reizen dürfe. Die am bösen Spiel mit dem Bären beteiligten Staaten werden mit Ausnahme der Amerikaner, deren "Spieltrieb so viel Spaß daran findet,diese [Putins] Schwäche auszunutzen und Russland zu reizen und zu destabilisieren", nicht genannt. Der bloße "Spieltrieb" mag dem Stil des Feuilletons entsprechen, nicht dem Wesen der Politik, gleichviel: Die Akteure in Kiew verlieren  an demokratischem Glanz, nicht allein, weil sie - hier verfällt die Autorin in den üblichen Politjargon - ihre "allerersten Hausaufgaben" noch zu erledigen hätten. "Bisher haben sich die Regierenden, die den internen Konflikt zur Kraftprobe zwischen den Bevölkerungsgruppen eskalieren ließen, noch ihre westlichen Berater, ein Reifezeugnis ausgestellt." Dass es den "westlichen Beratern" nicht um ein Reifezeugnis geht, sondern um die geopolitische Besetzung einer Schlüsselregion, käme dem Kern der Sache analytisch näher. Immerhin warnt die  Autorin - im Hinblick auf die diffizile historische Geographie der Ukraine - auch davor, die Rebellen im Osten "pauschal als ´Separatisten´ darzustellen".

III.
Das von der Autorin empfohlene Konzept einer bundesstaatlichen Neugliederung  der Ukraine, eines  friedlichen Ausgleichs mit dem durch "Finnlandisierung", durch einen auf Rücksichtnahme und Kooperation gegründeten Status des Landes, ähnelt den in Globkult (24.08.2014) von Christian Wipperfürth ("Die Ukraine, der Westen und Russland") vorgestellten Lösungsvorschlägen. Ob sich  die Mächtigen ("Eliten", "decision-makers")  in Washington, Brüssel und Berlin - wo offenbar  selbst Außenminister Steinmeier auf einen harten Kurs eingeschwenkt ist - von derlei Überlegungen, die auf Frieden, Sicherheit und Kooperation "im  gemeinsamen Haus Europa" zielen, beeindrucken lassen, steht dahin.

Wahrscheinlicher ist, dass man nach Vollzug der EU-Assoziierung der  Ukraine großzügige Hilfe zukommen lässt. Materielle Unterstützung kann das Land immer gebrauchen, selbst wenn der - mit Einhilfe seitens Putin zustandegekommene - Waffenstillstand mit den Rebellen halten sollte. Wenn die Rundfunkmeldung der letzten Woche zutrifft, plant die Regierung in Kiew die Errichtung einer 2500 km langen Mauer zur Sicherung ihrer Grenze. Dafür benötigt sie gewiss mehr als nur Baumaterialien. Wir Mauergeprüften dürfen hoffen, dass es sich nur um eine Tatarenmeldung aus der östlichen Ukraijna handelt.

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