Montag, 23. Februar 2015

Gauck in vorderster Reihe - Predigen ohne Mandat

I.
Unser Bundespräsident Gauck liebt gefühlsbetonte Auftritte. Mal ist er zu Tränen gerührt, wenn er, neben Obama stehend, den schwer erkämpften Sieg der Freiheit feiert und den Klängen der ziemlich martialischen amerikanischen Nationalhymne lauscht, mal ist er freudig lächend bewegt, wie gestern Arm in Arm mit Poroschenko und einem mir unbekannten Marschierer, mit Tusk, Komorowski und anderen in vorderster  Reihe, zum Gedenken des Sturzes von Janukowitsch und der über 100 Toten auf dem Majdan vor einem Jahr.

Wir dürfen  noch hoffen, dass das Minsker Abkommen (Minsk II) trotz - oder aufgrund - der Einnahme der Stadt Debalzewo durch die von der Waffenruhe offenbar unbeeindruckten "pro-russischen " Separatisten/Annexionisten einen Zustand herbeiführt, der immerhin besser ist als Krieg. Nicht auszuschließen ist, dass das blutige Spiel um den Donbass, um eine Landbrücke zur Krim und womöglich noch  weitere Regionen "Neu-Russlands",  eine Fortsetzung erlebt. Das wäre fatal für alle, für Merkel und Hollande, für "uns Deutsche", für den bereits in vielerlei blutige, schier unlösbare Konflikte (e.g. Afghanistan, Syrien/Iraq, Libyen) verwickelten Westen unter US-Ägide, aber auch für Russland unter Putin.

Eine Prognose sei an dieser Stelle vermieden. Zur Analyse verweise ich auf den Eintrag von vor einem Jahr  "BHL auf dem Majdan" (http://herbert-ammon.blogspot.de/2014/03/bhl-auf-dem-majdan.html., v. 05.03.2014) sowie auf den entsprechenden Kommentar von vorletzter Woche (11.02.2015).

II. 
Die erwähnten Konflikte - dazu die Zustände im "demokratischen" Kosovo und in aller Welt  - bescheren Westeuropa, insbesondere dem paradiesisch "reichen" Deutschland, Flüchtlingsströme in bis dato ungeahnter Zahl. Während die Kommunen vor offenbar  unlösbaren Problemen stehen, melden sich aus der definitionsresistenten Zivilgesellschaft die Stimmen höchster Moral. Hier erweist sich die politische Stärke der Zivilgesellschaft: Sie reicht von der "Antifa" ("Refugees welcome!"; "Keiner ist illegal"; "No tears for Krauts!") über diverse Flüchtlingsräte bis in die evangelische Kirche, die durch die Praxis des "Kirchenasyls" in Konflikt mit Innenminister Thomas de Maizière, selbst gläubiger Protestant, geraten ist.

III.
Die hohe Moral von insbesondere protestantischen Kirchenoberen kommt stets dann zum Vorschein, wenn es um die Bewältigung der Vergangenheit, id est die "deutsche Schuld", geht, z.B. in der nordbadischen Stadt Pforzheim. Dort kamen beim Bombenangriff  am 23. Februar 1945 18 000 Menschen, ein Drittel der Bevölkerung,  zu Tode (was wiederum die von der unabhängigen Historikerkommission anno 2010 ermittelte Dresdner Opferzahl von "maximal 25 000"  in überaus plausible Relation setzt). Vor einem Jahr erklärte  die erst eineinhalb Jahre zuvor in  Pforzheim zugezogene Stadtdekanin Christiane Quincke anlässlich einer Kundgebung "Flagge zeigen - Pforzheim nazifrei" den historisch-theologischen Sachverhalt wie folgt:

"Aber Pforzheim war keine unschuldige Stadt. Die Flagge der Nationalsozialisten wehte auf zentralen Plätzen. In Pforzheim wurden Zeitzünder und andere technische Finessen für den Krieg gefertigt. Das rechtfertigt keine Bombardierung auf die Zivilbevölkerung. Aber es erklärt sie." So das Zitat in: FAZ v. 23.02.2015, S. 2. Weiter: "´Versöhnung´", sagt(e) Quincke, "kann es nur geben, wenn man sich selbst fragt, was man zum Unfrieden beigetragen hat.´"

Das hat man sich in der Tat zu fragen (u.a. als Kirchensteuerzahler). Von den Überlebenden fragt sich mancher, ob dies der rechte Seelentrost für die Toten sei, für deren Kinder oder für die Enkel der Davongekommenen. Ein 81jähriger Pforzheimer Schmuckfabrikant, damals ein Junge von 11 Jahren, sagt,  mit Tränen in den Augen, dem berichterstattenden Journalistener habe Jahrzehnte über seine Erlebnisse im Februar 1945 geschwiegen. "Wir sind böse. Das, was die Dekanin macht, nenne ich Predigen ohne Mandat." Natürlich vergebe er. Beim Vergeben sei es indes wesentlich zu wissen, was man eigentlich vergebe. Er evoziert die Bilder, die ihn seit seiner damals beendigten Kindheit verfolgen. Zum Verzeihen gehöre die Wahrheit, und die komme "im mehrwöchigen Gedenkreigen der Stadt zu kurz", heißt es in dem Bericht aus Pforzheim.

Für den amerikanischen Philosophen John D. Rawls (1921-2002) -  er überlebte als Soldat den Krieg im Pazifik, verlor dabei aber seinen christlichen Glauben - gab es von einem bestimmten Zeitpunkt an, spätestens seit Herbst 1943,  keine (kriegs-)ethisch zu rechtfertigende Begründung, den Bombenkrieg gegen die Zivilbevölkerung zu führen. Im Winter und Frühjahr 1945, als der Krieg für die Alliierten längst gewonnen war, bestand dafür erst recht  keine Notwendigkeit mehr.

IV.
Zur Versöhnung und Vergebung gehörte für alle Seiten die offene, unbefangene,  interessen- und ideologiefreie Betrachtung der Schrecken der Vergangenheit. Unserem Bundespräsidenten, der beim letzten Gedenken der Zerstörung Dresdens  den gewohnten Schuldzusammenhang herstellte, fehlt es nicht an rhetorischer Begabung, wohl aber an historisch-politischer Klarheit. Sein pastoraler Habitus kommt allenthalben  - Spiegel-online und Junge Welt ausgenommen - gut an. Und ihm selbst bereitet es sichtlich Vergnügen, amtsbedingt, an vielen Orten in vorderster Reihe mitzuziehen.

Mittwoch, 11. Februar 2015

Zum Krieg in Osteuropa: Die Inkongruenz von Macht, Recht und dem "subjektiven Faktor"

Zum Krieg in Ost-Europa: Die Inkongruenz von Macht, Recht
und dem "subjektiven" Faktor

I.
Auf dem Waldfriedhof in Berlin-Zehlendorf wird an diesem Februartag 2015 nach dem Staatsakt im Berliner Dom der verstorbene Richard von Weizsäcker  zu Grabe getragen, Repräsentant einer Ära, in der der Kalte Krieg mit dem spektakulären Mauerfall endete und in eine Phase des Weltfriedens einzumünden schien. Währenddessen schickt sich die Bundeskanzlerin Merkel an, zusammen mit dem französischen Präsidenten an ihrer Seite, in Minsk in Verhandlungen mit dem allenthalben als russisch-imperialer Aggressor wahrgenommenen Präsidenten Putin eine Art Friedensschluss, wenigstens einen Waffenstillstand im Krieg der „prorussischen“ Separatisten und der Ukraine herbeizuführen.

Über den Ausgang dieser Gespräche ist hier nicht zu spekulieren. Es ist vorstellbar, dass Putin ökonomisch sowie – im Falle amerikanischer Waffenlieferungen an Kiew - militärisch unter Druck, zum Einlenken bereit ist. Die Gegenleistung EU-Europas, vertreten durch Merkel-Hollande, bestünde darin, die Annexion der Krim sowie die derzeitigen Frontlinien im Donbass als faits accomplis  anzuerkennen. Es ist aber auch denkbar, dass die Verhandlungen nur in eine Neuauflage der Minsker Vereinbarungen vom September 2014 resultieren - ein Waffenstillstand, der von der einen oder anderen Seite alsbald wieder unterlaufen wird.

So oder so: Ein Ende des Krieges in der östlichen Ukraine ist erst abzusehen, wenn der einen oder der anderen Seite, der Regierung in Kiew oder Putin in Moskau die materiellen - und politischen - Kosten des unerklärten Krieges untragbar erscheinen, so dass sie sich zum Nachgeben, zu einer Art Frieden genötigt sieht.

II.
Vor dem Hintergrund des Krieges im Donbass finden in West- und Osteuropa Kontroversen über Ursachen und Wesen des erneuerten Ost-West-Konflikts sowie über die „richtigen“ Wege zu dessen Beendigung – oder Perpetuierung. - statt. Mit Ausnahme der westlich-liberal orientierten Intellektuellen weist man in Russland die Schuld am neuen Ost-West-Konflikt den Amerikanern und ihren NATO-Verbündeten zu. Die Wiedereingliederung der Krim und die Erhebung der Russen im Donbass gegen die ukrainischen „Faschisten“ oder wahlweise „Bandera-Banditen“ sei die defensive Antwort auf das geo- und militärstrategische Vordringen der USA im Osten Europas. Zu den Verteidigern der russischen Politik und Anklägern Washingtons zählt auch Michail Gorbatschow, der einst anno 1989/90 als letzten Ausweg aus der tiefen Krise des Sowjetreiches die deutsche Wiedervereinigung zuließ und durch Aufgabe des sowjetrussischen Machtbereichs im östlichen Europa den Kalten Krieg beendete. (https://de.nachrichten.yahoo.com/gorbatschow-warnt-vor-krieg-wegen-der-ukraine-krise-165010301.html)

Aus westlicher Sicht trägt die Verantwortung für den Krieg in der Ost-Ukraine ausschließlich der russische Präsident Putin. Selbst die Minderheit derer, die für Verständnis der russischen Politik werben - wie etwa Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder - räumen ein, dass Russland mit der Sezession und Annexion der Krim sowie der Unterstützung der Separatisten im Donbass das Völkerrecht – den Vertrag von 1994 über den politisch-militärischen Status der seit 1991 unabhängigen Ukraine sowie die KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975– verletzt hat. „Putin-Versteher“ finden in den westlichen Medien, in den meisten westlichen Hauptstädten sowie in den NATO-Stäben kein Verständnis. Die Rede ist von feigem Appeasement und Verrat an westlichen Werten.

Seit Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 das Konzept einer „monopolaren Welt“, sprich: der unangefochtenen Hegemonie der USA, wie sie Zbigniew Brzezinski (The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives, 1997) proklamierte, in aller Schärfe zurückwies, geht in Europa wieder ein altes Gespenst um: der Expansionismus des russischen Imperiums unter dem neuen Autokrator.

Immerhin gibt es unter den insbesondere hierzulande vielgeschmähten „Putin-Verstehern“ auch politisch – und moralisch - unverdächtige Zeugen wie den Chicagoer Politikwissenschaftler John Mearsheimer, Protagonist der „realistischen“ Denkschule. Mearsheimer steht für eine Position, die jenseits von Werturteilen, das russische Verhalten in Beziehung setzt zur westlichen, insbesondere amerikanischen Politik seit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums. Seine Argumentation folgt weitgehend der russischen Perspektive, die im Rückblick auf die deutsche Wiedervereinigung sowie die 2-4-Verträge von einem west-östlichen Einvernehmen über die Nichtausdehnung der NATO über die - erst 1990 endgültig fixierte - deutsch-polnische Grenze an Oder und Neiße ausging. Spätestens mit den Verhandlungen mit der Ukraine und mit Georgien über einen NATO-Beitritt sei für Russland eine geopolitische und geostrategische Grenzlinie überschritten gewesen. Die russische Politik sei eher als reaktiv denn als aggressiv zu bewerten.

Man kann gegen diese Sicht der Dinge einwenden, dass Russland nach Ende des Kalten Krieges 1989/90 seinerseits keineswegs die Rolle des Friedensengels spielte. Zur historisch-politischen Realität gehört, dass die Auflösung des Sowjetimperiums 1989/1991 in Riga, Vilnius und in Tbilisi nicht ohne Blutvergießen verlief und in Georgien in einen – von Gobatschow angekündigten - „Bürgerkrieg“ mündete. ("Moskau heizt ein". Interview mit Swiad Gamsachurdia in: Der Spiegel 11/1991, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13488504.html.) ) Nichtsdestoweniger gehört zu den realpolitischen Fakten, dass auf dem „großen Schachbrett“ Brzezinskis die Ukraine eine strategische Hauptfigur darstellt, so dass spätestens seit den “orangenen Revolutionen” in Tbilisi und in Kiew für Moskau die geopolitische Reizschwelle überschritten war.

III.
Im Ukraine-Konflikt erleben wir die Wiederkehr alter historischer Gegebenheiten: die Inkongruenz von Macht- und/oder Geopolitik, Völkerrecht – Völkerrecht als vertragliche Fixierung friedensethischer Maximen und machtpolitisch fundierter Friedensvereinbarungen - „neuen“ historisch-politischen Konjunktionen sowie, last but not least von „subjektiven“ Faktoren, von historisch-kulturellen Traditionen, Antagonismen und Aspirationen von Völkern. Die Komplexität und Widersprüchlichkeit der genannten Faktoren wird manifest in dem teils völkerrechtlich festgeschrieben, teils „umstrittenen“ Prinzip der Selbstbestimmung von Nationen und/oder Minderheiten. Es steht außer Frage, dass das genannte Prinzip in machtpolitischen Auseinandersetzungen von interessierter Seite jederzeit instrumentalisierbar ist.

Eben diese Melange von Faktoren, die eine stabile Friedensordnung immer wieder in Frage stellen können, kam beim Zerfall Jugoslawiens in den 1990er Jahren zur Eruption. Sie tritt kontinuierlich in den seit 1991 anhaltenden, im Georgien-Krieg 2008 eklatierten Konflikten im Kaukasus, sodann seit dem blutigen Ende des Euromajdan in Kiew hervor.

Der Ukraine-Konflikt hat zudem gewisse Bruchlinien in der politischen Landschaft Europas hervortreten lassen. Das panslawistische Werben Putins findet bislang nur in Belgrad Resonanz. Dass indes Ungarns Präsident Viktor Orbán moskaufreundliche Zeichen setzt, muss als Novum in der ungarischen Geschichte erscheinen, wirkt vor dem Hintergrund des von Brüssel auf Budapest ausgeübten ideologisch-politischen Drucks indes nicht verwunderlich. Derzeit droht auch die neugewählte Links-Rechts-Regierung in Athen unter Alexis Tsipras mit einer politischen Hinwendung zu Russland.

Während die Bundesregierung unter Angela Merkel – offenbar ohne Rücksichtnahme auf die von Russlandgeschäften abhängigen deutschen Unternehmen - einerseits einen harten Sanktionskurs zu steuern scheint,  schließt sie andererseits  härtere Maßnahmen – Waffenlieferungen an die Ukraine oder gar direkte Intervention – kategorisch aus. In den derzeitigen Verhandlungen in Minsk zielt sie zusammen mit dem von spezifischen ökonomisch-politischen Sorgen bedrückten Präsidenten Francois Hollande offenbar auf einen Ausgleich mit Moskau.

IV.
Die Frage nach dem „richtigen“ Umgang mit Russland unter Putin hat in Deutschland die Protagonisten der „politisch interessierten Öffentlichkeit" entzweit. Auf den im Blog-Eintrag vom 5.12.2014 zitierten, von 60 „prominenten deutschen Persönlichkeiten aus Politik Wirtschaft und Kultur“ (Zitat aus: http://www.tagesspiegel.de/politik/gegen-aufruf-im-ukraine-konflikt-osteuropa-experten-sehen-russland-als-aggressor/11105530.htmö.) unterzeichneten Aufruf (verfasst von Horst Teltschik) zur Wiederherstellung einer friedlichen Entente mit Russland folgte eine Woche später ein Gegenaufruf von 100 „deutschsprachigen OsteuropaexpertInnen zu einer realitätsbasierten statt illusionsgeleiteten Russlandpolitik“ unter dem Titel „Friedenssicherung statt Expansionsbelohhnung“ (https://www.change.org/p/the-interested-german-public-friedenssicherung-statt-expansionsbelohnung-aufruf-von-%C3%BCber-100-deutschsprachigen-osteuropaexpertinnen-zu-einer-realit%C3%A4tsbasierten-statt-illusionsgeleiteten-russlandpolitik.)

Der Aufruf wurde von dem Osteuropa-Historiker Andreas Umland, derzeit tätig am Institute for Euro-Atlantic Cooperation in Kiew redigiert. Er besteht aus einem langen Sündenkatalog der machtpolitischen Verfehlungen Russlands gegenüber den  Nachbarländern. Die 100 „OsteuropaexpertInnen“ - unter den Unterzeichnern des auf Ausgleich mit Russland bedachten Aufrufs befinden sich nicht minder namhafte „Osteuropa-Experten“, nicht allein Persönlichkeiten wie Horst Teltschik – schließen mit einem Appell, der die Deutschen in ihre historisch-moralische Pflicht ruft: Die Ukrainische Sowjetrepublik verlor zwischen 1941 und 1944 mindestens fünf Millionen Menschen. Über zwei Millionen Ukrainer wurden als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt. Etwa vier Millionen ukrainische Rotarmisten nahmen an der Niederschlagung des Dritten Reiches teil. Gerade wir Deutschen können nicht abermals die Augen verschließen, wenn es um die Souveränität einer postsowjetischen Republik, ja um das Überleben des ukrainischen Staates geht.“

Was die Erinnerung an Leiden und Opfer der Ukrainer unter deutscher Besatzung betrifft, so wäre es verfehlt, ja schändlich, an dem Aufruf Anstoß zu nehmen. Problematisch ist indes die daraus abgeleitete politische Pflicht für „uns Deutsche“, in dem Konflikt um den Donbass (und die Krim) ohne Vorbehalt Partei zu ergreifen. Die Opferzahl der Russen und anderer nichtrussischer Völker im II. Weltkrieg lag in absoluten und relativen Zahlen noch höher. Derlei Argumente bestätigen nur den oben erwähnten „subjektiven“ Faktor - Emotionalität - als konfliktverschärfendes Moment.

V.
Eine einfache Lösung für den in Krieg ausgeuferten Konflikt zwischen Moskau und Kiew soll hier nicht proponiert werden. Zu verweisen ist auf den Aufsatz von Christian Wipperfürth in Globkult:
http://www.globkult.de/politik/welt/943-die-ukraine-der-westen-und-russland. In der FAZ v. 31.01.2015 sagte die Russland-Expertin Hélène Carrère d´Encausse, Generalsekreträrin der Académie Française: „Europa hat grundlegende Fehler gemacht und die Lage seit der [„orangen“] Revolution sträflich verkannt. Es hat mit der Ukraine verhandelt, nicht aber mit Russland. Die beiden Länder sind so eng verflochten, dass man die Ukraine nicht vor die Alternative ´Russland oder Europa´ stellen kann. Putin kann das unmöglich akzeptieren. Die Nato und Amerika haben hier schon gar nichts zu suchen. Leider hat sich die Europäische Union hinter den Vereinigten Staaten verschanzt. Sie sollte unter der Führung von Frankreich und Deutschand eine eigene Politik betreiben. Die Ukraine besteht aus zwei ganz unterschiedlichen Teilen. Es geht um ihr Überleben, eine Teilung wäre eine Tragödie. Die einzige Möglichkeit ist, dass die Ukraine dem russischsprachigen Teil eine gewisse Autonomie gibt im Rahmen eines föderalistischen Systems. Russland will sich keineswegs die Ukraine einverleiben. Das hat Putin deutlich gesagt.“

Es wäre die Kunst der Politik, herauszufinden, ob Putins Worte ernst gemeint sind, und ihn dazu zu bewegen, den Worten Taten folgen zu lassen. Mit ähnlichen Gedanken dürften  Merkel und Hollande nach Minsk geflogen sein...

Nachbemerkung:  Der obige Text ist in Ergänzung zu meinem Blog-Eintrag vom 05.12.2014 "Friedensbekundung deutscher Refuseniks"  (http://herbert-ammon.blogspot.de/.) zu lesen, der von einem Freund kritisch aufgenommen wurde. Vgl. auch die Überlegungen in "Danzig, Donezk, Dresden. Dazu das Positive zum Neuen Jahr 2015" vom 03.01.2015, http://herbert-ammon.blogspot.de/2015/01/fragen-das-abendland-charlie-und-den.html.


Dienstag, 10. Februar 2015

Essay zu "deutschem Gedenken" in "Globkult"

Ich verweise die Leser meines Blogs auf meinen soeben in "Globkult" erschienenen Aufsatz
"Fragen zu deutschem Gedenken unter den Bedingungen der neuen Gesellschaft"


Der Essay berührt sich in einigen Aspekten mit den in meinen Blog-Einträgen vom 03.01.2015 "Danzig, Donezk, Dresden..." http://herbert-ammon.blogspot.de/2015/01/wo-bleibt-das-positive-verspateter.html  sowie  "Fragen zu: Abendland, Charlie, Islam" http://herbert-ammon.blogspot.de/2015/01/fragen-das-abendland-charlie-und-den.html  vom 25.01.2015 vorgetragenen Thesen.

Zur Ergänzung und Erhellung der die künftige deutsche und europäische Identität betreffenden Problematik empfehle ich auch das Interview des aus Algerien stammenden Autors Boualem Sansal in der taz v. 25.01.2015:  http://www.taz.de/!153412/

Montag, 9. Februar 2015

Fukuyamas Weltsicht

I.
In der  im Café, Ziel des Sonntagsspaziergangs, verfügbaren  Welt am Sonntag (v. 08.02.2015) war ein Aufsatz des amerikanischen Politkwissenschaftlers Francis Fukuyama zu lesen. Er fragte in der Überschrift: "Warum steht es so schlecht um die Demokratie?".  Fukuyama,  heute an der Stanford University lehrend, hatte bereits vor dem Mauerfall im Sommer 1989 in Irving Kristols neokonservativer Zeitschrift The National Interest den welthistorischen Sieg des westlichen Liberalismus (= Kapitalismus plus liberale Demokratie) konstatiert und  -  in aktualisierter und trivialisierter Adaption Hegels - das "Ende der Geschichte" - verkündet: "What we may be witnessing is not just the end of the Cold War, or the passing of a particular period of post-war history, but the end of history as such: that is, the end point of mankind's ideological evolution and the universalization of Western liberal democracy as the final form of human government."

Der Aufsatz war vor dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking entstanden - eine blutige Intervention, die Fukuyamas weltgeschichtlichen Optimismus hinsichtlich der globalen Tendenz zu Demokratie, Marktwirtschaft und Frieden hätte dämpfen müssen. Immerhin bestätigte ihn der Zerfall des Sowjetimperiums -  welcher Zeitgenosse erinnert sich noch an Ronald Reagan und dessen Eliot-Zitat: "not with a bang but with a whimper"? - in seiner Weltsicht, so dass er anno 1992 das spektakuläre Buch "The End of History and the Last Man" vorlegen konnte.

II.
In dem in der WamS veröffentlichten Artikel hält Fukuyama an seiner Vision fest. Die Hauptursache für deren augenscheinliches Scheitern in der Realität - ob im blutig zerronnenen "arabischen Frühling", ob in Afghanistan, im Irak, in Singapur (!), in China,  in Russland oder in Indien -  sieht der Politikwissenschaftler in einem Strukturproblem: im bis dato misslungenen Übergang von patrimonialen Herrschaftsformen zu  einer modernen, demokratisch rechtsstaatlichen Ordnung: "Die Lektion der letzten 25 Jahre ist die, dass die Ordnung moderner Staaten nicht Schritt hält mit de Entstehung demokratischer Institutionen. Selbst in den entwickelten Demokratien hat der Staat nicht mithalten können mit den Bedürfnissen der Bürger nach qualitativ anspruchsvollem Regierungshandeln. Das hat die Demokratie als solche delegitimiert." 

Selbst den Krieg in der östlichen Ukraine fügt Fukuyama in sein dogmenfestes, ahistorisches Erklärungsmuster: "Auch die Ukraine sei hier genannt, wo es den Trägern der Orangen Revolution nicht gelang, die Korruption zu überwinden, und dem Lande eine qualitativ anspruchsvolle Regierungsführung zu geben. So sehe ich den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine nicht als einen um Demokratie per se, sondern um den einer modernen gegen eine neopatrimoniale Ordnung."
Dass bei der "orangen Revolution" 2004, auf dem Majdan 2013/2014, bei der Annexion der Krim sowie im Krieg um den  Donbass neben der Korruption der Oligarchen ganz andere Faktoren  im Spiel waren und sind  -  macht- und geopolitische Wahrnehmungen, Interessen  und Projektionen, historische Erinnerungen sowie  kulturell-religiöse Emotionen -  kommt in Fukuyamas Weltsicht nicht vor.  Ebensowenig genügt das von Max Weber entlehnte, auf  Fukuyamas amerikanisches Selbstbild bezogene Begriffsinstrumentarium zur Analyse der vielfältigen, in der Tat  "undemokratischen" Zustände in den höchst unterschiedlichen Regionen der  "globalisierten"  Welt.

III.
Dass der Harvard-Historiker Samuel P. Huntington (1927-2008), anders als Fukuyama  ein amerikanischer liberal,  mit seinen "umstrittenen" Thesen vom "clash of civilizations" (1993/1998) womöglich näher an der historisch-politischen Realität gewesen sein könnte,  will bis heute keiner seiner liberalen Kritiker eingestehen, schon gar nicht  in Deutschland. Ohne offen dem als Neocon verdächtigen Fukuyama beizupflichten, hält man  - mit Ausnahme einiger gegen den "Neoliberalismus" opponierenden Alt-Linken  - entgegen aller Evidenz an der Vision einer  liberal-kapitalistisch befriedeten Welt  fest. Dass man zur Erreichung des Ziels sowie zur Gewinnung   "erweiterter Sicherheit" auf "robuste Einsätze", sprich militärische Mittel,  nicht verzichten kann, empfinden viele Verteidiger einer liberalen Weltordnung nicht als Widerspruch.


Montag, 2. Februar 2015

Zum Tode Richard von Weizsäckers

I.
Der Staatsakt zur Würdigung des am 31. Januar 2015 verstorbenen Richard von Weizsäcker ist auf den 11. Februar angesetzt. Die  Zeitungen sind voll von Nachrufen, die Weizsäckers historische Bedeutung anhand seiner Rollen im Deutschland der Nachkriegszeit beleuchten: als Verteidiger seines Vaters Ernst von Weizsäcker im Nürnberger Wilhelmstraßenprozess, als  Jurist und  Manager bei C.H. Böhringer Ingelheim, als führender Repräsentant des deutschen Protestantismus, als von Helmut Kohl geförderter CDU-Politiker, als Unterstützer der "neuen Ostpolitik" im Bundestag, als Regierender Bürgermeister in West-Berlin, sodann in seiner biographisch herausragenden Rolle als Bundespräsident, zuletzt als hochgeehrte, der Tagespolitik der Berliner Republik entrückte Persönlichkeit, dessen Kritik am selbstgerecht bürgerfernen Parteienstaat die classe politica  nicht zur Kenntnis nahm.

II.
Im Mittelpunkt der Würdigungen steht naturgemäß die Große Rede Weizsäckers im Bundestag am 8. Mai 1985, in der er als erster Staatsmann der Bundesrepublik den 8.Mai 1945, den Tag, an dem das "Dritte Reich" durch die Kapitulation der großdeutschen Wehrmacht endete, einen "Tag der Befreiung" nannte. Mit Ausnahme einer als "Stahlhelm-Fraktion" titulierten Gruppe in seiner Partei (sowie der ohnehin Unbelehrbaren auf der extremen außerparlamentarischen Rechten) erntete Weizsäcker für seine als befreiend deklarierte Rede nichts als lobende Worte.

Im Unterschied zu meiner preußisch-protestantischen Mutter, die  - im Januar 1945 mit drei Kindern und ihrer Mutter aus Schlesien geflüchtet - der Rede ohne Einschränkung zustimmte und selbst an der sprachlich missglückten Formel von der "unfreiwilligen Wanderschaft" keinen Anstoß nahm, bewahrte ich gegenüber der Rede gewisse Vorbehalte. Zum einen missfiel mir die verniedlichende Wortwahl, zum anderen vermisste ich einen Hinweis auf die historisch reale "Dialektik der Befreiung" - zu den menschlichen, politischen und ideellen Kosten der "Befreiung von außen" durch die Siegermächte - sowie einen Hinweis auf die Tragik des 20. Juli 1944. (Ich darf die Leser des Blogs auf einen Aufsatz "Zur Dialektik der Befreiung"  hinweisen, den ich anno 1985 - auf Anfrage, nicht aus eigenen Stücken -  für das  Freidenker-Magazin verfasste und den ich zum 70. Jahrestag des Kriegsendes auf meinem Blog einstellen werde, sofern er in meinem Zeitschriftenstapel auffindbar sein sollte.)

Unschwer war bei der "Rede"  zu erkennen,  dass es Weizsäcker nicht so sehr um befreiende Worte für die von der Geschichtslast und den Folgen des Nazismus bedrückten Deutschen ging, sondern um die eigene Biographie. Als  Sohn des in das NS-Regime - maßgeblich aus persönlichem Ehrgeiz - in hochrangiger Funktion verstrickten Staatssekretärs im AA betrieb Richard  von Weizsäcker, im Krieg hochdekorierter Wehrmachtsoffizier,  höchsteigene Gewissenserforschung, wo er vom Sehen-Können und nicht Wissen-Wollen sprach. Es ging um die politische, moralische und persönliche Schuldverwicklung der Familie Weizsäcker - der Bruder Carl Friedrich baute an der deutschen Atombombe -, in deren Geschichte die verhängnisvolle Rolle der alten bürgerlich-konservativen Eliten vor und nach 1933 beispielhaft hervortritt, sodann erst um die historisch-politischen Konsequenzen der deutschen Katastrophe.

In dem Gedenkaufsatz  in der heutigen FAZ (v. 02.02.2015, S. 9) aus der Feder  des Stefan-George-Biographen Thomas Karlauf  ("Die Herrschaft der geistigen Hand")  werden die Nuancen in der  Persönlichkeit des Verstorbenen sowie dessen Umgang mit der eigenen Biographie sichtbar. Zweifelhaft lyrisch, nicht historisch analytisch, klingt dabei der folgende Satz: "Liest man die die berühmte Rede zum 8. Mai Weizsäcker als heimliches Zwiegespräch mit dem Vater, dann lässt sich ermessen, wie viel Trauerarbeit Richard von Weizsäcker der Nation damals abgenommen hat." Schief: Die Trauerarbeit zielte eher auf historischen Mehrwert im Interesse des Familienunternehmens...

III.
Richard von Weizsäcker steht  für das durch historisches Scheitern geschärfte, durch protestantische Glaubenshaltung  sensibilisierte Selbstverständnis eines Teils der Eliten, die ihren Führungsanspruch in der alten Bundesrepublik aufrechterhielten und aufrecht erhalten konnten. Was ihn von dem  ihm wohlgesonnenen  linksliberalen Ideologieestablishment unterschied:  Er wirkte auf seine Weise - anno 1985 gemindert durch "Trauerarbeit" - in einem Land, das nur noch postnationalen "Verfassungspatriotismus" à la Habermas gelten lassen wollte, als Patriot im geteilten Land. Dazu gehören nicht nur seine Reisen in die DDR und die engen Beziehungen zu den protestantischen Kirchenvertretern jenseits der Grenze. Als Regierender Bürgermeister (1981-1984) erklärte er die "Deutsche Frage" für offen, "solange das Brandenburger Tor zu ist". Er  knüpfte Kontakte über die Mauer hinweg zu Ost-Berliner Funktionsträgern, bis hinauf zu Erich Honecker, ohne dazu die über ihre Vorbehaltsrechte wachenden Alliierten um Erlaubnis zu fragen.

Schließlich sei eine Episode in Erinnerung gerufen, die in den vielen Nachrufen kaum Erwähnung finden dürfte. In den Jahren der von der Raketendebatte ausgelösten Friedensbewegung bekundete Weizsäcker Interesse  für die damit unerwartet aufgebrochene Frage nach "deutscher Identität". Nach dem Erscheinen des von Wolfgang Venohr herausgegebenen Buches Die deutsche Einheit kommt bestimmt, zu dem Peter Brandt und ich einen Beitrag geliefert hatten,  hielt Weizsäcker das  Buch im Bundestag in die Höhe und erinnerte die irritierten Abgeordneten an die ungelöste "Deutsche Frage". Das war anno 1982.