I.
Unser Bundespräsident Gauck liebt gefühlsbetonte Auftritte. Mal ist er zu Tränen gerührt, wenn er, neben Obama stehend, den schwer erkämpften Sieg der Freiheit feiert und den Klängen der ziemlich martialischen amerikanischen Nationalhymne lauscht, mal ist er freudig lächend bewegt, wie gestern Arm in Arm mit Poroschenko und einem mir unbekannten Marschierer, mit Tusk, Komorowski und anderen in vorderster Reihe, zum Gedenken des Sturzes von Janukowitsch und der über 100 Toten auf dem Majdan vor einem Jahr.
Wir dürfen noch hoffen, dass das Minsker Abkommen (Minsk II) trotz - oder aufgrund - der Einnahme der Stadt Debalzewo durch die von der Waffenruhe offenbar unbeeindruckten "pro-russischen " Separatisten/Annexionisten einen Zustand herbeiführt, der immerhin besser ist als Krieg. Nicht auszuschließen ist, dass das blutige Spiel um den Donbass, um eine Landbrücke zur Krim und womöglich noch weitere Regionen "Neu-Russlands", eine Fortsetzung erlebt. Das wäre fatal für alle, für Merkel und Hollande, für "uns Deutsche", für den bereits in vielerlei blutige, schier unlösbare Konflikte (e.g. Afghanistan, Syrien/Iraq, Libyen) verwickelten Westen unter US-Ägide, aber auch für Russland unter Putin.
Eine Prognose sei an dieser Stelle vermieden. Zur Analyse verweise ich auf den Eintrag von vor einem Jahr "BHL auf dem Majdan" (http://herbert-ammon.blogspot.de/2014/03/bhl-auf-dem-majdan.html., v. 05.03.2014) sowie auf den entsprechenden Kommentar von vorletzter Woche (11.02.2015).
II.
Die erwähnten Konflikte - dazu die Zustände im "demokratischen" Kosovo und in aller Welt - bescheren Westeuropa, insbesondere dem paradiesisch "reichen" Deutschland, Flüchtlingsströme in bis dato ungeahnter Zahl. Während die Kommunen vor offenbar unlösbaren Problemen stehen, melden sich aus der definitionsresistenten Zivilgesellschaft die Stimmen höchster Moral. Hier erweist sich die politische Stärke der Zivilgesellschaft: Sie reicht von der "Antifa" ("Refugees welcome!"; "Keiner ist illegal"; "No tears for Krauts!") über diverse Flüchtlingsräte bis in die evangelische Kirche, die durch die Praxis des "Kirchenasyls" in Konflikt mit Innenminister Thomas de Maizière, selbst gläubiger Protestant, geraten ist.
III.
Die hohe Moral von insbesondere protestantischen Kirchenoberen kommt stets dann zum Vorschein, wenn es um die Bewältigung der Vergangenheit, id est die "deutsche Schuld", geht, z.B. in der nordbadischen Stadt Pforzheim. Dort kamen beim Bombenangriff am 23. Februar 1945 18 000 Menschen, ein
Drittel der Bevölkerung, zu Tode (was wiederum die von der unabhängigen
Historikerkommission anno 2010 ermittelte Dresdner Opferzahl von "maximal 25
000" in überaus plausible Relation setzt). Vor einem Jahr erklärte die erst eineinhalb Jahre zuvor in Pforzheim zugezogene Stadtdekanin Christiane Quincke anlässlich einer Kundgebung "Flagge zeigen - Pforzheim nazifrei" den historisch-theologischen Sachverhalt wie folgt:
"Aber Pforzheim war keine unschuldige Stadt. Die Flagge der Nationalsozialisten wehte auf zentralen Plätzen. In Pforzheim wurden Zeitzünder und andere technische Finessen für den Krieg gefertigt. Das rechtfertigt keine Bombardierung auf die Zivilbevölkerung. Aber es erklärt sie." So das Zitat in: FAZ v. 23.02.2015, S. 2. Weiter: "´Versöhnung´", sagt(e) Quincke, "kann es nur geben, wenn man sich selbst fragt, was man zum Unfrieden beigetragen hat.´"
Das hat man sich in der Tat zu fragen (u.a. als Kirchensteuerzahler). Von den Überlebenden fragt sich mancher, ob dies der rechte Seelentrost für die Toten sei, für deren Kinder oder für die Enkel der Davongekommenen. Ein 81jähriger Pforzheimer Schmuckfabrikant, damals ein Junge von 11 Jahren, sagt, mit Tränen in den Augen, dem berichterstattenden Journalisten, er habe Jahrzehnte über seine Erlebnisse im Februar 1945 geschwiegen. "Wir sind böse. Das, was die Dekanin macht, nenne ich Predigen ohne Mandat." Natürlich vergebe er. Beim Vergeben sei es indes wesentlich zu wissen, was man eigentlich vergebe. Er evoziert die Bilder, die ihn seit seiner damals beendigten Kindheit verfolgen. Zum Verzeihen gehöre die Wahrheit, und die komme "im mehrwöchigen Gedenkreigen der Stadt zu kurz", heißt es in dem Bericht aus Pforzheim.
Für den amerikanischen Philosophen John D. Rawls (1921-2002) - er überlebte als Soldat den Krieg im Pazifik, verlor dabei aber seinen christlichen Glauben - gab es von einem bestimmten Zeitpunkt an, spätestens seit Herbst 1943, keine (kriegs-)ethisch zu rechtfertigende Begründung, den Bombenkrieg gegen die Zivilbevölkerung zu führen. Im Winter und Frühjahr 1945, als der Krieg für die Alliierten längst gewonnen war, bestand dafür erst recht keine Notwendigkeit mehr.
IV.
Zur Versöhnung und Vergebung gehörte für alle Seiten die offene, unbefangene, interessen- und ideologiefreie Betrachtung der Schrecken der Vergangenheit. Unserem Bundespräsidenten, der beim letzten Gedenken der Zerstörung Dresdens den gewohnten Schuldzusammenhang herstellte, fehlt es nicht an rhetorischer Begabung, wohl aber an historisch-politischer Klarheit. Sein pastoraler Habitus kommt allenthalben - Spiegel-online und Junge Welt ausgenommen - gut an. Und ihm selbst bereitet es sichtlich Vergnügen, amtsbedingt, an vielen Orten in vorderster Reihe mitzuziehen.
Montag, 23. Februar 2015
Mittwoch, 11. Februar 2015
Zum Krieg in Osteuropa: Die Inkongruenz von Macht, Recht und dem "subjektiven Faktor"
Zum Krieg in
Ost-Europa: Die Inkongruenz von Macht, Recht
und dem "subjektiven" Faktor
und dem "subjektiven" Faktor
I.
Auf dem Waldfriedhof in
Berlin-Zehlendorf wird an diesem Februartag 2015 nach dem Staatsakt
im Berliner Dom der verstorbene Richard von Weizsäcker zu Grabe getragen, Repräsentant einer Ära, in
der der Kalte Krieg mit dem spektakulären
Mauerfall endete und in eine Phase des Weltfriedens einzumünden
schien. Währenddessen schickt sich die
Bundeskanzlerin Merkel an, zusammen mit dem französischen
Präsidenten an ihrer Seite, in Minsk in Verhandlungen mit dem
allenthalben als russisch-imperialer Aggressor wahrgenommenen
Präsidenten Putin eine Art Friedensschluss, wenigstens einen
Waffenstillstand im Krieg der „prorussischen“ Separatisten und
der Ukraine herbeizuführen.
Über den Ausgang dieser
Gespräche ist hier nicht zu spekulieren. Es ist vorstellbar, dass
Putin ökonomisch sowie – im Falle amerikanischer
Waffenlieferungen an Kiew - militärisch unter Druck, zum Einlenken
bereit ist. Die Gegenleistung EU-Europas, vertreten durch
Merkel-Hollande, bestünde darin, die Annexion der Krim sowie die
derzeitigen Frontlinien im Donbass als faits accomplis anzuerkennen. Es ist aber
auch denkbar, dass die Verhandlungen nur in eine Neuauflage der
Minsker Vereinbarungen vom September 2014 resultieren - ein
Waffenstillstand, der von der einen oder anderen Seite alsbald
wieder unterlaufen wird.
So oder so: Ein Ende des
Krieges in der östlichen Ukraine ist erst abzusehen, wenn der einen
oder der anderen Seite, der Regierung in Kiew oder Putin in Moskau
die materiellen - und politischen - Kosten des unerklärten Krieges
untragbar erscheinen, so dass sie sich zum Nachgeben, zu einer Art
Frieden genötigt sieht.
II.
Vor dem Hintergrund des Krieges im Donbass finden in West- und
Osteuropa Kontroversen über Ursachen und Wesen des erneuerten
Ost-West-Konflikts sowie über die „richtigen“ Wege zu dessen
Beendigung – oder Perpetuierung. - statt. Mit Ausnahme der
westlich-liberal orientierten Intellektuellen weist man in Russland
die Schuld am neuen Ost-West-Konflikt den Amerikanern und ihren
NATO-Verbündeten zu. Die Wiedereingliederung der Krim und die
Erhebung der Russen im Donbass gegen die ukrainischen „Faschisten“
oder wahlweise „Bandera-Banditen“ sei die defensive Antwort auf
das geo- und militärstrategische Vordringen der USA im Osten
Europas. Zu den Verteidigern der russischen Politik und Anklägern
Washingtons zählt auch Michail Gorbatschow, der einst anno 1989/90
als letzten Ausweg aus der tiefen Krise des Sowjetreiches die
deutsche Wiedervereinigung zuließ und durch Aufgabe des
sowjetrussischen Machtbereichs im östlichen Europa den Kalten Krieg
beendete. (https://de.nachrichten.yahoo.com/gorbatschow-warnt-vor-krieg-wegen-der-ukraine-krise-165010301.html)
Aus westlicher Sicht trägt
die Verantwortung für den Krieg in der Ost-Ukraine ausschließlich
der russische Präsident Putin. Selbst die Minderheit derer, die für
Verständnis der russischen Politik werben - wie etwa
Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder - räumen ein, dass Russland mit
der Sezession und Annexion der Krim sowie der Unterstützung der
Separatisten im Donbass das Völkerrecht – den Vertrag von 1994
über den politisch-militärischen Status der seit 1991 unabhängigen
Ukraine sowie die KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975– verletzt hat.
„Putin-Versteher“ finden in den westlichen Medien, in den
meisten westlichen Hauptstädten sowie in den NATO-Stäben kein
Verständnis. Die Rede ist von feigem Appeasement und Verrat an
westlichen Werten.
Seit Putin auf der
Münchner Sicherheitskonferenz 2007 das Konzept einer „monopolaren
Welt“, sprich: der unangefochtenen Hegemonie der USA, wie sie
Zbigniew Brzezinski (The
Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic
Imperatives, 1997) proklamierte, in aller
Schärfe zurückwies, geht in Europa wieder ein altes Gespenst um:
der Expansionismus des russischen Imperiums unter dem neuen
Autokrator.
Immerhin gibt es
unter den insbesondere hierzulande vielgeschmähten
„Putin-Verstehern“ auch politisch – und moralisch -
unverdächtige Zeugen wie den Chicagoer Politikwissenschaftler John
Mearsheimer, Protagonist der „realistischen“ Denkschule.
Mearsheimer steht für eine Position, die jenseits von Werturteilen,
das russische Verhalten in Beziehung setzt zur westlichen,
insbesondere amerikanischen Politik seit dem Zusammenbruch des
Sowjetimperiums. Seine Argumentation folgt weitgehend der russischen Perspektive,
die im Rückblick auf die deutsche Wiedervereinigung sowie die
2-4-Verträge von einem west-östlichen Einvernehmen über die
Nichtausdehnung der NATO über die - erst 1990 endgültig fixierte - deutsch-polnische Grenze an Oder
und Neiße ausging. Spätestens mit den Verhandlungen mit der
Ukraine und mit Georgien über einen NATO-Beitritt sei für Russland
eine geopolitische und geostrategische Grenzlinie überschritten
gewesen. Die russische Politik sei eher als reaktiv denn als aggressiv zu
bewerten.
Man kann gegen diese
Sicht der Dinge einwenden, dass Russland nach Ende des Kalten Krieges
1989/90 seinerseits keineswegs die Rolle des Friedensengels spielte.
Zur historisch-politischen Realität gehört, dass die Auflösung des
Sowjetimperiums 1989/1991 in Riga, Vilnius und in Tbilisi nicht ohne
Blutvergießen verlief und in Georgien in einen – von Gobatschow
angekündigten - „Bürgerkrieg“ mündete. ("Moskau heizt ein". Interview mit Swiad Gamsachurdia in: Der Spiegel 11/1991, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13488504.html.) ) Nichtsdestoweniger
gehört zu den realpolitischen Fakten, dass auf dem „großen
Schachbrett“ Brzezinskis
die Ukraine eine strategische Hauptfigur darstellt, so dass
spätestens seit den “orangenen Revolutionen” in Tbilisi und in
Kiew für Moskau die geopolitische Reizschwelle überschritten war.
III.
Im Ukraine-Konflikt
erleben wir die Wiederkehr alter historischer Gegebenheiten: die
Inkongruenz von Macht- und/oder Geopolitik, Völkerrecht –
Völkerrecht als vertragliche Fixierung friedensethischer Maximen und
machtpolitisch fundierter
Friedensvereinbarungen - „neuen“ historisch-politischen
Konjunktionen sowie, last but not least
von
„subjektiven“ Faktoren,
von historisch-kulturellen Traditionen, Antagonismen und Aspirationen von Völkern.
Die Komplexität und Widersprüchlichkeit der genannten Faktoren wird
manifest in dem teils völkerrechtlich festgeschrieben, teils
„umstrittenen“ Prinzip der Selbstbestimmung von Nationen
und/oder Minderheiten. Es steht außer Frage, dass das genannte
Prinzip in machtpolitischen Auseinandersetzungen von interessierter
Seite jederzeit instrumentalisierbar ist.
Eben diese Melange
von Faktoren, die eine stabile Friedensordnung immer wieder in Frage
stellen können, kam beim Zerfall Jugoslawiens in den 1990er Jahren
zur Eruption. Sie tritt kontinuierlich in den seit 1991 anhaltenden,
im Georgien-Krieg 2008 eklatierten Konflikten im Kaukasus, sodann
seit dem blutigen Ende des Euromajdan in Kiew hervor.
Der Ukraine-Konflikt hat zudem
gewisse Bruchlinien in der politischen Landschaft Europas
hervortreten lassen. Das panslawistische Werben Putins findet bislang
nur in Belgrad Resonanz. Dass indes Ungarns Präsident Viktor
Orbán moskaufreundliche Zeichen setzt, muss als Novum in der
ungarischen Geschichte erscheinen, wirkt vor dem Hintergrund des von
Brüssel auf Budapest ausgeübten ideologisch-politischen Drucks
indes nicht verwunderlich. Derzeit droht auch die neugewählte
Links-Rechts-Regierung in Athen unter Alexis Tsipras mit einer
politischen Hinwendung zu Russland.
Während die
Bundesregierung unter Angela Merkel – offenbar ohne Rücksichtnahme
auf die von Russlandgeschäften abhängigen deutschen Unternehmen -
einerseits einen harten Sanktionskurs zu steuern scheint,
schließt sie andererseits härtere Maßnahmen – Waffenlieferungen an die
Ukraine oder gar direkte Intervention – kategorisch aus. In den
derzeitigen Verhandlungen in Minsk zielt sie zusammen mit dem von
spezifischen ökonomisch-politischen Sorgen bedrückten Präsidenten
Francois Hollande offenbar auf einen Ausgleich mit Moskau.
IV.
Die Frage nach dem
„richtigen“ Umgang mit Russland unter Putin hat in Deutschland
die Protagonisten der „politisch interessierten Öffentlichkeit"
entzweit. Auf den im Blog-Eintrag vom 5.12.2014 zitierten, von 60
„prominenten deutschen Persönlichkeiten aus Politik Wirtschaft
und Kultur“ (Zitat aus:
http://www.tagesspiegel.de/politik/gegen-aufruf-im-ukraine-konflikt-osteuropa-experten-sehen-russland-als-aggressor/11105530.htmö.)
unterzeichneten Aufruf (verfasst von Horst Teltschik) zur
Wiederherstellung einer friedlichen Entente mit Russland folgte eine Woche später ein Gegenaufruf von 100
„deutschsprachigen OsteuropaexpertInnen zu einer realitätsbasierten
statt illusionsgeleiteten Russlandpolitik“ unter dem Titel
„Friedenssicherung statt Expansionsbelohhnung“
(https://www.change.org/p/the-interested-german-public-friedenssicherung-statt-expansionsbelohnung-aufruf-von-%C3%BCber-100-deutschsprachigen-osteuropaexpertinnen-zu-einer-realit%C3%A4tsbasierten-statt-illusionsgeleiteten-russlandpolitik.)
Der Aufruf wurde von
dem Osteuropa-Historiker Andreas Umland, derzeit tätig am Institute
for Euro-Atlantic Cooperation in Kiew redigiert. Er besteht aus
einem langen Sündenkatalog der machtpolitischen Verfehlungen
Russlands gegenüber den Nachbarländern. Die 100 „OsteuropaexpertInnen“
- unter den Unterzeichnern des auf Ausgleich mit Russland bedachten
Aufrufs befinden sich nicht minder namhafte „Osteuropa-Experten“,
nicht allein Persönlichkeiten wie Horst Teltschik – schließen
mit einem Appell, der die Deutschen in ihre historisch-moralische
Pflicht ruft: „Die
Ukrainische Sowjetrepublik verlor zwischen 1941 und 1944 mindestens
fünf Millionen Menschen. Über zwei Millionen Ukrainer wurden als
Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt. Etwa vier Millionen
ukrainische Rotarmisten nahmen an der Niederschlagung des Dritten
Reiches teil. Gerade wir Deutschen können nicht abermals die Augen
verschließen, wenn es um die Souveränität einer postsowjetischen
Republik, ja um das Überleben des ukrainischen Staates geht.“
Was
die Erinnerung an Leiden und Opfer der Ukrainer unter deutscher
Besatzung betrifft, so wäre es verfehlt, ja schändlich, an dem
Aufruf Anstoß zu nehmen. Problematisch ist indes die daraus abgeleitete
politische Pflicht für „uns Deutsche“, in dem Konflikt um den
Donbass (und die Krim) ohne Vorbehalt Partei zu ergreifen. Die
Opferzahl der Russen und anderer nichtrussischer Völker im II.
Weltkrieg lag in absoluten und relativen Zahlen noch höher. Derlei
Argumente bestätigen nur den oben erwähnten „subjektiven“
Faktor - Emotionalität - als konfliktverschärfendes Moment.
V.
Eine
einfache Lösung für den in Krieg ausgeuferten Konflikt zwischen
Moskau und Kiew soll hier nicht proponiert werden. Zu verweisen ist
auf den Aufsatz von Christian Wipperfürth in Globkult:
http://www.globkult.de/politik/welt/943-die-ukraine-der-westen-und-russland.
In der FAZ v.
31.01.2015 sagte die Russland-Expertin Hélène Carrère d´Encausse,
Generalsekreträrin der Académie Française:
„Europa
hat grundlegende Fehler gemacht und die Lage seit der [„orangen“]
Revolution sträflich verkannt. Es hat mit der Ukraine verhandelt,
nicht aber mit Russland. Die beiden Länder sind so eng verflochten,
dass man die Ukraine nicht vor die Alternative ´Russland oder
Europa´ stellen kann. Putin kann das unmöglich akzeptieren. Die
Nato und Amerika haben hier schon gar nichts zu suchen. Leider hat
sich die Europäische Union hinter den Vereinigten Staaten
verschanzt. Sie sollte unter der Führung von Frankreich und
Deutschand eine eigene Politik betreiben. Die Ukraine besteht aus
zwei ganz unterschiedlichen Teilen. Es geht um ihr Überleben, eine
Teilung wäre eine Tragödie. Die einzige Möglichkeit ist, dass die
Ukraine dem russischsprachigen Teil eine gewisse Autonomie gibt im
Rahmen eines föderalistischen Systems. Russland will sich
keineswegs die Ukraine einverleiben. Das hat Putin deutlich gesagt.“
Es
wäre die Kunst der Politik, herauszufinden, ob Putins
Worte ernst gemeint sind, und ihn dazu zu bewegen, den Worten
Taten folgen zu lassen. Mit ähnlichen Gedanken dürften
Merkel und Hollande nach Minsk geflogen sein...
Nachbemerkung: Der obige Text ist in Ergänzung zu meinem Blog-Eintrag vom 05.12.2014 "Friedensbekundung deutscher Refuseniks" (http://herbert-ammon.blogspot.de/.) zu lesen, der von einem Freund kritisch aufgenommen wurde. Vgl. auch die Überlegungen in "Danzig, Donezk, Dresden. Dazu das Positive zum Neuen Jahr 2015" vom 03.01.2015, http://herbert-ammon.blogspot.de/2015/01/fragen-das-abendland-charlie-und-den.html.
Nachbemerkung: Der obige Text ist in Ergänzung zu meinem Blog-Eintrag vom 05.12.2014 "Friedensbekundung deutscher Refuseniks" (http://herbert-ammon.blogspot.de/.) zu lesen, der von einem Freund kritisch aufgenommen wurde. Vgl. auch die Überlegungen in "Danzig, Donezk, Dresden. Dazu das Positive zum Neuen Jahr 2015" vom 03.01.2015, http://herbert-ammon.blogspot.de/2015/01/fragen-das-abendland-charlie-und-den.html.
Dienstag, 10. Februar 2015
Essay zu "deutschem Gedenken" in "Globkult"
Ich verweise die Leser meines Blogs auf meinen soeben in "Globkult" erschienenen Aufsatz
"Fragen zu deutschem Gedenken unter den Bedingungen der neuen Gesellschaft"
Der Essay berührt sich in einigen Aspekten mit den in meinen Blog-Einträgen vom 03.01.2015 "Danzig, Donezk, Dresden..." http://herbert-ammon.blogspot.de/2015/01/wo-bleibt-das-positive-verspateter.html sowie "Fragen zu: Abendland, Charlie, Islam" http://herbert-ammon.blogspot.de/2015/01/fragen-das-abendland-charlie-und-den.html vom 25.01.2015 vorgetragenen Thesen.
Zur Ergänzung und Erhellung der die künftige deutsche und europäische Identität betreffenden Problematik empfehle ich auch das Interview des aus Algerien stammenden Autors Boualem Sansal in der taz v. 25.01.2015: http://www.taz.de/!153412/
"Fragen zu deutschem Gedenken unter den Bedingungen der neuen Gesellschaft"
Der Essay berührt sich in einigen Aspekten mit den in meinen Blog-Einträgen vom 03.01.2015 "Danzig, Donezk, Dresden..." http://herbert-ammon.blogspot.de/2015/01/wo-bleibt-das-positive-verspateter.html sowie "Fragen zu: Abendland, Charlie, Islam" http://herbert-ammon.blogspot.de/2015/01/fragen-das-abendland-charlie-und-den.html vom 25.01.2015 vorgetragenen Thesen.
Zur Ergänzung und Erhellung der die künftige deutsche und europäische Identität betreffenden Problematik empfehle ich auch das Interview des aus Algerien stammenden Autors Boualem Sansal in der taz v. 25.01.2015: http://www.taz.de/!153412/
Montag, 9. Februar 2015
Fukuyamas Weltsicht
I.
In der im Café, Ziel des Sonntagsspaziergangs, verfügbaren Welt am Sonntag (v. 08.02.2015) war ein Aufsatz des amerikanischen Politkwissenschaftlers Francis Fukuyama zu lesen. Er fragte in der Überschrift: "Warum steht es so schlecht um die Demokratie?". Fukuyama, heute an der Stanford University lehrend, hatte bereits vor dem Mauerfall im Sommer 1989 in Irving Kristols neokonservativer Zeitschrift The National Interest den welthistorischen Sieg des westlichen Liberalismus (= Kapitalismus plus liberale Demokratie) konstatiert und - in aktualisierter und trivialisierter Adaption Hegels - das "Ende der Geschichte" - verkündet: "What we may be witnessing is not just the end of the Cold War, or the passing of a particular period of post-war history, but the end of history as such: that is, the end point of mankind's ideological evolution and the universalization of Western liberal democracy as the final form of human government."
Der Aufsatz war vor dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking entstanden - eine blutige Intervention, die Fukuyamas weltgeschichtlichen Optimismus hinsichtlich der globalen Tendenz zu Demokratie, Marktwirtschaft und Frieden hätte dämpfen müssen. Immerhin bestätigte ihn der Zerfall des Sowjetimperiums - welcher Zeitgenosse erinnert sich noch an Ronald Reagan und dessen Eliot-Zitat: "not with a bang but with a whimper"? - in seiner Weltsicht, so dass er anno 1992 das spektakuläre Buch "The End of History and the Last Man" vorlegen konnte.
II.
In dem in der WamS veröffentlichten Artikel hält Fukuyama an seiner Vision fest. Die Hauptursache für deren augenscheinliches Scheitern in der Realität - ob im blutig zerronnenen "arabischen Frühling", ob in Afghanistan, im Irak, in Singapur (!), in China, in Russland oder in Indien - sieht der Politikwissenschaftler in einem Strukturproblem: im bis dato misslungenen Übergang von patrimonialen Herrschaftsformen zu einer modernen, demokratisch rechtsstaatlichen Ordnung: "Die Lektion der letzten 25 Jahre ist die, dass die Ordnung moderner Staaten nicht Schritt hält mit de Entstehung demokratischer Institutionen. Selbst in den entwickelten Demokratien hat der Staat nicht mithalten können mit den Bedürfnissen der Bürger nach qualitativ anspruchsvollem Regierungshandeln. Das hat die Demokratie als solche delegitimiert."
Selbst den Krieg in der östlichen Ukraine fügt Fukuyama in sein dogmenfestes, ahistorisches Erklärungsmuster: "Auch die Ukraine sei hier genannt, wo es den Trägern der Orangen Revolution nicht gelang, die Korruption zu überwinden, und dem Lande eine qualitativ anspruchsvolle Regierungsführung zu geben. So sehe ich den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine nicht als einen um Demokratie per se, sondern um den einer modernen gegen eine neopatrimoniale Ordnung."
Dass bei der "orangen Revolution" 2004, auf dem Majdan 2013/2014, bei der Annexion der Krim sowie im Krieg um den Donbass neben der Korruption der Oligarchen ganz andere Faktoren im Spiel waren und sind - macht- und geopolitische Wahrnehmungen, Interessen und Projektionen, historische Erinnerungen sowie kulturell-religiöse Emotionen - kommt in Fukuyamas Weltsicht nicht vor. Ebensowenig genügt das von Max Weber entlehnte, auf Fukuyamas amerikanisches Selbstbild bezogene Begriffsinstrumentarium zur Analyse der vielfältigen, in der Tat "undemokratischen" Zustände in den höchst unterschiedlichen Regionen der "globalisierten" Welt.
III.
Dass der Harvard-Historiker Samuel P. Huntington (1927-2008), anders als Fukuyama ein amerikanischer liberal, mit seinen "umstrittenen" Thesen vom "clash of civilizations" (1993/1998) womöglich näher an der historisch-politischen Realität gewesen sein könnte, will bis heute keiner seiner liberalen Kritiker eingestehen, schon gar nicht in Deutschland. Ohne offen dem als Neocon verdächtigen Fukuyama beizupflichten, hält man - mit Ausnahme einiger gegen den "Neoliberalismus" opponierenden Alt-Linken - entgegen aller Evidenz an der Vision einer liberal-kapitalistisch befriedeten Welt fest. Dass man zur Erreichung des Ziels sowie zur Gewinnung "erweiterter Sicherheit" auf "robuste Einsätze", sprich militärische Mittel, nicht verzichten kann, empfinden viele Verteidiger einer liberalen Weltordnung nicht als Widerspruch.
In der im Café, Ziel des Sonntagsspaziergangs, verfügbaren Welt am Sonntag (v. 08.02.2015) war ein Aufsatz des amerikanischen Politkwissenschaftlers Francis Fukuyama zu lesen. Er fragte in der Überschrift: "Warum steht es so schlecht um die Demokratie?". Fukuyama, heute an der Stanford University lehrend, hatte bereits vor dem Mauerfall im Sommer 1989 in Irving Kristols neokonservativer Zeitschrift The National Interest den welthistorischen Sieg des westlichen Liberalismus (= Kapitalismus plus liberale Demokratie) konstatiert und - in aktualisierter und trivialisierter Adaption Hegels - das "Ende der Geschichte" - verkündet: "What we may be witnessing is not just the end of the Cold War, or the passing of a particular period of post-war history, but the end of history as such: that is, the end point of mankind's ideological evolution and the universalization of Western liberal democracy as the final form of human government."
Der Aufsatz war vor dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking entstanden - eine blutige Intervention, die Fukuyamas weltgeschichtlichen Optimismus hinsichtlich der globalen Tendenz zu Demokratie, Marktwirtschaft und Frieden hätte dämpfen müssen. Immerhin bestätigte ihn der Zerfall des Sowjetimperiums - welcher Zeitgenosse erinnert sich noch an Ronald Reagan und dessen Eliot-Zitat: "not with a bang but with a whimper"? - in seiner Weltsicht, so dass er anno 1992 das spektakuläre Buch "The End of History and the Last Man" vorlegen konnte.
II.
In dem in der WamS veröffentlichten Artikel hält Fukuyama an seiner Vision fest. Die Hauptursache für deren augenscheinliches Scheitern in der Realität - ob im blutig zerronnenen "arabischen Frühling", ob in Afghanistan, im Irak, in Singapur (!), in China, in Russland oder in Indien - sieht der Politikwissenschaftler in einem Strukturproblem: im bis dato misslungenen Übergang von patrimonialen Herrschaftsformen zu einer modernen, demokratisch rechtsstaatlichen Ordnung: "Die Lektion der letzten 25 Jahre ist die, dass die Ordnung moderner Staaten nicht Schritt hält mit de Entstehung demokratischer Institutionen. Selbst in den entwickelten Demokratien hat der Staat nicht mithalten können mit den Bedürfnissen der Bürger nach qualitativ anspruchsvollem Regierungshandeln. Das hat die Demokratie als solche delegitimiert."
Selbst den Krieg in der östlichen Ukraine fügt Fukuyama in sein dogmenfestes, ahistorisches Erklärungsmuster: "Auch die Ukraine sei hier genannt, wo es den Trägern der Orangen Revolution nicht gelang, die Korruption zu überwinden, und dem Lande eine qualitativ anspruchsvolle Regierungsführung zu geben. So sehe ich den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine nicht als einen um Demokratie per se, sondern um den einer modernen gegen eine neopatrimoniale Ordnung."
Dass bei der "orangen Revolution" 2004, auf dem Majdan 2013/2014, bei der Annexion der Krim sowie im Krieg um den Donbass neben der Korruption der Oligarchen ganz andere Faktoren im Spiel waren und sind - macht- und geopolitische Wahrnehmungen, Interessen und Projektionen, historische Erinnerungen sowie kulturell-religiöse Emotionen - kommt in Fukuyamas Weltsicht nicht vor. Ebensowenig genügt das von Max Weber entlehnte, auf Fukuyamas amerikanisches Selbstbild bezogene Begriffsinstrumentarium zur Analyse der vielfältigen, in der Tat "undemokratischen" Zustände in den höchst unterschiedlichen Regionen der "globalisierten" Welt.
III.
Dass der Harvard-Historiker Samuel P. Huntington (1927-2008), anders als Fukuyama ein amerikanischer liberal, mit seinen "umstrittenen" Thesen vom "clash of civilizations" (1993/1998) womöglich näher an der historisch-politischen Realität gewesen sein könnte, will bis heute keiner seiner liberalen Kritiker eingestehen, schon gar nicht in Deutschland. Ohne offen dem als Neocon verdächtigen Fukuyama beizupflichten, hält man - mit Ausnahme einiger gegen den "Neoliberalismus" opponierenden Alt-Linken - entgegen aller Evidenz an der Vision einer liberal-kapitalistisch befriedeten Welt fest. Dass man zur Erreichung des Ziels sowie zur Gewinnung "erweiterter Sicherheit" auf "robuste Einsätze", sprich militärische Mittel, nicht verzichten kann, empfinden viele Verteidiger einer liberalen Weltordnung nicht als Widerspruch.
Montag, 2. Februar 2015
Zum Tode Richard von Weizsäckers
I.
Der Staatsakt zur Würdigung des am 31. Januar 2015 verstorbenen Richard von Weizsäcker ist auf den 11. Februar angesetzt. Die Zeitungen sind voll von Nachrufen, die Weizsäckers historische Bedeutung anhand seiner Rollen im Deutschland der Nachkriegszeit beleuchten: als Verteidiger seines Vaters Ernst von Weizsäcker im Nürnberger Wilhelmstraßenprozess, als Jurist und Manager bei C.H. Böhringer Ingelheim, als führender Repräsentant des deutschen Protestantismus, als von Helmut Kohl geförderter CDU-Politiker, als Unterstützer der "neuen Ostpolitik" im Bundestag, als Regierender Bürgermeister in West-Berlin, sodann in seiner biographisch herausragenden Rolle als Bundespräsident, zuletzt als hochgeehrte, der Tagespolitik der Berliner Republik entrückte Persönlichkeit, dessen Kritik am selbstgerecht bürgerfernen Parteienstaat die classe politica nicht zur Kenntnis nahm.
II.
Im Mittelpunkt der Würdigungen steht naturgemäß die Große Rede Weizsäckers im Bundestag am 8. Mai 1985, in der er als erster Staatsmann der Bundesrepublik den 8.Mai 1945, den Tag, an dem das "Dritte Reich" durch die Kapitulation der großdeutschen Wehrmacht endete, einen "Tag der Befreiung" nannte. Mit Ausnahme einer als "Stahlhelm-Fraktion" titulierten Gruppe in seiner Partei (sowie der ohnehin Unbelehrbaren auf der extremen außerparlamentarischen Rechten) erntete Weizsäcker für seine als befreiend deklarierte Rede nichts als lobende Worte.
Im Unterschied zu meiner preußisch-protestantischen Mutter, die - im Januar 1945 mit drei Kindern und ihrer Mutter aus Schlesien geflüchtet - der Rede ohne Einschränkung zustimmte und selbst an der sprachlich missglückten Formel von der "unfreiwilligen Wanderschaft" keinen Anstoß nahm, bewahrte ich gegenüber der Rede gewisse Vorbehalte. Zum einen missfiel mir die verniedlichende Wortwahl, zum anderen vermisste ich einen Hinweis auf die historisch reale "Dialektik der Befreiung" - zu den menschlichen, politischen und ideellen Kosten der "Befreiung von außen" durch die Siegermächte - sowie einen Hinweis auf die Tragik des 20. Juli 1944. (Ich darf die Leser des Blogs auf einen Aufsatz "Zur Dialektik der Befreiung" hinweisen, den ich anno 1985 - auf Anfrage, nicht aus eigenen Stücken - für das Freidenker-Magazin verfasste und den ich zum 70. Jahrestag des Kriegsendes auf meinem Blog einstellen werde, sofern er in meinem Zeitschriftenstapel auffindbar sein sollte.)
Unschwer war bei der "Rede" zu erkennen, dass es Weizsäcker nicht so sehr um befreiende Worte für die von der Geschichtslast und den Folgen des Nazismus bedrückten Deutschen ging, sondern um die eigene Biographie. Als Sohn des in das NS-Regime - maßgeblich aus persönlichem Ehrgeiz - in hochrangiger Funktion verstrickten Staatssekretärs im AA betrieb Richard von Weizsäcker, im Krieg hochdekorierter Wehrmachtsoffizier, höchsteigene Gewissenserforschung, wo er vom Sehen-Können und nicht Wissen-Wollen sprach. Es ging um die politische, moralische und persönliche Schuldverwicklung der Familie Weizsäcker - der Bruder Carl Friedrich baute an der deutschen Atombombe -, in deren Geschichte die verhängnisvolle Rolle der alten bürgerlich-konservativen Eliten vor und nach 1933 beispielhaft hervortritt, sodann erst um die historisch-politischen Konsequenzen der deutschen Katastrophe.
In dem Gedenkaufsatz in der heutigen FAZ (v. 02.02.2015, S. 9) aus der Feder des Stefan-George-Biographen Thomas Karlauf ("Die Herrschaft der geistigen Hand") werden die Nuancen in der Persönlichkeit des Verstorbenen sowie dessen Umgang mit der eigenen Biographie sichtbar. Zweifelhaft lyrisch, nicht historisch analytisch, klingt dabei der folgende Satz: "Liest man die die berühmte Rede zum 8. Mai Weizsäcker als heimliches Zwiegespräch mit dem Vater, dann lässt sich ermessen, wie viel Trauerarbeit Richard von Weizsäcker der Nation damals abgenommen hat." Schief: Die Trauerarbeit zielte eher auf historischen Mehrwert im Interesse des Familienunternehmens...
III.
Richard von Weizsäcker steht für das durch historisches Scheitern geschärfte, durch protestantische Glaubenshaltung sensibilisierte Selbstverständnis eines Teils der Eliten, die ihren Führungsanspruch in der alten Bundesrepublik aufrechterhielten und aufrecht erhalten konnten. Was ihn von dem ihm wohlgesonnenen linksliberalen Ideologieestablishment unterschied: Er wirkte auf seine Weise - anno 1985 gemindert durch "Trauerarbeit" - in einem Land, das nur noch postnationalen "Verfassungspatriotismus" à la Habermas gelten lassen wollte, als Patriot im geteilten Land. Dazu gehören nicht nur seine Reisen in die DDR und die engen Beziehungen zu den protestantischen Kirchenvertretern jenseits der Grenze. Als Regierender Bürgermeister (1981-1984) erklärte er die "Deutsche Frage" für offen, "solange das Brandenburger Tor zu ist". Er knüpfte Kontakte über die Mauer hinweg zu Ost-Berliner Funktionsträgern, bis hinauf zu Erich Honecker, ohne dazu die über ihre Vorbehaltsrechte wachenden Alliierten um Erlaubnis zu fragen.
Schließlich sei eine Episode in Erinnerung gerufen, die in den vielen Nachrufen kaum Erwähnung finden dürfte. In den Jahren der von der Raketendebatte ausgelösten Friedensbewegung bekundete Weizsäcker Interesse für die damit unerwartet aufgebrochene Frage nach "deutscher Identität". Nach dem Erscheinen des von Wolfgang Venohr herausgegebenen Buches Die deutsche Einheit kommt bestimmt, zu dem Peter Brandt und ich einen Beitrag geliefert hatten, hielt Weizsäcker das Buch im Bundestag in die Höhe und erinnerte die irritierten Abgeordneten an die ungelöste "Deutsche Frage". Das war anno 1982.
Der Staatsakt zur Würdigung des am 31. Januar 2015 verstorbenen Richard von Weizsäcker ist auf den 11. Februar angesetzt. Die Zeitungen sind voll von Nachrufen, die Weizsäckers historische Bedeutung anhand seiner Rollen im Deutschland der Nachkriegszeit beleuchten: als Verteidiger seines Vaters Ernst von Weizsäcker im Nürnberger Wilhelmstraßenprozess, als Jurist und Manager bei C.H. Böhringer Ingelheim, als führender Repräsentant des deutschen Protestantismus, als von Helmut Kohl geförderter CDU-Politiker, als Unterstützer der "neuen Ostpolitik" im Bundestag, als Regierender Bürgermeister in West-Berlin, sodann in seiner biographisch herausragenden Rolle als Bundespräsident, zuletzt als hochgeehrte, der Tagespolitik der Berliner Republik entrückte Persönlichkeit, dessen Kritik am selbstgerecht bürgerfernen Parteienstaat die classe politica nicht zur Kenntnis nahm.
II.
Im Mittelpunkt der Würdigungen steht naturgemäß die Große Rede Weizsäckers im Bundestag am 8. Mai 1985, in der er als erster Staatsmann der Bundesrepublik den 8.Mai 1945, den Tag, an dem das "Dritte Reich" durch die Kapitulation der großdeutschen Wehrmacht endete, einen "Tag der Befreiung" nannte. Mit Ausnahme einer als "Stahlhelm-Fraktion" titulierten Gruppe in seiner Partei (sowie der ohnehin Unbelehrbaren auf der extremen außerparlamentarischen Rechten) erntete Weizsäcker für seine als befreiend deklarierte Rede nichts als lobende Worte.
Im Unterschied zu meiner preußisch-protestantischen Mutter, die - im Januar 1945 mit drei Kindern und ihrer Mutter aus Schlesien geflüchtet - der Rede ohne Einschränkung zustimmte und selbst an der sprachlich missglückten Formel von der "unfreiwilligen Wanderschaft" keinen Anstoß nahm, bewahrte ich gegenüber der Rede gewisse Vorbehalte. Zum einen missfiel mir die verniedlichende Wortwahl, zum anderen vermisste ich einen Hinweis auf die historisch reale "Dialektik der Befreiung" - zu den menschlichen, politischen und ideellen Kosten der "Befreiung von außen" durch die Siegermächte - sowie einen Hinweis auf die Tragik des 20. Juli 1944. (Ich darf die Leser des Blogs auf einen Aufsatz "Zur Dialektik der Befreiung" hinweisen, den ich anno 1985 - auf Anfrage, nicht aus eigenen Stücken - für das Freidenker-Magazin verfasste und den ich zum 70. Jahrestag des Kriegsendes auf meinem Blog einstellen werde, sofern er in meinem Zeitschriftenstapel auffindbar sein sollte.)
Unschwer war bei der "Rede" zu erkennen, dass es Weizsäcker nicht so sehr um befreiende Worte für die von der Geschichtslast und den Folgen des Nazismus bedrückten Deutschen ging, sondern um die eigene Biographie. Als Sohn des in das NS-Regime - maßgeblich aus persönlichem Ehrgeiz - in hochrangiger Funktion verstrickten Staatssekretärs im AA betrieb Richard von Weizsäcker, im Krieg hochdekorierter Wehrmachtsoffizier, höchsteigene Gewissenserforschung, wo er vom Sehen-Können und nicht Wissen-Wollen sprach. Es ging um die politische, moralische und persönliche Schuldverwicklung der Familie Weizsäcker - der Bruder Carl Friedrich baute an der deutschen Atombombe -, in deren Geschichte die verhängnisvolle Rolle der alten bürgerlich-konservativen Eliten vor und nach 1933 beispielhaft hervortritt, sodann erst um die historisch-politischen Konsequenzen der deutschen Katastrophe.
In dem Gedenkaufsatz in der heutigen FAZ (v. 02.02.2015, S. 9) aus der Feder des Stefan-George-Biographen Thomas Karlauf ("Die Herrschaft der geistigen Hand") werden die Nuancen in der Persönlichkeit des Verstorbenen sowie dessen Umgang mit der eigenen Biographie sichtbar. Zweifelhaft lyrisch, nicht historisch analytisch, klingt dabei der folgende Satz: "Liest man die die berühmte Rede zum 8. Mai Weizsäcker als heimliches Zwiegespräch mit dem Vater, dann lässt sich ermessen, wie viel Trauerarbeit Richard von Weizsäcker der Nation damals abgenommen hat." Schief: Die Trauerarbeit zielte eher auf historischen Mehrwert im Interesse des Familienunternehmens...
III.
Richard von Weizsäcker steht für das durch historisches Scheitern geschärfte, durch protestantische Glaubenshaltung sensibilisierte Selbstverständnis eines Teils der Eliten, die ihren Führungsanspruch in der alten Bundesrepublik aufrechterhielten und aufrecht erhalten konnten. Was ihn von dem ihm wohlgesonnenen linksliberalen Ideologieestablishment unterschied: Er wirkte auf seine Weise - anno 1985 gemindert durch "Trauerarbeit" - in einem Land, das nur noch postnationalen "Verfassungspatriotismus" à la Habermas gelten lassen wollte, als Patriot im geteilten Land. Dazu gehören nicht nur seine Reisen in die DDR und die engen Beziehungen zu den protestantischen Kirchenvertretern jenseits der Grenze. Als Regierender Bürgermeister (1981-1984) erklärte er die "Deutsche Frage" für offen, "solange das Brandenburger Tor zu ist". Er knüpfte Kontakte über die Mauer hinweg zu Ost-Berliner Funktionsträgern, bis hinauf zu Erich Honecker, ohne dazu die über ihre Vorbehaltsrechte wachenden Alliierten um Erlaubnis zu fragen.
Schließlich sei eine Episode in Erinnerung gerufen, die in den vielen Nachrufen kaum Erwähnung finden dürfte. In den Jahren der von der Raketendebatte ausgelösten Friedensbewegung bekundete Weizsäcker Interesse für die damit unerwartet aufgebrochene Frage nach "deutscher Identität". Nach dem Erscheinen des von Wolfgang Venohr herausgegebenen Buches Die deutsche Einheit kommt bestimmt, zu dem Peter Brandt und ich einen Beitrag geliefert hatten, hielt Weizsäcker das Buch im Bundestag in die Höhe und erinnerte die irritierten Abgeordneten an die ungelöste "Deutsche Frage". Das war anno 1982.
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