Montag, 23. Februar 2015

Gauck in vorderster Reihe - Predigen ohne Mandat

I.
Unser Bundespräsident Gauck liebt gefühlsbetonte Auftritte. Mal ist er zu Tränen gerührt, wenn er, neben Obama stehend, den schwer erkämpften Sieg der Freiheit feiert und den Klängen der ziemlich martialischen amerikanischen Nationalhymne lauscht, mal ist er freudig lächend bewegt, wie gestern Arm in Arm mit Poroschenko und einem mir unbekannten Marschierer, mit Tusk, Komorowski und anderen in vorderster  Reihe, zum Gedenken des Sturzes von Janukowitsch und der über 100 Toten auf dem Majdan vor einem Jahr.

Wir dürfen  noch hoffen, dass das Minsker Abkommen (Minsk II) trotz - oder aufgrund - der Einnahme der Stadt Debalzewo durch die von der Waffenruhe offenbar unbeeindruckten "pro-russischen " Separatisten/Annexionisten einen Zustand herbeiführt, der immerhin besser ist als Krieg. Nicht auszuschließen ist, dass das blutige Spiel um den Donbass, um eine Landbrücke zur Krim und womöglich noch  weitere Regionen "Neu-Russlands",  eine Fortsetzung erlebt. Das wäre fatal für alle, für Merkel und Hollande, für "uns Deutsche", für den bereits in vielerlei blutige, schier unlösbare Konflikte (e.g. Afghanistan, Syrien/Iraq, Libyen) verwickelten Westen unter US-Ägide, aber auch für Russland unter Putin.

Eine Prognose sei an dieser Stelle vermieden. Zur Analyse verweise ich auf den Eintrag von vor einem Jahr  "BHL auf dem Majdan" (http://herbert-ammon.blogspot.de/2014/03/bhl-auf-dem-majdan.html., v. 05.03.2014) sowie auf den entsprechenden Kommentar von vorletzter Woche (11.02.2015).

II. 
Die erwähnten Konflikte - dazu die Zustände im "demokratischen" Kosovo und in aller Welt  - bescheren Westeuropa, insbesondere dem paradiesisch "reichen" Deutschland, Flüchtlingsströme in bis dato ungeahnter Zahl. Während die Kommunen vor offenbar  unlösbaren Problemen stehen, melden sich aus der definitionsresistenten Zivilgesellschaft die Stimmen höchster Moral. Hier erweist sich die politische Stärke der Zivilgesellschaft: Sie reicht von der "Antifa" ("Refugees welcome!"; "Keiner ist illegal"; "No tears for Krauts!") über diverse Flüchtlingsräte bis in die evangelische Kirche, die durch die Praxis des "Kirchenasyls" in Konflikt mit Innenminister Thomas de Maizière, selbst gläubiger Protestant, geraten ist.

III.
Die hohe Moral von insbesondere protestantischen Kirchenoberen kommt stets dann zum Vorschein, wenn es um die Bewältigung der Vergangenheit, id est die "deutsche Schuld", geht, z.B. in der nordbadischen Stadt Pforzheim. Dort kamen beim Bombenangriff  am 23. Februar 1945 18 000 Menschen, ein Drittel der Bevölkerung,  zu Tode (was wiederum die von der unabhängigen Historikerkommission anno 2010 ermittelte Dresdner Opferzahl von "maximal 25 000"  in überaus plausible Relation setzt). Vor einem Jahr erklärte  die erst eineinhalb Jahre zuvor in  Pforzheim zugezogene Stadtdekanin Christiane Quincke anlässlich einer Kundgebung "Flagge zeigen - Pforzheim nazifrei" den historisch-theologischen Sachverhalt wie folgt:

"Aber Pforzheim war keine unschuldige Stadt. Die Flagge der Nationalsozialisten wehte auf zentralen Plätzen. In Pforzheim wurden Zeitzünder und andere technische Finessen für den Krieg gefertigt. Das rechtfertigt keine Bombardierung auf die Zivilbevölkerung. Aber es erklärt sie." So das Zitat in: FAZ v. 23.02.2015, S. 2. Weiter: "´Versöhnung´", sagt(e) Quincke, "kann es nur geben, wenn man sich selbst fragt, was man zum Unfrieden beigetragen hat.´"

Das hat man sich in der Tat zu fragen (u.a. als Kirchensteuerzahler). Von den Überlebenden fragt sich mancher, ob dies der rechte Seelentrost für die Toten sei, für deren Kinder oder für die Enkel der Davongekommenen. Ein 81jähriger Pforzheimer Schmuckfabrikant, damals ein Junge von 11 Jahren, sagt,  mit Tränen in den Augen, dem berichterstattenden Journalistener habe Jahrzehnte über seine Erlebnisse im Februar 1945 geschwiegen. "Wir sind böse. Das, was die Dekanin macht, nenne ich Predigen ohne Mandat." Natürlich vergebe er. Beim Vergeben sei es indes wesentlich zu wissen, was man eigentlich vergebe. Er evoziert die Bilder, die ihn seit seiner damals beendigten Kindheit verfolgen. Zum Verzeihen gehöre die Wahrheit, und die komme "im mehrwöchigen Gedenkreigen der Stadt zu kurz", heißt es in dem Bericht aus Pforzheim.

Für den amerikanischen Philosophen John D. Rawls (1921-2002) -  er überlebte als Soldat den Krieg im Pazifik, verlor dabei aber seinen christlichen Glauben - gab es von einem bestimmten Zeitpunkt an, spätestens seit Herbst 1943,  keine (kriegs-)ethisch zu rechtfertigende Begründung, den Bombenkrieg gegen die Zivilbevölkerung zu führen. Im Winter und Frühjahr 1945, als der Krieg für die Alliierten längst gewonnen war, bestand dafür erst recht  keine Notwendigkeit mehr.

IV.
Zur Versöhnung und Vergebung gehörte für alle Seiten die offene, unbefangene,  interessen- und ideologiefreie Betrachtung der Schrecken der Vergangenheit. Unserem Bundespräsidenten, der beim letzten Gedenken der Zerstörung Dresdens  den gewohnten Schuldzusammenhang herstellte, fehlt es nicht an rhetorischer Begabung, wohl aber an historisch-politischer Klarheit. Sein pastoraler Habitus kommt allenthalben  - Spiegel-online und Junge Welt ausgenommen - gut an. Und ihm selbst bereitet es sichtlich Vergnügen, amtsbedingt, an vielen Orten in vorderster Reihe mitzuziehen.

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