Montag, 2. Februar 2015

Zum Tode Richard von Weizsäckers

I.
Der Staatsakt zur Würdigung des am 31. Januar 2015 verstorbenen Richard von Weizsäcker ist auf den 11. Februar angesetzt. Die  Zeitungen sind voll von Nachrufen, die Weizsäckers historische Bedeutung anhand seiner Rollen im Deutschland der Nachkriegszeit beleuchten: als Verteidiger seines Vaters Ernst von Weizsäcker im Nürnberger Wilhelmstraßenprozess, als  Jurist und  Manager bei C.H. Böhringer Ingelheim, als führender Repräsentant des deutschen Protestantismus, als von Helmut Kohl geförderter CDU-Politiker, als Unterstützer der "neuen Ostpolitik" im Bundestag, als Regierender Bürgermeister in West-Berlin, sodann in seiner biographisch herausragenden Rolle als Bundespräsident, zuletzt als hochgeehrte, der Tagespolitik der Berliner Republik entrückte Persönlichkeit, dessen Kritik am selbstgerecht bürgerfernen Parteienstaat die classe politica  nicht zur Kenntnis nahm.

II.
Im Mittelpunkt der Würdigungen steht naturgemäß die Große Rede Weizsäckers im Bundestag am 8. Mai 1985, in der er als erster Staatsmann der Bundesrepublik den 8.Mai 1945, den Tag, an dem das "Dritte Reich" durch die Kapitulation der großdeutschen Wehrmacht endete, einen "Tag der Befreiung" nannte. Mit Ausnahme einer als "Stahlhelm-Fraktion" titulierten Gruppe in seiner Partei (sowie der ohnehin Unbelehrbaren auf der extremen außerparlamentarischen Rechten) erntete Weizsäcker für seine als befreiend deklarierte Rede nichts als lobende Worte.

Im Unterschied zu meiner preußisch-protestantischen Mutter, die  - im Januar 1945 mit drei Kindern und ihrer Mutter aus Schlesien geflüchtet - der Rede ohne Einschränkung zustimmte und selbst an der sprachlich missglückten Formel von der "unfreiwilligen Wanderschaft" keinen Anstoß nahm, bewahrte ich gegenüber der Rede gewisse Vorbehalte. Zum einen missfiel mir die verniedlichende Wortwahl, zum anderen vermisste ich einen Hinweis auf die historisch reale "Dialektik der Befreiung" - zu den menschlichen, politischen und ideellen Kosten der "Befreiung von außen" durch die Siegermächte - sowie einen Hinweis auf die Tragik des 20. Juli 1944. (Ich darf die Leser des Blogs auf einen Aufsatz "Zur Dialektik der Befreiung"  hinweisen, den ich anno 1985 - auf Anfrage, nicht aus eigenen Stücken -  für das  Freidenker-Magazin verfasste und den ich zum 70. Jahrestag des Kriegsendes auf meinem Blog einstellen werde, sofern er in meinem Zeitschriftenstapel auffindbar sein sollte.)

Unschwer war bei der "Rede"  zu erkennen,  dass es Weizsäcker nicht so sehr um befreiende Worte für die von der Geschichtslast und den Folgen des Nazismus bedrückten Deutschen ging, sondern um die eigene Biographie. Als  Sohn des in das NS-Regime - maßgeblich aus persönlichem Ehrgeiz - in hochrangiger Funktion verstrickten Staatssekretärs im AA betrieb Richard  von Weizsäcker, im Krieg hochdekorierter Wehrmachtsoffizier,  höchsteigene Gewissenserforschung, wo er vom Sehen-Können und nicht Wissen-Wollen sprach. Es ging um die politische, moralische und persönliche Schuldverwicklung der Familie Weizsäcker - der Bruder Carl Friedrich baute an der deutschen Atombombe -, in deren Geschichte die verhängnisvolle Rolle der alten bürgerlich-konservativen Eliten vor und nach 1933 beispielhaft hervortritt, sodann erst um die historisch-politischen Konsequenzen der deutschen Katastrophe.

In dem Gedenkaufsatz  in der heutigen FAZ (v. 02.02.2015, S. 9) aus der Feder  des Stefan-George-Biographen Thomas Karlauf  ("Die Herrschaft der geistigen Hand")  werden die Nuancen in der  Persönlichkeit des Verstorbenen sowie dessen Umgang mit der eigenen Biographie sichtbar. Zweifelhaft lyrisch, nicht historisch analytisch, klingt dabei der folgende Satz: "Liest man die die berühmte Rede zum 8. Mai Weizsäcker als heimliches Zwiegespräch mit dem Vater, dann lässt sich ermessen, wie viel Trauerarbeit Richard von Weizsäcker der Nation damals abgenommen hat." Schief: Die Trauerarbeit zielte eher auf historischen Mehrwert im Interesse des Familienunternehmens...

III.
Richard von Weizsäcker steht  für das durch historisches Scheitern geschärfte, durch protestantische Glaubenshaltung  sensibilisierte Selbstverständnis eines Teils der Eliten, die ihren Führungsanspruch in der alten Bundesrepublik aufrechterhielten und aufrecht erhalten konnten. Was ihn von dem  ihm wohlgesonnenen  linksliberalen Ideologieestablishment unterschied:  Er wirkte auf seine Weise - anno 1985 gemindert durch "Trauerarbeit" - in einem Land, das nur noch postnationalen "Verfassungspatriotismus" à la Habermas gelten lassen wollte, als Patriot im geteilten Land. Dazu gehören nicht nur seine Reisen in die DDR und die engen Beziehungen zu den protestantischen Kirchenvertretern jenseits der Grenze. Als Regierender Bürgermeister (1981-1984) erklärte er die "Deutsche Frage" für offen, "solange das Brandenburger Tor zu ist". Er  knüpfte Kontakte über die Mauer hinweg zu Ost-Berliner Funktionsträgern, bis hinauf zu Erich Honecker, ohne dazu die über ihre Vorbehaltsrechte wachenden Alliierten um Erlaubnis zu fragen.

Schließlich sei eine Episode in Erinnerung gerufen, die in den vielen Nachrufen kaum Erwähnung finden dürfte. In den Jahren der von der Raketendebatte ausgelösten Friedensbewegung bekundete Weizsäcker Interesse  für die damit unerwartet aufgebrochene Frage nach "deutscher Identität". Nach dem Erscheinen des von Wolfgang Venohr herausgegebenen Buches Die deutsche Einheit kommt bestimmt, zu dem Peter Brandt und ich einen Beitrag geliefert hatten,  hielt Weizsäcker das  Buch im Bundestag in die Höhe und erinnerte die irritierten Abgeordneten an die ungelöste "Deutsche Frage". Das war anno 1982.

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