Dienstag, 19. Dezember 2023

Weihnachtliche Leitkultur unter Fachkräftemangel

I.

Mit distanziertem Interesse sehen wir den anstehenden Veranstaltungen zur Pflege der deutschen Leitkultur entgegen. Auf dem Programm stehen die -  bereits auf Konserve aufgenommene - Weihnachtsbotschaft des Bundespräsidenten Steinmeier sowie die entsprechende TV-Ansprache des Bundeskanzlers Scholz zu Neujahr. 

Die von den Festtagsredenschreibern verfassten Texte fürs Volk  umfassen vorhersehbar folgende Themen: 1) unser aller Erschütterung über den Horror des 7. Oktober und den Krieg in Gaza 2) die Erinnerung an die von Putin ausgelöste Zeitenwende und die demokratische Pflicht zur unzweideutigen Unterstützung für die Ukraine, dazu die Hoffnung auf baldigen Frieden 3) der Dank an unsere Soldatinnen und Soldaten, die fast siegreich aus Mali zurückgekehrt sind. Denn 3a): Frieden und Freiheit sind ein Geschenk, das demokratische Opferbereitschaft voraussetzt 4) die Verpflichtung zu Toleranz und allseitigem Respekt in unserer vielfältigen Gesellschaft auf der Basis unserer grundgesetzlichen Werteordnung  5) die Warnung vor den Versuchungen des Populismus und den Gefahren des Extremismus als Lehre aus der deutschen Geschichte.

Womöglich steht noch die Klimakrise im Themenkatalog. Denkbar ist ein besänftigendes Wort bezüglich der - nunmehr aufgrund der in Brüssel noch vor dem Fest beschlossenen restriktiven Kontrolle der EU-Außengrenzen vermeintlich behobenen - Asylkrise, verknüpft mit dem  Hinweis auf die für unsere wirtschaftliche Zukunft unseres Landes unerlässliche Einwanderung - nicht etwa "Zuwanderung" - von Fachkäften. Ermahnende Worte zum Bildungsstand des Volkes im Zeichen von PISA 2023 gilt es zu vermeiden. Auch der - von CDU-Chef Friedrich Merz mit "Leitkultur" assoziierte -  Begriff "Integration" sollte als Textbaustein keine Verwendung finden. Er könnte Fragen aufwerfen und die Feiertagsstimmung der postchristlichen Deutschen trüben.

II.

Die schon zeitlosen Themen "Fachkräftemangel" und "Integration" erhellen zwei jüngst erfahrene Episoden. In Parenthese: Anekdoten ("Einzelfälle") ergeben noch keinen aussagestarken Datensatz. Gleichwohl, sie erhellen des sozial-kulturellen Zustands unseres Landes.

Erste Episode: Im Büro meiner stets - Stichwort "Wintercheck" - zuverlässigen Autowerkstatt (Familienbetrieb) werde ich Zeuge einer eindringlichen Rede, die der Chef an einen etwa zwanzigjährigen Mann -  mit zwanzig Jahren standen ehedem die meisten Jungen längst im Beruf -  adressiert. Es geht um die Voraussetzungen einer Ausbildung zum Mechatroniker, um Lern-, Leistungs- und Gewissenhaftigkeit. Die Vermutung, der junge Mann habe sich soeben um eine Lehrstelle beworben, erweist sich als irrig. Er ist soeben gefeuert worden. Trotz mehrfacher Ermahnung/Abmahnung, zuletzt am Vortag, hat der Azubi, gebürtiger Deutscher, nach progressiver Terminologie POC, erneut "verschlafen". Wegen ähnlicher Versäumnisse ist ihm bereits an zwei früheren Lehrstellen gekündigt worden. Er habe dies mit "Ausländerfeindlichkeit" begründet, was ihm wohl auch für diese verpasste Chance in einer Werkstatt, in der hauptsächlich Mechaniker mit Migrationshintergrund arbeiten, als Ausrede dienen dürfte. Der junge Mann, soeben noch mit betretener Miene, verlässt den Raum, setzt sich in einen angejahrten, voluminösen BMW und rast wutentbrannt mit quietschenden Reifen über eine Linkskurve davon. Eine Fachkkraft weniger...

Zweite Episode: An der Theke zum Zuschneiden von Holzplatten in einem Baumarkt bin ich einem kräftigen, bärtigen Mann mit Migrationshintergrund beim Lösen einer Wartemarke aus einem Automaten behilflich. Er bedankt sich mit verlegenem Lächeln. Während sich das Warten auf das elektronische Signal über der Theke hinzieht, fällt mir auf der Brust des Mannes dessen kulturelles Markenzeichen ins Auge: am Halsband das Schwert des Islam. 

III.

Ist der Gedanke erlaubt, dass derlei Insignien zwar kulturelle "Vielfalt" demonstrieren, der "Integration" in unsere Wertegemeinschaft leider entgegenstehen? Ob es sich bei dem bärtigen Mann um eine Fachkraft handelte, war am Erscheinungsbild nicht zu erkennen. Falls der Bundespräsident wider Erwarten am Weihnachtstag das Thema "Integration"  ansprechen sollte, dürfte er - nicht nur aus Zeitgründen - darauf verzichten, ins politisch reale Detail zu gehen. 

Montag, 4. Dezember 2023

Über die Grenzen der Moral in einer Welt ohne Grenzen

I.

Für Leser (sc. -innen, ohne Gender*), die nicht bereits meinen Globkult-Beitrag zum Thema "Moral ohne Grenzen" gelesen haben, bringe ich ihn nachfolgend noch einmal zur Kenntnis. Was die unten dargestellten aktuellen Ausgaben für Migranten betrifft, so gibt es noch eine unbelegte, weit höhere Zahl von 50 Mrd. €. Welche Kosten - und Nachfolgekosten infolge der unverminderten "Asylkrise" anfallen, ist in der Tat schwer zu ergründen. Die evidenten menschlichen, materiellen und politischen Kosten -  die scheiternde Integration von integrationsverweigernden Immigranten - werden von der politisch-medialen classe diregente ohnehin heruntergespielt oder als "rechte" AfD-Propaganda abgetan. 

Vor diesem Hintergrund rückt in der -  je nach Wahrnehmung durch Schneefall weihnachtsliedermäßig besonders schönen oder von Unfällen, steigenden Energiekosten und Bahnausfällen beeinträchtigten - Weihnachtszeit der Zustand der Kirchen ins Bild. Er ist geprägt von hypertrophen Moralansprüchen und schwindender gesellschaftlicher Relevanz. Was den jahreszeitlichen Appell an unser aller Gewissen betrifft, so verweise ich zur Vermeidung von Redundanz auf meinen meinen letztjährigen Kommentar zum säkularen Ablasshandel: https://herbert-ammon.blogspot.com/2022/11/ablasshandel-zur-weihnachtszeit.html

Unklar bleibt die Frage - wenngleich angesichts der sehr unterschiedlichen Kriegslagen in der Ukraine und  im Gaza-Streifen  in aller zu erwartenden Unklarheit immerhin verständlich -, die Frage, wie denn die Friedensbotschaft der Kirchen und - unter dem Aspekt künftiger deutscher "Kriegstüchtigkeit" - die Weihnachts - und Neujahrsbotschaft von Bundeskanzler Scholz sowie von Bundespräsident Steinmeier ausfallen wird. Mit den von früher her gewohnten Moralappellen an das (post-)deutsche Volk und die Welt wird es jedenfalls nicht getan sein. 

II.

Alles hängt mit allem zusammen: Die durch das Karlsruher Urteil verhinderte Umschichtung der 60 Corona-Milliarden und die Lockerung der Schuldenbremse; Lindners Kehrtwendung beim Thema Schuldenbremse und Kubickis Kreuzfahrt-Bekenntnis zum liberalen Glaubenssatz solider Staatsfinanzen; der frühe Wintereinbruch -  vor dem globalen Klimawandel in unseren Breiten völlig normal - und die wegen Greta Thunbergs BDS-Bekenntnis - vorerst - in eine Krise geratene deutsche Klimarettung; die "Asylkrise" und die Sorge der Grünen-Parteispitze um die Ampel und um grünen Machtverlust angesichts der ewig jugendlichen, von grenzenloser Moral beseelten Parteibasis; der Rücktritt der EKD-Vorsitzenden Annette Kurschus und die Erosion der Kirchen in der postchristlichen Gesellschaft.  

Kritiker mögen diese Assoziationskette für weithergeholt, für gedankliche Willkür halten: Was hat die Aufhebung der grundgesetzlichen Schuldenbremse, der frühe Winter mit der Krise der Kirchen zu tun? Den roten Faden liefert der politisch aufgeladene Begriff von Moral. Der Reihe nach: Wegen des Urteils des BVerfG fehlen der Ampel mindestens 60 Mrd. Euro in ihrem Haushalt, die durch vorläufige  - vorläufig bis zur angestrebten Änderung des Grundgesetzes - Aussetzung der Schuldenbremse ersetzt werden sollen. Keine Milchmädchenrechnung, sondern schlichtes Faktum: Die Ausgaben für   "Geflüchtete"/"Flüchtende" (a.k.a. Migranten) belaufen sich im Jahr 2023 auf 27,6 Mrd. € pro Jahr, davon 10,7 Mrd. für die - sinnvolle, aber offenkundig wenig erfolgreiche - Bekämpfung von Fluchtursachen. (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/665598/umfrage/kosten-des-bundes-in-deutschland-durch-die-fluechtlingskrise/)

Das reicht Open-Border-Aktivisten wie der Jugendbasis der Grünen natürlich nicht aus, denn ihre Forderung nach offenen Grenzen für alle erfordert einfach höhere Summen. Zwar widersetzten sich auf dem Grünen-Parteitag in Karlsruhe Habeck, Ricarda Lang und selbst Göring-Eckardt der junggrünen Globalmoral, aber an den Fakten wird sich  hierzulande wenig ändern. Ein paar Abschiebungen mehr, von Nancy Faeser lautstark angekündigt,  bestätigen nur die bestehende Praxis.

III.

Kaum anders als die von aggressiver, realitätsferner Moral getragene grüne Jugend äußerte sich unlängst noch die  inzwischen wegen innerkirchlich noch ungeklärter Fragen - wieviel Bisexualität ist im Blick auf die LGBTQ-Bewegung einerseits, auf 1. Korinther 6, 1-11 andererseits, passabel? - zur Sexualmoral zum freiwilligen Amtsverzicht genötigte Kirchenchefin Kurschus. In einem - vor Bekanntwerden der protestantischen Missbrauchsgeschichte - in der FAZ publizierten Interview bekannte sie sich zur Klimarettung und zu United4Rescue - das Schiff "Humanity" liegt derzeit wegen fehlender Spendengelder für Diesel aus Deutschland im Hafen von Syrakus fest -, zur Nächstenliebe für die nicht zuletzt wegen des katastrophalen Klimas in subtropischen, tropischen, ariden, alpinen und sonstigen Zonen übers Mittelmeer zu uns (in "unser reiches Land") flüchtenden Migranten. (Siehe dazu meinen noch vor Kurschus´ Rückzug verfassten Kommentar: https://www.globkult.de/gesellschaft/identitaeten/2328-realitaetsverweigerung-als-frohe-botschaft). Erwähnt sei noch, dass sie auch eine Streichung der Kompromissformel von § 218 ("rechtswidrig, aber unter bestimmten Umständen straffrei") und eine Ausweitung der Fristenregelung auf fünf Monate propagierte.

Die Ex-Kirchenchefin interpretierte ihren Rücktritt als persönliches Opfer, um Schaden von der Kirche abzuwenden. An derlei Apologie nahm der Facebook-Autor Reinhard Klingenberg - vor seiner Ausbürgerung aus der DDR Anfang der 1980er Jahre Vikar in Thüringen - Anstoß. Er frage sich, "was das für eine christliche Grundhaltung ist." Kurschus habe jahrelang "den Missbrauch unter den Teppich gekehrt". Daraufhin meldete sich ein anderer Fb-friend zu Wort. Ihm missfiel, dass "Kurschus dem Rest des Landes [habe] vorhalten wollen, wieviele Flüchtlinge aus Afrika wir noch aufzunehmen haben. Brett-vorm-Kopf-unter-Strom und Kurzschluß sind leider typische Vertreter einer Kirche, die das eigentliche Ziel aus den Augen verliert: Seelsorge und Hilfe für die hier lebenden Menschen anstatt Rettungsschiffe für das Mittelmeer kaufen." 

Klingenberg wies derlei Polemik zurück als "ein seltsames christliches Verständnis, was Du da propagierst! Nächstenliebe kennt keine Grenzen und wir haben nur eine Welt" usw. Sodann das säkulare, protestantisch-pietistisch eingefärbte Confiteor: "An den Krisen dieser Welt haben wir (!) ja selber einen nicht unerheblichen Anteil." Am Ende traf der Bannfluch den ungläubigen Fb-Genossen: "Was Du da verkündest (,) ist AFD-Geschwurbel und Trumpismus!"

Der frühere Vikar ist  - stellvertretend für manch andere Protagonisten schlichter Gesinnungsethik - an die im Gefolge der "Flüchtlingskrise" anno 2015 von dem Theologen Richard Schröder (SPD-Vorkämpfer der deutschen Einheit in der frei gewählten Volkskammer 1990) vorgetragene Kritik an grenzenloser Migration zu erinnern. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lukas 10, 25–37) explizierend, betonte Schröder wiederholt die Pflicht und die Grenzen christlicher Hilfeleistung. (https://www.globkult.de/politik/deutschland/1428-was-wir-den-migranten-schulden-und-was-nicht?)https://www.nzz.ch/international/ungerechte-seenotretter-theologe-richard-schroeder-im-interview-ld.1504989) Selbst die Ex-Kirchenchefin musste im erwähnten Interview einräumen, dass die Nächstenliebe - sprich Aufnahmebereitschaft - bei einer "Selbstaufgabe" an ihre Grenze stoße.  

IV.

In dem Facebook-Disput ging es auch um die für Klingenberg unzulässige Verknüpfung von sexuellem Missbrauch und der Flüchtlingsproblematik. Tatsächlich besteht ein Zusammenhang in der - nicht nur - protestantischen Psychologie: Der Anspruch auf absolute Moral schützt - bis zum peinlichen Nachweis der Verfehlung der Wirklichkeit - vor Selbstzweifel.

Unter Bedford-Strohm und unter Kurschus an der Spitze der EKD wurden die von Richard Schröder verantwortungsethisch definierten Grenzen christlicher Moral verwischt. Was kommt nach Kurschus? Eine Antwort auf diese Frage ist erst im nächsten Kirchenjahr zu erwarten. 

Die vielen anderen bedrängenden Fragen werden aller geschichtlichen Evidenz nach nicht nach moralischen Maximen, sondern - meist moralisch verbrämt - mit Machtmitteln beantwortet. Das passt nicht ganz zum grünen deutschen Glauben.


Freitag, 1. Dezember 2023

Henry Kissinger - anstelle eines Nachrufs

Alle Zeitungen der Welt, gedruckt oder nur noch online, widmen in diesen Tagen dem mit 100 Jahren verstorbenen Henry Kissinger umfangreiche Nachrufe. Dem Lesepublikum meines Blogs empfehle ich den Aufsatz des New York Times-Autors Davd E. Sanger zu einer ausgewogenen Beurteilung der Leistungen und der Fragwürdigkeiten des außergewöhnlichen Staatsmannes: https://www.nytimes.com/2023/11/29/us/henry-kissinger-dead.html?

Kissinger verstand sich als Protagonist des historischen und politischen Realismus. In seinen Büchern wie in seiner politischen Praxis wandte er sich gegen hochfliegenden Idealismus, wie er ihn im "Wilsonianismus" ("the war to end all wars"; "ro make the world safe for democracy") verkörpert sah. Letztlich bedeutete dies auch die Zurückweisung der Idee Kants vom ewigen Frieden. Kritikern erschien sein persönliches Machtstreben, erst recht seine Machtpolitik im Dienste der Weltmacht USA als amoralischer Machiavellismus, was zumindest für Kissingers Leitbegriff eines von Mal zu Mal zu tarierenden machtpolitischen Gleichgewichts in der Staatenwelt nicht zutrifft. 

Sein Konzept einer auch noch im 21. Jahrhundert praktikablen Weltordnung entwickelte er 2014 unter dem Stichwort "Westfälischer Frieden" (siehe dazu meinen Rezensionessay https://www.iablis.de/iablis/themen/2016-die-korruption-der-oeffentlichen-dinge/rezensionen-2016/115-kissingers-amerikanische-weltordnung). Leadership  verband er in seinem letzten Buch (2022) - unter dem deutschen Titel erschienen als "Staatskunst" - mit den Namen Konrad Adenauer, Charles de Gaulle, Richard Nixon, Anwar as-Sadat, Lee Kuan Yew und Maragaret Thatcher.

Als Historiker beschrieb Kissinger, ausgehend von der "realistischen" Großmachtdiplomatie auf dem Wiener Kongress, die Wirkkraft der Fakten und sparte mit der Ausgestaltung von Hypothesen oder kontrafaktischen Überlegungen. Anstelle eines weiteren Nachrufs sei die Überlegung gestattet: Was wäre aus Henry Kissinger - geboren im deutschen Krisenjahr 1923 in Fürth, 1938 vor den Nazis aus Deutschland geflohen -, was wäre aus dem Land seiner Geburt geworden, wenn anno 1933 nicht die "Machtergreifung" Hitlers - realiter die aus einem Intrigenspiel resultierende Machtübertragung - stattgefunden hätte?

 

Montag, 13. November 2023

Schöne Aussichten

Zerbricht die Ampel? Geht Hessen voran? Gelingt es, den Zustrom von "Geflüchteten" - die Migrationsströme- zu drosseln? Und wie? Spielt Brüssel, genauer: spielen alle EU-Schwesterländer mit? Welche Fahnen dürfen bei deutschen Demos (terminus popularis für Aufzüge, Kundgebungen, polizeilich angemeldete Meinungsbekundungen, frz. manif, populäre Kurzform für manifestation) in Zukunft geschwenkt werden? Wie integrieren wir deutsche Express-Neubürger in die deutsche Gedächtnis- und Gedenkkultur (mémoire collective)? Woher kommen die ungegenderten "Lehrpersonen", die bestrebt sind, die lieben Kleinen in Neukölln und anderswo zu wehrtüchtigen Demokraten (w/m/d) zu sozialisieren?

Wer hat ein Konzept für Nahost nach dem Gaza-Krieg? Wie lange hält die Ukraine gegen Putin durch?  Sichern die noch anzuwerbenden Fachkräfte unsere Renten? Kompensiert der neue youth bulge den indigenen age bulge? Wie lässt sich das Verhältnis von guter Gesinnung und hässlicher Wirklichkeit, von Moral- und Realpolitik bestimmen? Was sagt die derzeit tagende Synode der EKD dazu? Nimmt sie meinen diesbezüglichen Globkult-Aufsatz https://www.globkult.de/gesellschaft/identitaeten/2328-realitaetsverweigerung-als-frohe-botschaft zur Kenntnis (und zu Herzen)?   Last but not least: Wie kommt die deutsche Wirtschaft aus der derzeitigen Flaute zu neuem nachhaltigen Wachstum (sustainable growth)? Wieviel Schulden, wieviel Inflation sind dem Volk zumutbar?

Fragen über Fragen, allesamt schwer zu beantworten...Anstelle eines unergiebigen Kommentars zu den von den unerfreulichen Zeitläuften aufgeworfenen Fragen verweise ich auf Früchte meiner Morgenlektüre. Hoffnung durchzieht den Aufsatz von Matthias Alexander in der heutigen FAZ.  (nr, 264 v.13.11.2023, S.9). Unter dem Titel "So grün wird es nicht wieder" heißt es in der Zweitüberschrift: "Gendern war gestern, jetzt wird abgeschoben." Das Eckpunktepapier der neuen CDU-SPD-Koalition in Hessen zeige "den Beginn einer  neuen politischen Ära an". "Neue Ära" klingt gut, wenn sie denn auch noch käme!

Ganz anders, betrübt, ja hoffungslos  (auf Seite18) blickt der Leserbriefschreiber Peter Lang in unsere Zukunft. Er stellt seine knappe, nichtdestoweniger analytisch fundierte Prognose unter die zeitlos deutsche Verszeile von Heinrich Heine "Denk ich an Deutschland in der Nacht". Er schreibt: "Diese Nacht scheint sich nun langsam über das Land zu senken. die Deutschen nmüssen sich aber nicht sorgen: In vielen europäischen Ländern sind die Verhältnisse ähnlich. In Europa gehen die Lichter aus."

 


Donnerstag, 9. November 2023

Anmerkung zum Gedenktag am 9.November 2023

Am 9. November 2023 rückt in Deutschland die Erinnerung an die von nazistischen Schlägerbanden in zahllosen deutschen Städten und Dörfern verübten Schreckenstaten am 9. und 10.  November 1938 ins Zentrum des Gedenkens. Sie überlagert - abgesehen von Gedenkartikeln zum gescheiterten Hitler-Ludendorff-Putsch vor 100 Jahren - die Erinnerung an andere geschichtsträchtige, mit dem Novemberdatum assoziierte Ereignisse, einschließlich des Mauerfalls. Nichtsdestoweniger ragen in das Gedenken am heutigen 9. November die Szenen des am 7. Oktober 2023 auf grauenvolle Weise von der Terror-Organisation Hamas eröffneten Gaza-Krieges hinein. 

Auf eindringliche Weise stellt Chaim Noll in einem Aufsatz auf der "Achse des Guten" die - beim Thema "Antisemitismus"- weithin gemiedene Verknüpfung zwischen der deutschen Vergangenheit und der heutigen deutschen Gesellschaft her: "[Deutsche Politiker] werden wunderbare Reden halten am 9. November über die Notwendigkeit, die Juden in Deutschland zu schützen und die Werte der Demokratie hochzuhalten, ein paar Feierstunden lang wird die Stimmung gehoben und zuversichtlich sein, und schon der nächste Tag wird zeigen: Die Reden sind gute Vorsätze, doch den grauen Alltag, den Schulhof, die Straße überlässt man wie damals den brüllenden Barbaren."  https://www.achgut.com/artikel/zum_9._november_bruellende_barbaren

Nolls aufrüttelnde Sätze könnten sich auf die Rede beziehen, die Bundespräsident Steinmmeier anlässlich des 9. November vor einer Gruppe geladenern Gäste, daruntere die 102 jährigen Holocaust-Überlebende Margot Friedländer, gehalten hat. Er bezeichnete Deutschland als ein "Land mit Migrationshintergrund"  und das Grundgesetz als "Fundament unseres Zusammenlebens, das freiheit für alle garantiert, Bedrohung und Diskriminierung aber ausschließt."  

Die Rede des Bundespräsidenten von "Deutschland als Land mit Migrationshintergrund" ist gut gemeint. Die mit der allseits  beförderten Entwicklung zu einer "modernen Einwanderungsgesellschaft" verknüpften Fragen nach der Integrationskraft einer bedrückenden und verstörenden Gedenkkultur bleiben in derlei Worten erneut unbeantwortet. 

Von  Ausnahmen  - wie der oben zitierte Alarmruf von Chaim Noll -  abgesehen, stößt kritische Reflexion über die künftige ideelle Verfassung unseres Landes - jenseits des permanent als unverrückbar deklarierten Wertegrundlage des Grundgesetzes ("Verfassungspatriotismus") - sowie in concreto über die künftige Relevanz von historischen Gedenktagen auf Unverständnis oder auf indignierte Zurückweisung.  Wer auf die - in den Szenen auf deutschen Straßen und Plätzen manifesten - Gefahren kultureller Desintegration verweist, wird als "rechts" verteufelt.

Anstelle einer umfassenden Kritik der Problematik nationalen Gedenkens in der postnationalen Gesellschaft der Bundesrepublik verweise ich auf einen bereits anno 2015verfassten Aufsatz: https://www.globkult.de/politik/deutschland/985-fragen-zu-deutschem-gedenken-unter-den-bedingungen-einer-neuen-gesellschaft Außerdem wird die Thematik in meinem Gedenkaufsatz für Ulrich Schacht berührt:  https://www.globkult.de/geschichte/zeitgeschichte/2081-historische-schuld-und-politische-gegenwart 

Mittwoch, 11. Oktober 2023

Der Grünen-Nachwuchs kämpft jetzt mehr für soziale Gerechtigkeit

Wie geht es wohl weiter, wenn Claudia Roth, Robert Habeck und Steffi Lemke in den verdienten politischen Ruhestand eintreten und ihr geistiger Führungsanspruch an den grünen Nachwuchs übergeht? Aus einem Interview der FAZ (v. 11.10.2023) mit Sarah-Lee Heinrich, der Bundessprecherin ( grünes und AfD-Synonym für "Vorsitzende") der Grünen Jugend, können wir uns ein Bild von den künftigen grünen Führungsqualitäten machen. Befragt nach ihren Folgerungen aus den jüngsten Landtagswahlen, erklärte Sarah-Lee, die Ursache für das - von den grünen Parteichargen als "zweitbestes Ergebnis" ihrer Geschichte schöngeredete - Ergebnis, liege daran, die Ampel habe "das Thema soziale Gerechtigkeit nicht ordentlich bearbeitet, das muss sich ändern."

Die soziale Gerechtigkeit benennt Sarah-Lee - ohne die politische Konkurenz die geschrumpfte "Linke" und die erfolgreiche, auf ihre spezifische Weise sozial orientierte AfD - zu bedenken, als Kernthema der Grünen. Ganz persönlich will sie, "dass es allen Menschen gut geht." Sie hat erkannt, dass Habecks - von seinem einstigen, nepotisch verbundenen Staatssekretär Glaichen ersonnenes -  Wärmepumpenprogramm den Grünen bei den Menschen eine Menge Stimmen kostete. Es war offenkundig nicht sozial gernug.

Die Grünen, die bislang "immer noch von Menschen mit dem höchsten Bildungsabschluss" (!) gewählt worden seien, müssten ihre Wählerbasis verbreitern und diejenigen erreichen, "die gerade Abstiegsängste haben". Die sollten nicht länger "rechten Erzählungen nachlaufen", sondern für die Grünen - nach Sarah-Lees Wunschvorstellung die Interessenvertreter der Mehrheit - gewonnen werden.   "Deswegen gehört die Verteilungsfrage nach vorne."

Für die grüne Nachwuchschefin  ist "soziale Gerechtigkeit der Grundstein für Klimaschutz oder eine solidarische Migrationspolitik". Den Einwand der Interviewerin, die Migration verschärfe die Verteilungsfrage, lässt sie nicht gelten. Wenn es beispielsweise an Wohnungen für 30 Leute fehle, "und dann kommt noch ein Geflüchteter dazu", sei das kein Problem. "Man muss 30 Wohnungen bauen statt einen Menschen wegzuschicken."

Sarah-Lee geht es um "gute Sozialpolitik", um der AfD "damit den Nährboden zu entziehen." Nötig sei parallel zu einem "Sozialcheck" ein "Klimacheck" für den Klimaschutz, der wiederum - anstelle einer ungerechten CO2-Steuer - durch ein Klimageld erreicht werden könne. Die junge Grüne weiß natürlich, dass dies ohne Geld aus der Staatskasse nicht zu machen ist, deshalb hält sie die Schuldenbremse für "Quatsch", ebenso Quatsch wie Nachsicht gegenüber den "Superreichen". Der Koalitionsvertrag? Die Ampel habe es "schon mehrmals hingekriegt, sich darüber hinwegzusetzen." In diesem Punkt hat die junge Grüne ohne Frage recht.

Zu Sarah-Lees  Kampf für globale soziale Gerechtigkeit gehört, allen geflüchteten Menschen "eine Bleibeperspektive zu ermöglichen". Derlei Sinn für Gerechtigkeit unterscheidet die grüne Nachwuchspolitikerin von der Grünen-Vorstzenden Ricarda Lang, die jüngst - termingerecht vor den Hessen- und Bayernwahlen -  "mehr Tempo" bei Abschiegungen forderte. Sarah-Lee richtet den Blick - im Unterschied zu allen, die vermeinten, mit Stacheldraht den Fluchtursachen zu begegnen - auf die "globalen Probleme". EU und Deutschland müssten sich fragen, "was sie eigentlich für eine gerechte Welt tun." Sie hat die Frage für sich bereits beantwortet.

Mit ihrer Vorstellung von "sozialer Gerechtigkeit" verfügt Sarah-Lee Heinrich zwar noch nicht über ein ausgefeiltes Programm zur Lösung der globalen Zukunftsfragen. Immerhin verfügt sie über ein starkes Selbstbewusstsein und beherrscht die Phraseologie, die in diesem unseren Lande der politische Nachwuchs für seine Karriere benötigt.

 

Donnerstag, 5. Oktober 2023

Die deutschen Zustände vor und nach den Landtagswahlen am 8. Oktober

Der am vergangenen Dienstag, den 3. Oktober 2023, in Hamburg abgefeierte „Tag der deutschen Einheit“ ist bereits vergessen. Das gespannte Interesse des Volkes – im aktuellen polspeak: „die schon länger länger hier Lebenden“ -, der Medien sowie der laut 21,1 GG an der politischen Willensbildung des Volkes (=des Souveräns) „mitwirkenden“ Parteien gilt dem Ausgang der Landtagswahlen in Hessen und Bayern am kommenden Sonntag, 8.Oktober.

Wie tief wird Fußballfan*in Nancy Faeser samt SPD in Hessen abstürzen, wie hoch werden die Prozentzahlen für Markus Söder und die CSU in Bayern ausfallen? Was folgt daraus für Söders Ambitionen auf das Kanzleramt? Welchen Bonus bekommt Aiwanger vom bayerischen Wahlvolk für seinen Umgang mit peinlicher Erinnerung an Gymnasialzeiten? Rutscht die FDP unter die fünf Prozent, und fliegt sie ungeachtet aller liberalitas Bavariae wieder mal aus dem Landtag?

Bedeutsamer noch scheint der Wahlausgang im bis dato schwarz-grün regierten Hessen. Es geht weniger um die Frage, ob Boris Rhein die Koalition mit den Grünen fortsetzen wird oder mit einer - dank Faeser - deutlich geschwächten SPD. Die über Hessen hinausweisende, für ganz Deutschland relevante Frage ist, wie hoch das Ergebnis für die AfD ausfällt. Sollte sie mit der SPD und den Grünen gleichziehen oder sie gar übertreffen, signalisierte dies – parallel zu den Wahlprognosen in den „neuen“ Bundesländern sowie zu den Tendenzen in Baden-Württemberg und Bayern - eine grundlegende Veränderung der deutschen Parteienlandschaft.

Ein weiterer Indikator für eine Krise des alten Parteienstaates ist – wenn auch außerhalb Bayerns noch unspektakulär – die Annäherung der „Freien Wähler“ an die Fünf-Prozent-Grenze. Sollte Sahra Wagenknecht mit der Gründung einer neuen, linksnationalen Partei hinzukommen, ergäbe sich ein noch bunteres Bild.

Die politisch brisante Frage bleibt der Umgang der „Altparteien“ mit der AfD. Ihr Überleben als „populistische“ Protestpartei verdankt sie der CDU-Kanzlerin Merkel und der Grenzöffnung 2015. „Grenzen kann man nicht schützen“, dixit Merkel, ehe sie einen halbherzigen Deal mit dem türkischen Machthaber Erdogan abschloß. Auch in den Folgejahren wurde das politisch zentrale Thema „Migration“ teils übergangen, teils moralisch überhöht, teils ökonomisch funktional behandelt. Sämtliche, aus der unkontrollierten Einwanderung resultierenden Probleme wurden ignoriert oder der „Aufnahmegesellschaft“ als politische Pflicht auferlegt. Heute sind alle Kommunen „am Limit“. Trotz der unlängst von der EU beschlossenen Maßnahmen zur Sicherung der Außengrenzen ist nicht davon auszugehen, dass sich in Deutschland unter der Ampel-Regierung an der verfahrenen Lage etwas ändern könnte. Gewinner dieser – zum Teil zielbewusst betrieben – unverantwortlichen Politik war und ist die AfD.

Der „Kampf gegen Rechts“ - nicht nur gegen die AfD, sondern gegen alle Kritiker der grün-roten Einwanderungspolitik – ist seit langem von Gewalttaten begleitet. Soeben - vor den Landtagswahlen in Hessen und Bayern – erfahren wir von der Bedrohung bzw. vom tätlichen Angriff auf die AfD-Vorsitzenden Alice Weidel und Tino Chrupalla. Noch ist unklar, ob es sich dabei um ein wahlkampfverschärfendes fake news handelt. Immerhin gab es schon vorher reichlich üble Attacken, unter anderem auf Erika Steinbach (ehedem CDU). 

Geschichte wiederholt sich nicht. Doch unübersehbar mehren sich die Phänomene politischer Gewalt. In nicht wenigen Fällen geht die Gewalt auf das Konto von linksextremen Aktivisten („Antifa“), die ihre Aktionen mit fremdenfeindlicher Gewalt  von Neonazis - die es unübersehbar gibt - sowie allgemein mit dem angeblichen Vormarsch der "Rechten" legitimieren. Es sind Anzeichen für Zustände, die - mutatis mutandis in der als historischer Fortschritt gepriesenen „bunten Republik“ - an „Weimar“ erinnern. Hinterher will keiner von denen, die die Spaltung der deutschen Gesellschaft seit Jahren betreiben, historisch verantwortlich gewesen sein.

Vor den Wahlen entdecken plötzlich alle Parteien, dass die grenzenlose Migration – anders als von Angela Merkel dereinst proklamiert – nicht zu „schaffen“ ist. Ob es für eine Lösung der durch die ungehemmte Immigration entstandenen Probleme nicht bereits zu spät ist, ist eine offene, allerorts gemiedene Frage. 

Fazit: Die um nur wenige Prozentzahlen schwankenden Wahlumfragen in den Bundesländern Bayern und Hessen verheißen den Wettbüros erfreuliche Umsätze. Weniger erfreulich erscheint die Zukunft unseres Landes in der Mitte Europas.

Montag, 25. September 2023

Die Macht des Faktischen: Berg Karabach und andere Fakten

Die jüngsten Ereignisse in und um die armenische Region Berg Karabach finden nur mäßiges mediales Interesse. Die Zahl der Opfer des aserbeidschanischen Angriffs – die Angaben liegen zwischen 25 und 200 – waren nicht spektakulär. Die Bilder einer dicht gedrängten Menge Menschen, die, zur Flucht entschlossen, auf dem Flughafen von Stepanakert zusammenströmten, konnten nicht mit denen von auf überfüllten Booten in Lampedusa gelandeten Migranten (und/oder „Geflüchteten“) konkurrieren. Die Nachricht, dass das – keineswegs selbst stets nur friedfertige - durch Krieg und Emigration geschwächte Armenien 40 000 der auf 140 000 bezifferten Bewohner aus der – nach dem im letzten Krieg im September 2020 um ein Drittel reduzierten - Enklave aufnehmen will, blieb eine Randnotiz. Inzwischen rechnen Beobachter mit dem Exodus - sprich: Vertreibung – der gesamten Bevölkerung.

Der aserbeidschanische Machthaber Ilham Alijew kann zufrieden sein. Voll Genugtuung verkündete er – unter Berufung auf das Völkerrecht - die „Wiedereingliederung“ der Bergregion. Sein schneller Schlag machte das anno 2020 von Putin vermittelte – und durch Stationierung russischer Truppen vermeintlich garantierte - Abkommen obsolet. Denn obgleich bei dem Angriff auch russische Soldaten getötet wurden, stieß die Gewaltaktion in Moskau, unlängst noch Armeniens Schutzmacht, nicht einmal verbal auf Widerspruch. Damit reagiert Putin auf die sich unter Ministerpräsident Paschinjan abzeichnende Annäherung Eriwans an den Westen. Zudem pflegt er seit Beginn des Ukrainekrieges ein besonderes Verhältnis zu dem türkischen Präsidenten Erdogan, was die Anerkenung und Stabilisierung der Achse Ankara-Baku impliziert. 

Ähnlich begrenzt scheint – nach einem Waffenstillstand, bei dem die Armenier von Karabach ihrer Entwaffnung und dem faktischen Ende ihrer territorialen Eigenständigkeit zustimmten, das Interesse der westlichen Politik an der Zukunft der armenischen Bergregion. Die zu einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates angereiste grüne Außenministerin Annalena Baerbock erklärte in New York, Aserbeidschan und Russland müssten „dafür sorgen, dass die Menschen in ihrem eigenen Zuhause sicher sind." Der EU-Ratspräsident Charles Michel teilte mit, er habe Alijev telefonisch aufgefordert, "für einen vollständigen Waffenstillstand" und eine "sichere und würdige Behandlung der Armenier in Karabach" zu sorgen. Von einer Forderung nach Autonomie für die christliche Region innerhalb der Republik Aserbeidschan ist nirgendwo die Rede, erst recht nicht von "Selbstbestimmungsrecht".

Unausgesprochen bleibt, dass auch im Westen, in Washington und in der EU, nicht selten Bekenntnisse zu „Werten“ und Völkerrecht von materiellen Interessen überlagert sind. Im Falle von Berg Karabach handelt es sich um ein Territorium, das seine völkerrechtliche Definition den Grenzziehungen in Sowjetrussland nach den Vorgaben des damaligen Nationalitätenkommissars Stalin verdankt. Auf realpolitischer Ebene geht es - vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs - um die Interessen Europas an Öl und Gas aus Baku. Des weiteren geht es – nach dem faktischen Scheitern einer gesamteuropäischen Friedensordnung in den 1990er Jahren - um schiere Machtpolitik: um die Interessen und Projektionen Putins, des Westens, des NATO-Eckpfeilers Türkei, schließlich des Mullah-Regimes im Iran.

Im Schatten des Ukrainekriegs nutzte Alijew seine Chancen und schuf im Kaukasus neue Fakten. Des weiteren zielt er auf eine direkte Landverbindung zur an die Türkei angrenzende Exklave Nachitschewan.  Zur Hand kommt der Begriff Max Webers von der Normativität des Faktischen, der mit den Maximen von Recht, Moral und Völkerrecht kollidiert. Wir erleben derzeit erneut die Macht des Faktischen auch in manch anderen Regionen der Welt. Ein Testfall wird der Ausgang des Ukrainekriegs sein. 

 

Mein Kommentar auch auf der "Achse des Guten": https://www.achgut.com/.../berg_karabach_wird_fuer_oel...
 
Siehe auch meinen Globkult-Aufsatz "Vernehmliches Schweigen" zum  Revanchekrieg Alijews 2020:

 

Donnerstag, 31. August 2023

Realgeschichte und Geschichtspolitik

Für die Leser/innen meines Blogs, die nicht bereits meinen Artikel zu dem - vor dem Hintergrund des  Ukrainekriegs - von verschiedenen Autoren gefällten Negativurteil über den anno 2015 verstorbenen "Ostpolitiker" Egon Bahr zur Kenntnis genommen haben, stelle ich nachfolgend noch einmal den Globkult-Aufsatz "Geschichtspolitik im Zeichen des Krieges – Egon Bahr als bête noire" ins Netz.

I.

Wir – die Bundesrepublik Deutschland in und mit der Nato - befinden uns zwar noch nicht im Krieg, wie unsere Außenministerin Baerbock in einem ihrer faux-pas meinte. Nichtsdestoweniger findet hierzulande - nicht erst seit Beginn von Putins „militärischer Spezialoperation“, sondern seit dem Kiewer Maidan 2013/14 und der darauffolgenden Annexion der Krim – ein Meinungskrieg statt. Parteinahme ist geboten. Es gilt, die Guten von den Bösen zu unterscheiden, was im Falle des auch ob seiner KGB-Praxis notorischen Putin einfach scheint. In einem solchen Krieg eine um Analyse und mögliche Konfliktlösung bemühte Position einzunehmen, bedeutete moralische Feigheit, schlimmer noch: es handelte sich um Putinismus, um Verständnis für das Böse. Ist die Sache derart geklärt, setzt die Suche nach den Wegbereitern und Parteigängern des historisch Bösen ein.

Man kann – mit den Augen eines Talleyrand - die Dinge auch anders sehen: Putins Entscheidung zum offenen Krieg war schlimmer als ein Verbrechen - sie war eine Dummheit. Das Bonmot schützt vor Naivität. Gewiss, in derlei Betrachtung des Geschehens ist der Übergang von Realismus zu Zynismus fließend. Und umgekehrt: Die Grenzen zwischen Moral und Machtinteressen sind in der politischen Wirklichkeit oft schwer erkennbar. Während eines Krieges – im Sinne parteiischer Geschichtsschreibung naturgemäß auch danach - versagt die Fähigkeit zur kritischen Analyse und zur Differenzierung bezüglich seiner Vorgeschichte.

Genug der Vorrede: Vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges wird von einigen Kommentatoren die politische Weisheit, nicht zuletzt die Lauterkeit der zu Zeiten der deutschen Teilung unter Bahr-Brandt initiierten „Ostpolitik“ in Frage gestellt. Insbesondere der langjährige Brandt-Vertraute und als „Architekt der Ostpolitik“ bekannte Egon Bahr steht posthum unter Verdacht, als „linker Nationalist“ kontinuierlich im Zusammenspiel mit Moskau die Sache der Freiheit und der Menschenrechte zugunsten eines – zweistaatlich definierten – deutschen Nationalinteresses preisgegeben zu haben.

II.

Die Debatte eröffnete Heinrich August Winkler mit einem Aufsatz zum Gedenken an Egon Bahrs Tutzinger Rede 1963 über „Wandel durch Annäherung“ (H.A.W.: „Der Tabubruch von Tutzing“, in: FAZ v. 10. Juli 2023). Winkler würdigte die im Zeichen des Kalten Krieges unternommenen Schritte der sozialliberalen Koalition zur Überwindung des in Hitlers Krieg begründeten, durch unklare – als „revisionistisch“ und friedensgefährdend wahrgenommene - westdeutsche Rechtspositionen befestigten Spannungszustands in der Mitte Europas. Dazu gehörte insbesondere die in den Verträgen von Moskau und Warschau (1970) festgeschriebene Anerkennung der polnischen Westgrenze an Oder und Neiße als Voraussetzung für eine anzustrebende europäische Friedensordnung.

Bereits der Hintergrund der „neuen Ostpolitik“, konzeptionell hervorgegangen aus dem - zwischen Konfrontation und „Entspannung“ oszillierenden - Ost-West-Konflikt, letztendlich aus der durch den Mauerbau 1961 entstandenen Zwangslage, kommt in Winklers Ausführungen gegenüber den politisch-ethischen Aspekten der Ostpolitik nicht hinreichend zur Geltung. Die realpolitischen Brandt-Bahrschen Nahziele – vertraglich gesicherte Erleichterungen für West-Berlins sowie die Bewahrung des nationalen Zusammenhalt durch den Grundlagenvertrag mit der DDR – waren verknüpft mit dem nationalen Fernziel der Überwindung der deutschen Teilung.

Egon Bahr berief sich auf Kennedy: Es komme darauf an, den Status quo anzuerkennen, um den Status quo zu überwinden. Die Voraussetzungen für den Erfolg eines solchen Konzepts waren fünffach: 1) die Unumkehrbarkeit des Entspannungsprozesses zwischen den „Supermächten“ 2) der Abbau der Militärblöcke und die Schaffung eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems 3) die Rückgewinnung der vollständigen deutschen Souveränität, wenngleich in Gestalt der zwei existierenden Staaten 4) das vertraglich fixierte, wachsende Einvernehmen der deutschen Staatsführungen, zwischen deutschen Patrioten auf beiden Seiten 5) das Interesse Moskaus an einem stabilen Friedenszustand jenseits der bestehenden Antagonismen (5a) der Schlüssel für die deutsche Einheit liegt in Moskau).

 

Man kann – ex post - an den genannten Prämissen zweifeln. Nichtsdestoweniger hätte es ohne dieses Konzept und dessen Umsetzung in den ostpolitischen Verträgen in den 1970er Jahren keinerlei politische Bewegung nach „vorn“, sprich hin zu einem Status quo plus im geteilten Deutschland gegeben. (Mir persönlich ging die erhoffte Status-quo-Überwindung zu langsam. Andererseits konnte – dank „Ostpolitik“ - anno 1983 der bayerische Ministerpräsident Franz-Josef Strauss zwei Milliardenkredite an die wirtschaftlich marode DDR übermitteln, was die Erosion des SED-Regimes - und den Mauerfall - letztlich beförderte.)

Kein Zweifel besteht, dass die fünfte Voraussetzung erst 1985 mit dem Machtantritt Gorbatschows eintrat und dieser sein – alsbald zum Scheitern verurteiltes – Reformprogram mit der Rede vom „gemeinsamen Haus Europa“ verknüpfte. Maßgeblich für die weitere Entwicklung im östlichen Mitteleuropa war Gorbatschows Verzicht auf die Breschnew-Doktrin, d.h. auf den sowjetischen Interventionsanspruch im eigenen Machtbereich.

Erst nach und nach näherte sich Gorbatschow, mit Beratern wie Georgi Arbatow, Alexander Jakowlew und Valentin Falin, auch der deutschen Frage. Man dachte an einen evolutiven Prozess, mitgetragen von einer reformbereiten DDR-Regierung. Nicht eingeplant war die sich seit September 1989 abzeichnende „friedliche Revolution“ in der DDR, geschweige der Mauerfall. Die umfassende Krise im Innern der Sowjetunion sowie die durch den Mauerfall entstandene neue weltpolitische Konstellation bewogen Gorbatschow - nach längerem Zögern bezüglich der Nato-Mitgliedschaft des künftigen Deutschlands - zur Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung im Kontext der Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen.

Innerhalb des alten Machtapparats stießen Gorbatschows Reformstrategien („Glasnost“ und „Perestroika“) von Anbeginn auf Widerstände. Sie eklatierten in dem im August 1991 gescheiterten Putsch von Militärs und Geheimdienstlern, die weder die von Gorbatschows Rivalen Boris Jelzin betriebene Auflösung der Sowjetunion noch den Verzicht auf das – mit 400 000 sowjetischen Truppen in der DDR gesicherte - Machtglacis hinnehmen wollte. Ein erfolgreicher Putsch zu einem früheren Zeitpunkt – etwa noch in der Phase zwischen Mauerfall und dem 3. Oktober 1990 – hätte nicht nur die deutsche Einheit verhindert, sondern – unter blutigen Szenen - die alten Machtverhältnisse in ganz Mitteleuropa wiederhergestellt.

Seit dem Mauerfall, erst recht seit der in wenigen Monaten anno 1990 vollzogenen staatlichen Neu- (oder „Wieder-“)vereinigung findet ein parteipolitischer Streit über die Bedeutung der Ostpolitik für die Wiedergewinnung der deutschen Einheit statt. Wenngleich heute weniger emphatisch, messen meist sozialdemokratische Verteidiger der „neuen Ostpolitik“ das Verdienst zu, durch die über Jahr hin gepflegten friedenspolitischen Beziehungen zur Sowjetunion den Wandel unter Gorbatschow ermöglicht und befördert zu haben.

Ihre Gegner – meist zu finden bei den Grünen und bei der CDU/CSU – werfen den einstigen Protagonisten der „Ostpolitik“ die machtpolitische Fragwürdigkeit des auf „Entspannung“ basierenden Gesamtkonzepts, gravierende Fehler in der Raketen- und Sicherheitsdebatte anfangs der 1980er Jahre und insbesondere Versagen in der Fragen der Menschenrechte vor. In der aktuellen, durch die „Zeitenwende“ ausgelösten Debatte um die einstige „Ostpolitik“ fungiert Egon Bahr als bête noire, während Willy Brandt von Attacken verschont bleibt.

III.

In einem Leserbrief bezieht sich Gerhard Baum, von 1972 bis 1978 Parlamentarischer Staatssekretär im Innenministerium, von Juni 1978 bis September 1982 Innenminister, auf Winklers Kritik an den „Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen von Egon Bahr in den verschiedenen Phasen der Ostpolitik“. ( https://www.faz.net/aktuell/politik/briefe-an-die-herausgeber/briefe-an-die-herausgeber-vom-17-juli-2023-19037905.html).

Baum reklamiert für sich und die damaligen „Deutschen Jungdemokraten“, sie hätten innerhalb der FDP den Weg in die sozialliberale Koalition Brandt-Scheel im September 1969 geebnet. Mit ihren progressiven Vorstößen gegen die alten „Nationalliberalen“ in der Partei hätten er und seine Mitstreiter, begleitet von „Zweifeln“ an Ziel und Wegbeschreibung, zu den Wegbereitern der „Ostpolitik“ gehört. Das ist - von den reklamierten eigenen "Zweifeln" abgesehen - im Hinblick auf die Öffnung der FDP für eine "neue" Ostpolitik nicht unrichtig. Was Baums Ausführungen zur deutschen Einheit, zu den Verfehlungen Egon Bahrs einerseits und zu den spezifischen Leistungen Genschers andererseits, bedürfen sie indes einiger Korrekturen.

Baum schreibt: „Wir wollten eine Reformkoalition, die unter anderem den Kalten Krieg beenden sollte.“ Offenkundig standen diesem Ziel eben jene in den Nachkriegsjahrzehnten von Mal zu Mal verfestigten Machtrealitäten im Wege, die Egon Bahr schrittweise überwinden wollte. Entsprechend attestiert Baum dem Realpolitiker Bahr, er habe „am Anfang des Prozeses (der „Ostpolitk“) „eine kluge Strategie entwickelt.“ Danach sei Bahr sehr bald auf politische Abwege geraten.

Zu den Sünden Bahrs zählt Baum, der für sich beansprucht, stets die „berechtigten Interessen“ und Freiheitsbestrebungen der Osteuropäer im Blick gehabt zu haben, den angeblichen Verzicht auf die deautsche Einheit. Bereits in der Frühphase habe Bahr eine „zögernde bis ablehnende Haltung zu dem den Verträgen beigegebenen ´Brief zur deutschen Einheit´“ an den Tag gelegt. Hier trügt Baums Erinnerung. Es war Egon Bahr, dem es während der zähen Verhandlungen in Moskau gelang, seinem Gegenüber, dem sowjetischen Außenminister Gromyko, eben jenes Zugeständnis abzuhandeln. Als Argument diente der Verweis auf das Bundesverfassungsgericht.

Dass Bahr – von 1974-1976 als Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit – anno 1975 bei der KSZE-Konferenz in Helsinki bereit gewesen sei, der Forderung Breschnews auf endgültige Anerkennung der innerdeutschen Grenze nachzugeben, bedarf geschichtswissenschaftlicher Überprüfung in den Akten. Es trifft hingegen zu, dass Bahr im Streit um neue Mittelstreckenraketen („auf deutschem Boden“) ein Gegner des Nato-Nachrüstungsbeschlusses und Helmut Schmidts war. Der Bruch der sozialliberalen Koalition geht insofern auch auf sein Konto. Nicht ganz abwegig - im Hinblick auf den offenkundigen ökonomisch-technischen Rückstand der Sowjetunion - ist Baums These, der Nato-Doppelbeschluss sei ein „wichtiger Schritt zur Wiedervereinigung“ gewesen. Zu ergänzen wäre: der etwa zeitgleiche sowjetische Einmarsch in Afghanistan.

Baum wirft Bahr nicht nur die Missachtung der Solidarnosc-Bewegung in Polen vor, sondern auch, dass er – das für die "Ostpolitik" stets maßgebliche – Ziel der deutschen Einheit als „eher nachrangig“ betrachtet habe. Eine solche Wahrnehmung, die sich in den 1980er Jahren während der SPD-SED-Sonderbeziehungen aufdrängte, wird widerlegt durch das 1988 von Bahr verfasste schmale Buch „Zum europäischen Frieden. Eine Antwort an Gorbatschow“. Darin plädierte Bahr – immer noch im Rahmen seines alten Konzepts – für weitere Abrüstung, für Friedensverträge mit den beiden deutschen Staaten, für die Wiedergewinnung der vollen Souveränität und dem darauf gegründeten Recht – und dem Ziel – der deutschen Einheit.

Baum schließt mit der kühnen These, Bahr habe „nach 1989 alles versucht, um den Zwei-plus-vier-Vertrag“ zu verhindern. Zudem habe er mit der „Falin-Gruppe in Moskau“ gegen Gorbatschow konspiriert. Richtig ist, dass Bahr – anders als sein Freund Willy Brandt - nach dem Mauerfall eine Zeitlang noch zögerte, den schnellen Zug zur deutschen Einheit zu besteigen. Schließlich scheint Baum vergessen zu haben, dass auch der von ihm als Gegner Bahrs und Vorkämpfer der deutschen Einheit gerühmte Genscher in der kritischen Anfangsphase von 2+4 für ein paar Wochen die Neutralität des zu vereinenden Deutschland in den Raum stellte.

IV.

Angestoßen von Gerhart Baums „Enthüllungen“ über Egon Bahr hat der „Tagesspiegel“-Redakteur Daniel Friedrich Sturm die Vorwürfe gegen den einstigen „Architekten der Ostpolitik“ in einem langen Artikel noch einmal zugespitzt. (https://www.tagesspiegel.de/politik/gerhart-baums-enthullungen-ein-harscher-vorwurf-gegen-egon-bahr-10165000.html ) Er bemerkt und moniert, dass Bahr „seine nationale Ader immer wieder“ gezeigt habe, „ebenso seine Distanz zur Nato“. Sodann übernimmt er die These Baums von der Nachgiebigkeit Bahrs gegenüber der sowjetischen Forderung nach Endgültigkeit der innerdeutschen Grenze vor der KSZE-Konferenz 1975.

Unverzeihlich findet Sturm das ostentative Desinteresse Bahrs an den Bürgerrechtlern in der DDR. Mehr noch, Bahr habe gegen „die Gründung der SPD in der DDR“- gemeint ist wohl die Gründung der SDP im September 1989 - „intrigiert“. In der Phase der friedlichen Revolution 1989/90 sei das Verhältnis zwischen dem als Bremser wirkenden Bahr und dem von Freude über die Revolutin erfüllten Brandt „zerrüttet“ gewesen. Last but not least habe Bahr auch nach der Krim-Annexion Putin als „berechenbar erklärt“ und die Krim als Teil Russlands betrachtet. (Anm.: Nicht anders äußerte sich vor seinem Tod im August 2014 der geschichtskundige Peter Scholl-Latour.)

Dass SPD-Leute, „selbst kluge Köpfe wie Frank-Walter Steinmeier und Olaf Scholz“, bis heute das späte Zerwürfnis zwischen Bahr und Brandt nicht wahrhaben wollten, beweise deren „frappierende geschichtspolitische Ignoranz.“ Der Satz des Bahr-Kritikers Sturm enthüllt ungewollt den Kern der Debatte über die historische Rolle Egon Bahrs, nach einem Bonmot Willy Brandts „unter uns der letzte Deutschnationale“.

Es geht in der skizzierten Debatte nicht um die kritische Rekonstruktion der Bahrschen „Ostpolitik“, um die Abwägung ihrer Verdienste, Grenzen und Schwächen, sondern um die Durchsetzung geschichtspolitischer Thesen zum Zwecke politisch-moralischer Eindeutigkeit in der Gegenwart. Vor dem Hintergrund des Ukrainekonflikts, in dem Moral und Macht eindeutig zu unterscheiden seien, werden die vermeintlich amoralischen, realpolitischen Kategorien Egon Bahrs als verwerflich empfunden. 

 

Siehe auch: https://www.tabularasamagazin.de/herbert-ammon-negativurteile-ueber-egon-bahrs-ostpolitik/ 

 

Mittwoch, 26. Juli 2023

Concerning German Remembrance of "Die Weiße Rose"

Rites of remembrance

In Western societies in general, and particularly in present-day Germany, we can observe a tendency towards an ahistorical view of human existence, obliterating the complexities of past and present. In contrast to this tendency, Germany, although undergoing a rapid process of transformation from – in relative terms – a culturally and ethnically homogeneous country into a heterogeneous multiethnic and multicultural society, is preserving a „national“ perspective regarding the country´s history. Whether, in the future, a „national“ narrative is apt to provide a „collective memory“ for a „modern immigrant society“ - the political goal proclaimed by the Berlin government – remains open to question.

Up to now,  in historical and political education, the focus lies on Germany´s bitter past of Nazism and the Holocaust. To a lesser degree, historical tribute is paid to the legacy of the anti-Nazi resistance. Aside from the failed plot of July 20, 1944, as an outstanding historical event, the student resistance group of the „Weiße Rose“ serves as a shining example of courage and ethical purity. Again, in events commemorating their martydom, the motives of the Scholls and their friends are rarely elaborated in full scope but elevated to an abstract ideal. Not by chance, in various films and exhibitions, the role of Sophie Scholl as a female resister is given particular emphasis.

It is to be noted, too, that there exist two separate - in fact, politically divergent - societies dedicated to preserving the ethical and political heritage of the „Weiße Rose“. In general, memorial events are staged by the „Weiße Rose Stiftung e.V.“ founded in 1987 by Inge Scholl and surviving members of the resistance group. Minor attention is attracted by the „Weiße Rose Institut“ set up, in 2003, by other family members of the group at the Abbey St. Bonifatius in Munich.

To further illustrate the intricacies of „Gedenkkultur“ (commemorative culture), the role of Alexander Schmorell, half-Russian by descent and born in Orel, Russia, in the revolutionary year 1917, tends to recede in the background. As a fellow medical student at the University of Munich, Schmorell became Hans Scholl´s closest friend. In the spring and summer of 1942, the two of them coauthored and spread the first leaflets titled „Die Weiße Rose“. In the second trial against members of the resistance group staged at the „Volksgerichtshof“ in Munich in April 1943, Schmorell, together with Kurt Huber and Willy Graf (killed some months later), was sentenced to death and executed, two months after the Scholls´ and their friend Christoph Probst´s execution. In 2012, Schmorell was canonized as „Alexander of Munich“ by the Russian Orthodox Church.

The commemoration of the „Weiße Rose“ heroism may also lead to overlooking the specific situation in February 1943, when the Munich group stepped up its actions of leaflets and graffitti („Freiheit“, „Nieder mit Hitler“). In false optimism, they hoped for a general upheaval against the Nazi regime in reaction to the catastrophic defeat of the 6th German Army at Stalingrad. In particular, their hopes were spurred by spectacular scenes of protests among Munich students triggered by a primitive speech of the Munich Gauleiter Paul Giesler at an academic event. Under strong emotional pressure, yet self-confident, Hans and Sophie, on the morning of February 18, ventured upon their last and fatal action of of distributing mimeographed leaflets on the floors of Munich University. Following an unreflected impulse, Sophie emptied the suitcase with the rest of their leaflets from the gallery into the entrance hall of Munich University. The text itself, written by Professor Kurt Huber and edited by Hans Scholl, called for action against Europe´s subjection to Nazi terror. It was imbued with patriotic fervor appealing to the „spirit of 1813“.

On February 22, 1943, Sophie Scholl fearlessly addressed the notorious Roland Freisler president of the „Volksgerichtshof“ at Munich: „I am of the opinion still of having done the best I could do for my people, in particular now. Hence I do not regret my way of actions, and I am prepared to face the consequences arising from my actions.“ Patriotic words like these are likely to sound strange and politically inappropriate to young Germans today, removed from Nazism and World War II by several generations.

Ricarda Huch´s concept of a Memorial Book

There is an abundance of literature on the „Weiße „Rose“. And yet, its legacy is exposed to a fading historical memory in general and to a narrowed emphasis on politische Bildung („political education“). Against this background, a small book written by the historian Klaus-Rüdiger Mai, author of a biography of the Catholic Jewish martyr and saint Edith Stein, stands out for widening our perception of the „Weiße Rose“:

Klaus-Rüdiger Mai: Ich würde Hitler erschießen. Sophie Scholls Weg in den Widerstand, Paderborn (Bonifatius Verlag) 2023, 192 pages.

In the summer of 1946, the violincellist Susanne Hirzel happened to read an appeal by Ricarda Huch (1864-1947). The author and poet Huch, thanks to her son-in-law Franz Böhm, an economist, herself connected with a group of resisters on Freiburg, asked for collecting material for a Memorial Book in remembrance of those „heroic persons“ who had risked the attempt to overthrow the „astutely  established regime of horror“. (After Huch´s decease in 1947, the collection of papers was edited and published titled by the dramatist Günther Weisenborn, himself affiliated with the resistance group of the „Rote Kapelle“. The book titled „Der lautlose Aufstand. Bericht über die Widerstandsbewegung des deutschen Volkes 1933 – 1945“ first appeared in 1953.)

Susanne Hirzel, daughter of a Lutheran minister in the city of Ulm, and Sophie Scholl had been friends, as 14-year-old girls of the same age, since 1935. In the second trial against the „Weiße Rose“ she got away with a sentence of six months.

Bringing to mind Sophie´s courage in the face of death, Susanne Hirzel in a long letter responded to Huch´s request. She recalled that, in January 1943, Sophie Scholl had told her of her Munich friends´ pamphlets denouncing the Nazi regime. Somebody had to take courage in commencing action. „If I had a chance of shooting Hitler, I would do it, even though being a girl.“

Dictatorship and Romantic Sensitivity

Like in other Scholl biographies, the basic theme of May´s book is the siblings´ mental and moral development from early enthusiasm for Hitler towards uncompromising resistance, triggered by specific encounters with despotic arbitrariness. The Scholls´ road to resistance cannot be separated from its historical setting.

Germany´s political atmosphere in the final phase of the Weimar Republic is illustrated by two quotations. In the year 1931, the author Curzio Malaparte, himself rooted in Italian fascism, observed that Hitler was about „to skip the ´risky´ role of Catilina [convicted by Cicero of plotting against the Roman Republic, in 63 B.C.] and to adopt the less risky role of a plebiscitary dictator“. Other observations came from the French socialist Pierre Vinot in his book „Uncertain Germany“. He wrote about the collapse of the civic order and an abnormal propensity to self-analysis“. In addition, he diagnosed the inveterate penchant for a welfare state („Fürsorgestaat“) as an idea „certainly not belonging to civic culture. We are entering here into the wide field of socialism.“

The French writer was referring to the idea of the community of the people („Volksgemeinschaft“), removed from party politics and transcending class barriers. This romanticist concept was popular in the various „leagues“ („Bünde“) of the German youth movement, where the love of nature was merged with nationalism and social idealism. One of the heroes revered by the „Bünde“ was the poet Stefan George who, in 1927, proclaimed his dream of „Das Neue Reich“. With ideas and emotions of this sort, the „Bünde“ were not very far from the promises of national socialism. As a young army officer, Count Stauffenberg, famed for his attempt to assassinate Hitler on July 20, 1944, was swayed, too, by the enthusiasm generated by a column of SA stormtroopers celebrating Hitler´s ascendance to power (by appointment as Reichskanzler, January 30, 1933). In 1933, the law professor Ernst Forsthoff – becoming a half-hearted opponent of Nazism some years later -, in his book „Der totale Staat“ („The Total State“) proclaimed that the „bourgeois age was to be liquidated“. In the prospect of a „better future, “ it was necessary to exhaust the last reserves of the people.“

Inspired by their surroundings – school, church, and peers - the Scholl siblings were caught up in the nationalist euphoria. Inge Scholl, the eldest of the five sisters, brandished a picture of Hitler in her room. She was keen to see her brother Hans and his „club“, i.e. the Ulm YMCA, joining the Hitler Youth. Also, she was the first of the siblings to be appointed leader in the girls´ branch of the Hitler Youth („Bund deutscher Mädel“, BdM, League of German Girls).

Hitler Youth and „bündisch“ activities

The siblings´ enthusiasm for the Hitler Youth was in part due to the pubertarian desire of detaching themselves from their parental home. Hans Scholl entered into a permanent conflict with his father Robert Scholl, an agnostic pacifist anti-Nazi. Later, in 1942, at the time when Hans and Sophie were about to enter their fateful career as resisters, Robert Scholl was betrayed by his secretary for calling Hitler "a scourge of God.“ He was sentenced to four months in jail and barred from working as a tax consultant. Again, in Mai 1943, he was sentenced to eighteen months in jail for listening to foreign, i.e. „enemy“ radio stations.

Despite quarrels during adolescence, family ties remained intact, with mother Magdalena Scholl, of pietist faith and trained as a „Diakonisse“ ( the Protestant equivalent of a nun), sedating emotions. At every stage on their children´s road to resistance, the family provided emotional support. Also, we find no trace of antisemitic sentiments in that family. Young Sophie Scholl is quoted saying: „Anyone who does not know Heinrich Heine, doesn´t know German literature.“

Hans´ character, exhibiting strong self-will and a hungry intellect, can best be described as a „firebrand“. Sophie, too, her artistic talent and poetic sensitivity notwithstanding, drew attention among Ulm citizens as a „boyish“ BdM enthusiast. Yet, in one aspect, by cultivating specific youth movement traditions, the youngsters deviated from the rules and rites of the Hitler Youth. Inspiration came from Eberhard Koebel (tusk), the nonconformist leader of a group named d.j.1.11 (German Youth of November 11, 1929), who, after clashes with Nazi rivals - involving arrest and torture in Berlin in the spring of 1933 – emigrated to England via Sweden in 1934.

In the above-mentioned letter, Susanne Hirzel described the ideals and the emotions prevailing in those  bündisch“ groups: „In the final analysis, it was all about ´freedom´. We were resolved to dedicate our lives to this goal, although no one could have given a closer definition of what this ´freedom´ really meant.“ Klaus-Rüdiger Mai provides an interpretation of his own by seeing the Scholls´ and their friends´ emotions in the romantic tradition of the eighteenth-century „Sturm und Drang“ period, backing up his view with a quotation from Jack Kerouac´s „On the Road“. Kerouac writes about those „ crazy ones, crazy for life“. „What were such people called in Goethe´s Germany?“ On his last way, being marched to the guillotine, 24-year-old Hans Scholl exclaimed: „Es lebe die Freiheit!“ (Long live freedom!)

From 1936 onward, nonconformist traditions in and outside the Hitler Youth were no longer tolerated but criminalized as „bündisch activities“ („Umtriebe“/activities in the sense of „disturbances“). Questioned by the Gestapo in February 1943, Sophie explained her early break with Nazism „above all“ with her and her siblings´ arrest in the late autumn of 1937 for charges of „bündische Umtriebe“. Charges against Hans Scholl and Inge´s friend Ernst Reden involved violations of the penal code § 175 banning homosexual practices. Referring to emotional uncertainties in the phase of puberty, the historian Mai refutes the theologian Robert Zoske, who, in his biographies, has attempted to elaborate on bisexual behavior of Hans and to detect latent lesbian tendencies in Sophie Scholl. (https://www.theeuropean.de/herbert-ammon/eine-neue-deutung-des-lebensweges-von-hans-scholl/ ; https://www.theeuropean.de/herbert-ammon/neue-biografie-ueber-sophie-scholl/)

Like Zoske in his biography of Hans Scholl, May, in his biographical essay on Sophie, fails to mention the Scholl family´s close relationship with Richard Scheringer, noteworthy for his biography. As a lieutenant, Scheringer, together with two other young officers, was convicted, in March 1930, for spreading Nazi propaganda in the Reichswehr (army). While serving his sentence, he converted to communism without abandoning his nationalist sentiments. Aside from minor brushes with the regime, he emerged unscathed from the Nazi era on his farm near Ingolstadt. The Scholl children occasionally spent their holidays there. Elisabeth, one of the five siblings, was employed as a maid in the Scheringer family at the time of the Munich drama.

Christian Faith

Standing out as a firmly established motive of the young Scholls´ road to martyrdom was their Christian faith, differing, to be sure, in certain features as regards Hans and his younger sister Sophie. When Hans, before, in late 1937, being captured himself, learned about his siblings´ arrest, he sent a letter thanking his mother for sending him a „wonderful“ word from the Bible. „It helped me to regain my old composure.“ Around 1939/1940, Hans Scholl (and somewhat later Sophie) was introduced by their brother Werner´s Catholic friend Otto Aicher (who had been barred from graduating at his school for refusing to join the Hitler Youth) to the Munich circle of Catholic intellectuals centered around Carl Muth and the convert Theodor Haecker. Thus, thanks to Aicher, himself intending to make converts of the Scholls, the siblings came to know the ideas of the French Rénouveau catholique inspired by authors like George Bernanos, Paul Claudel, and Jacques Maritain.

The author Mai is far from diminishing the intellectual and religious relevance of the Munich circle of the anti-Nazi opponents around Carl Muth. Nonetheless, he sees the Scholl siblings´ road to resistance in the tradition of Protestantism. Before being murdered on the scaffold on February 23, 1943, they received the Last Supper from a Lutheran pastor. In contrast to Luther, who, at his trial before the Imperial Diet at Worms in 1521, could expect salvation from the Elector of Saxony, there was no mighty secular power to hold a protecting hand over young Hans and Sophie Scholl.


Note:

The above article is an enlarged version of my review of Mai´s book on my Globkult blog https://herbert-ammon.blogspot.com/2023/02/21-februar-2023-zum-gedenken-sophie.html. This text again is based on my review in the Catholic newpaper „Die Tagespost“ of February 22, 2023,

https://www.die-tagespost.de/kultur/literatur/klaus-ruediger-mai-das-buergerliche-zeitalter-wird-liquidiert-art-235803

For additional reading see my articles and reviews:

https://www.globkult.de/geschichte/zeitgeschichte/471-die-geschichtliche-tragik-der-rweissen-rosel-und-die-politische-moral-der-nachgeborenen

https://www.theeuropean.de/herbert-ammon/eine-neue-deutung-des-lebensweges-von-hans-scholl/

https://www.theeuropean.de/herbert-ammon/neue-biografie-ueber-sophie-scholl/

https://www.globkult.de/geschichte/rezensionen/1932-eckard-holler-auf-der-suche-nach-der-blauen-blume-die-gro%C3%9Fen-umwege-des-legendaeren-jugendfuehrers-eberhard-koebel

https://www.globkult.de/geschichte/rezensionen/2151-fritz-schmidt-juergen-reulecke-hans-scholl



Montag, 10. Juli 2023

Aktuelles, Berlinisches

I.

Die  tristen Weltläufte verlangen einen kurzen Kommentar. In Stichworten:

 1) Der sonst so protestantisch friedfertige Bundespräsident Steinmeier hält inzwischen -  im Sinne der "Zeitenwende" -, zur Abwehr des Aggressors Putin, zur siegreichen Beförderung von Frieden und Freiheit, den Einsatz von Streumunition als kriegstaugliches Instrument für gerechtfertigt.  

2) Die großgründeutsche Moralverwaltung nimmt Anstoß an dem neuesten "Asylkompromiss" der EU. Wir können folglich davon ausgehen, dass auch diese längst überfällige Vereinbarung zur Kontrolle des von kriminellen Schlepperbanden betriebenen Zustroms von "Geflüchteten" in diesem unserem Lande ignoriert und/oder unterlaufen wird. 

3) Entsetzen herrscht über die den Höhenflug der AfD in den Umfragen. Da es trotz einiger  grünkritischer Ansagen von Friedrich Merz - und innerkoalitionären Querschüssen von Wolfgang Kubicki -  keine wirkliche Opposition gegen die - in nahezu allen Bereichen realitätsferne - Politik der Ampel gibt, kann die AfD bis auf weiteres auf Verstärkung der "populistischen" Stimmungslage rechnen. 

Politische Folgen ergeben sich daraus kaum, solange die "Brandmauer" gegen die Höcke-Partei hält. Offenkundig zielt auch Merz - wie schon vor ihm seine Antipodin Merkel -auf eine Koalition mit den Grünen, wie das - zielbewusst platzierte  Doppelinterview mit der Grünen-Kovorsitzenden Ricarda Lang in der der FAZ (v. 10.07.2023, S. 2) erkennen lässt.

I. 

Das  eigentliche, ins Lokale zielende Thema meines Blog-Eintrags ist ein von Wolfgang Drechsler, dem stets lesenswerten Afrika-Korrespondenten des "Handelsblatt" und neuerdings auch wieder des "Tagesspiegel", angestoßenes Sujet: die Ästhetik der Hauptstadt Berlin.Drechsler schrieb auf Facebook  über seine Empfindungenn nach einem abendlichen Bummel vom AA - es heißt trotz grüner Purgationsmanie noch immer so - am Werderschen Makt über den Gendarmenmarkt und die "Linden" zum Brandenburger Tor:

 "Eigentlich bin ich kein Berlin-Fan und bin es nie gewesen. Und habe die Stadt länger gemieden. Aus so vielen Gründen... Aber dieser Abend, diese Fülle an Kultur auf engstem Raum, die verschiedenen Gesichter der Menschen, die schwermütige Musik am Tor, das so lange geschlossen war und diese Stadt trennte und jetzt dieser milchig-heiße Sonnenuntergang sind schon speziell...Und haben mich mit dieser schwierigen Stadt nun doch ein wenig versöhnt..."

Diese Sätze inspirierten mich zu folgender Replik: 

"Ja, Berlin hat schöne, beeindruckende Örtlichkeiten - von der Museumsinsel über die weitläufigen Parks bis zu den Seen - , dazu weniger schöne und unübersehbar hinreichend abstoßende. Mehr als ärgerlich sind die als "Grafitti" deklarierten, rücksichtslosen Schmierereien an ästhetisch ansprechenden Baulichkeiten, wie z.B. die mit gelbem Ton verklinkerten S-Bahn-Unterführungen. Kein Trost: In - fast - allen deutschen und westeuropäischen Städten sieht es nicht besser aus. - Am unangenehmsten in und an Berlin ist die unkritische Selbstgefälligkeit der Intelligenzija."

Darauf Wolfgang Drechsler: 

"Das trifft vieles sehr gut... Grade auch diese merkwürdige, ja erschreckende Selbstgefälligkeit, die ja auch die mir nie wirklich sympathisch gewordene Berliner Schnauze erklärt. Ein enger Freund schrieb mir eben dies zu Berlin, kurz nach seiner Rückkehr von einer dreiwöchtigen USA-Reise: ´Selbst uns Berliner verbindet mit dieser Stadt eine zwiespältige Liebe. Wirklich schön wie Venedig, historisch wie Nürnberg, romantisch wie Siena oder prachtvoll wie Sankt Petersburg ist sie nicht. Dem Berliner geht die Eleganz des Mailänders völlig ab; der Umgangston kann zwischen ruppig und komisch pendeln. Charmant mögen Franzosen wirken, Berliner eher wie Oger aus den Sümpfen. Die Dysfunktonalität der öffentlichen Verwaltung hält der Berliner für ein völlig normales und hohes Gut; ebenso lebensgefährliche Radwege, die sich eigentlich nur für 4x4s eignen. Trotzdem mögen wir diese sonderbare Stadt irgendwie. Das hochkonzentrierte und vielfältige Kulturangebot auf engstem Raum wissen wir zu schätzen. Immer wieder kommen wir gerne nach Berlin zurück. Kaum da, zieht es uns wieder fort…´"
Postscript:
Mein Blog-Eintrag vom 10.07. 2023 ist zwar  schon wieder fast zwei Wochen alt, aber bis auf weiteres - bis zu einer kaum zu erwartenden "Wende" in der Hauptstadt - zeitlos aktuell. Hinzuzufügen wäre in Teil: 1) die neuen markigen Sprüche gegen hormongesteuerte Freibad-Okkupanten 2) das Sommertheater um das Ehegatten-Splitting; in Teil II 1) das Bekenntnis des neuen Regierenden Kai Wegner zum Spektakel unter der biblischen Regenbogenfahne 2) die zahllosen Baustellen, die nicht nur Taxifahrer zur Verzweiflung treiben 3) die rücksichtslose Arroganz der naturgemäß "grünen" Radfahrerinnen und R-.

 

 

Mittwoch, 5. Juli 2023

Post mortem Hans Sinn

Das Lebensende vor Augen, schrieb der Deutsch-Kanadier Hans Sinn vor etwa einem halben Jahr auf Facebook, der Tod sei eingebettet in die alles umfangende Ewigkeit. Noch am 20. Juni 2023 würdigte er die „ehemaligen DDR-Bürger“, die das SED-Regime zu Fall brachten („ihre Ost-Deutsche Regierung beispielhaft gewaltlos heruntergebracht“). Allerdings, fügte er – unzutreffend bezüglich der Fakten – hinzu, „die ostdeutschen Bürger“ hätten im Zwei-plus-Vier-Vertrag ihre historische Chance verfehlt, indem sie „ein Abkommen unterschrieben, in welchem Ostdeutschland der Wiederaufruestung Gesamtdeutschlands zugibt“. Die „heutigen Deutschen“ hätten – erneut - „um Nachkriegs-Deutschland zu vereinigen die Gelegenheit verpasst einen neuen Anfang zu machen.“

In derlei brüchig gewordener Sprache brachte Hans ein letztes Mal seine Vision eines neutralen, entmilitarisierten Deutschland als eines geläuterten Friedensbringers zum Ausdruck. In seinem unzweideutigen Pazifismus verschmolzen Kriegserfahrungen – als begeisterungsfreier Hitlerjunge das im Feuersturm „Gomorrah“ (Juli 1943) zerstörte Hamburg vor Augen, anfangs 1945 zum „Volkssturm“ rekrutiert, auf die Nachricht von Hitlers Tod Anfang Mai aus einem SS-Ausbildungslager in Dänemark desertiert (siehe meine Buchbesprechung https://www.globkult.de/geschichte/rezensionen/1114-amanda-west-lewis-the-pact,-markham,-ontario-%E2%80%93-brighton,-mass-red-deer-press-2016,-352-seiten) - die philosophisch-theologischen Reflexionen eines Teilhard de Chardin im Atomzeitalter, patriotische Friedenshoffnungen mit Mahatma Gandhis Lehren der Gewaltlosigkeit.

Einem wohlwollenden Offizier („Give him a chance“) verdankte Hans, angezogen vom Inserat einer Holzfällergesellschaft, den Stempel für die Einreise nach Kanada. Von dort kehrte er für einige Jahre nach Deutschland zurück, um sich – im Nachhall der Stalin-Note von 1952 und der – selbst nach dem Nato-Beitritt der Bundesrepublik 1955 – noch anhaltenden Debatte in neutralistisch-pazifistischen Friedenszirkeln zu engagieren. Insbesondere warb er – lange ohne große Resonanz - ab 1959 für einen „Zivilen Friedensdienst“. Danach entschloss er sich zur endgültigen Auswanderung nach Kanada. 

Ohne die deutschen Dinge aus dem Blick zu verlieren, sah er seine geistige und politische Heimat fortan in friedensbewegten Gruppen zwischen Vancouver, Toronto und Ottawa. Anno 1962, ein Jahr nach dem Mauerbau versuchte er, zusammen mit ein paar Gleichgesinnten, mit einem „Friedensmarsch“ von Vancouver bis nach Berlin das Weltgewissen hinsichtlich des durch die Mauer befestigten Kalten Kriegs und der derart stillgelegten „deutschen Frage“ aufzurütteln. Das Unternehmen endete unbeachtet in Berlin nach zwei Jahren.

1981 gründete er zusammen mit dem Quaker-Aktivisten Murray Thomson die Friedensinitiative Peace Brigades International (PBI). Daraus ging eine Menschenrechtsorganisation hervor, die in Techniken der Gewaltlosigkeit unterwiesene Freiwillige in Konfliktgebiete – in Lateinamerika, Asien und Afika – entsendet. Im Jahr 2018 zählten die Gruppen von PBI über 1000 Mitglieder. Von seinem in der Nähe von Ottawa gelegenen Wohnort Perth, Ontario, aus engagierte sich Hans zudem in der sozialdemokratisch geprägten New Democratic Party.

Anfang der 1980er Jahre erregte in Deutschland und Europa die – hauptsächlich von der protestantischen Kirche sowie von den soeben gegründeten „Grünen“ getragene - Friedensbewegung Aufsehen. Der Auslöser war der im Kontext der Nuklearstrategien der Militärblöcke im Dezember 1979 – nahezu zeitgleich mit dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan – erfolgte „Nachrüstungs“-Beschluss der NATO zur Aufstellung von neuen Mittelstreckenraketen in Mitteleuropa . Entgegen den Absichten einiger DDR-affinen Initiatoren brachte der – mit nationalpatriotischen Anklängen („Keine neuen Atomraketen auf deutschem Boden!“, „Schießplatz der Supermächte!“) aufgeladene westdeutsche Protest in der DDR eine unabhängige Friedensbewegung hervor. Mit dem mit Unterschriften aus Ost und West versehenen „Havemann-Brief“, der Forderung nach Friedensverträgen und Truppenabzug der Siegermächte kam - für einen spektakulären Augenblick – unüberhörbar die „deutsche Frage“ in Spiel.

In die Hochphase der damaligen Friedensbewegung fällt der Beginn meiner Freundschaft mit Hans Sinn. In einem Brief stellte er sich und sein Friedensprojekt PBI vor. Zu diesem Zeitpunkt hatte Hans bereits Kontakte zur unabhängigen Friedensbewegung in der DDR – namentlich zu Michael Kleim und Christian Dietrich sowie Edelbert Richter an der kirchlichen Hochschule Naumburg – geknüpft. Naturgemäß reagierte die Stasi mit einem Einreiseverbot, als Hans, aus Kanada angereist und alsbald befreundet mit Petra Kelly und Gerd Bastian, den friedensbewegten Führungsfiguren der frühen Grünen, seine Mitstreiter jenseits der Grenze besuchen wollte. Nach persönlicher Kontaktaufnahme zu Bürgerrechtlern in Ost-Berlin wurde auch ich anno 1983 mit einer Mauersperre bedacht, zum Glück ohne Verbot der Nutzung der Transit-Wege.

In den folgenden Jahren widmete Hans seine Energie dem Schicksal von Kindersoldaten, Kriegskindern und Kindern als Opfern häuslicher Gewalt. Außerdem setzte er sich für die Belange der First Nations in Kanada ein. An der Ohio State University initiierte er Studien zum Thema „ethnische Säuberungen“, was das studentische Interesse auch auf die im Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 legitimierten - in Amerika nahezu unbekannten – Vertreibungen der Deutschen aus dem östlichen Mitteleuropa weckte. Seine Zielvorstellung eines gänzlich entmilitarisierten Landes in der Mitte Europas lag stets außerhalb der politischen Realität. Immerhin kamen die Impulse zur 1999 erfolgten Gründung eines Zivilen Friedensdienstes (ZFD) als Unterorganisation des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) im Rahmen des Entwicklungshelfergesetzes (EhfG) (https://www.ziviler-friedensdienst.org/en/about-us/history) nicht unwesentlich von Hans Sinn (https://pbicanada.org/2019/06/09/hans-sinns-lifelong-journey-for-a-peaceful-world/).

Hans und mich, den im Krieg geborenen, aber eine ganze Generation Jüngeren, verband über Jahre hin – ungeachtet der Differenz zwischen meiner „realpolitischen“ Betrachtung des Unfriedens in der Welt und der in nuce machtpolitischen Aspekte der „deutschen Frage“ und seines religiös fundierten Aktivismus - eine innige Freundschaft. Ich nahm Anteil an seinem Schmerz über den Verlust seiner als „Nachzüglerin“ geborenen Tochter Rachel, die mit 15 Jahren an einem unheilbaren Gehirntumor starb. Ihr Wunsch war es gewesen, noch einmal ein „echtes deutsches Weihnachten“ zu erleben. Daraufhin fuhr ich mit Hans, seinem Sohn Nicky und mit Rachel im Dezember 1993 (?) zu einem folkloristisch angelegten Adventsabend im verschneiten Erzgebirgsort Seifen.

Hans Joachim Sinn war ein Mensch voll Herzensgüte. Sein friedenspolitisches Engagement war gänzlich selbstlos motiviert, ohne den bei Aktivisten oft anzutreffenden eifernden Anspruch auf moralische Überlegenheit. Er starb friedlich im Alter von 94 Jahren im Kreise seiner Lieben im Great War Memorial Hospital in Perth am 29. Juni 2023.

Freitag, 30. Juni 2023

Der jüngste Krieg und die Propaganda im Krieg

Zum ersten Jahrestag des Ukrainekriegs schrieb ich einen Aufsatz über die tieferen, in Geschichte, Kultur und Großmachtpolitik verwurzelten Hintergründe sowie den mutmaßlich auslösenden Faktor für den -  von Putin in großspuriger Propaganda als "militärische Spezialoperation"  angekündigten - russischen Angriff auf die Ukraine (https://www.tichyseinblick.de/meinungen/ukraine-krieg-nikias-frieden/; https://globkult.de/geschichte/zeitgeschichte/2273-die-ukraine-und-die-aktualitaet-des-peloponnesischen-krieges).   Akzeptiert man die - offen gegen Putin gerichteten - Erklärungen des Chefs der Söldnertruppe "Wagner" Prigoschin für seinen gescheiterten Putsch, so habe es vor dem 24. Februar 2022 weder Angriffsabsichten seitens der Ukraine noch Anzeichen für einen bevorstehenden Nato-Beitritt Kiews gegeben. Demnach hätte ich mich bezüglich des Auslösers ("trigger") des offenen Krieges geirrt. Dessen ungeachtet gibt es hinreichend Fakten in dessen mittelbarer Vorgeschichte  (ungefähr datierbar auf den Zeitraum 2002 bis 2013/2014),  die - vor dem Hintergrund des in russischen Augen demütigenden Niedergangs des russischen Imperiums - Putins Krieg plausibel, wenngleich keineswegs gerechtfertigt,  erscheinen lassen.

Der russische Angriff auf die Ukraine läutete in den Worten von Bundeskanzler Scholz  eine "Zeitenwende" ein. Die eindrucksvolle - indes nicht alle Waffensysteme umfassende -  militärische Unterstützung der Ukraine seitens des Westens, in zunehmendem Maße gerade auch der Bundesrepublik Deutschland, geht einher - von  "Dissidenten" am rechten und linken Rand abgesehen -  eindeutiger moralischer Parteinahme. Sie wird - nach den grauenvollen Szenen vom Wüten russischer Einheiten in Butscha kurz nach dem gescheiterten Angriff auf Kiew - tagtäglich bestätigt von Bildern der Drohnen- und Raketeneinschläge in ukrainischen Städten und den dabei getöteten, hilflosen Menschen.

Derzeit, noch unter dem Eindruck des zerstörten Krachowka-Staudamms sowie des Prigoschin-Putsches, verfolgen wir die Entwicklung der als kriegsentscheidend angekündigten ukrainischen Offensive an diversen Fronten.  Krieg und Kriegsverlauf diesseits und jenseits des Dnipro/Dnjepr sind begleitet von Informationen und Kommentaren aus Medien und Politik. Wir sind gehalten, Emotionen, Sympathie und Moral nicht nur der leidenden Bevölkerung zuteil werden zu lassen,  sondern - auf der politischen Ebene  - als engagierte Bürger auch dem angegriffenen Staat Ukraine  beizustehen, dazu die entsprechenden Entscheidungen unserer Regierung "alternativlos" gutzuheißen.  

Bei  nicht nur im Krieg gebotener Parteinahme, erst recht im aktuellen Kampfgeschehen, verschwindet die Komplexität historisch-politischer Konflikte sowie die Frage nach deren möglicher Lösung hinter dem Vorhang der von Politikern, Journalisten und als Experten angebotenen Analysen. Die Pilatus-Frage "Was ist Wahrheit?" weicht dem Dogma. Nichtsdestoweniger kommen die in jedem Krieg der von um Objektivität bemühten Interpreten des Geschehens übersehenen, von den Protagonisten des Guten verpönten Begriffe "Propaganda", schlimmer noch "Manipulation", zur Geltung.

Vor dem Hintergrund des Kriegsgeschehens in der Ukraine ist das Interview des Historikers Christian Hardinghaus in der "Berliner Zeitung"  geeignet, die propagandistische Unschärfen in den Medien zu erhellen. Er verweist auf die propagandistische Einfärbung der Berichterstattung seitens der Ukraine.  (https://www.berliner-zeitung.de/open-source/christian-hardinghaus-ukrainische-propaganda-gelangt-ungefiltert-in-unsere-medien-li.364064?fbclid=IwAR3yke0sXW-QsDk_jTz0i_9ECZuM_w2fRL2_Y8cnCoZfwaqw6kmBhZZLnMo):

"Sie plädieren für einen besseren Journalismus, angesichts der grassierenden Medien-Manipulation. Wie könnte dieser aussehen? Hat die Digitalisierung in der Berichterstattung zu einer Provinzialisierung geführt, welche anfällig ist für Manipulation?

Ich beobachte unabhängig vom Ukraine-Krieg und schon lange davor, dass unsere Medien zu unkritisch geworden sind und zu regierungsnah berichten. Sie sprechen im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr die Stimme des Volkes, hinterfragen zu zaghaft politische Entscheidungen, nicht mal, wenn sie nachweislich gegen den Mehrheitswillen im Volk getroffen werden. Das Problem liegt nicht bei den einfachen Journalisten. Ich bin ja selbst einer davon. Viele, vor allem diejenigen, die in einer Festanstellung arbeiten, würden gerne anders, freier, mutiger berichten, können sich aber nach oben hin nicht durchsetzen. Im Grunde geht es Journalisten nicht anders als allen anderen. Die Menschen trauen sich zunehmend seltener, ihre Meinung offen zu sagen, wenn diese zu weit von der Mitte des Overton-Fensters verortet werden könnte. Für den Journalismus ist das natürlich besonders fatal, denn so kann er seinen Grundstatuten selbst nicht mehr nachkommen. Wir alle müssen also lernen, mutiger zu sein, damit sich im Gesamten, was ändert."