Montag, 25. September 2023

Die Macht des Faktischen: Berg Karabach und andere Fakten

Die jüngsten Ereignisse in und um die armenische Region Berg Karabach finden nur mäßiges mediales Interesse. Die Zahl der Opfer des aserbeidschanischen Angriffs – die Angaben liegen zwischen 25 und 200 – waren nicht spektakulär. Die Bilder einer dicht gedrängten Menge Menschen, die, zur Flucht entschlossen, auf dem Flughafen von Stepanakert zusammenströmten, konnten nicht mit denen von auf überfüllten Booten in Lampedusa gelandeten Migranten (und/oder „Geflüchteten“) konkurrieren. Die Nachricht, dass das – keineswegs selbst stets nur friedfertige - durch Krieg und Emigration geschwächte Armenien 40 000 der auf 140 000 bezifferten Bewohner aus der – nach dem im letzten Krieg im September 2020 um ein Drittel reduzierten - Enklave aufnehmen will, blieb eine Randnotiz. Inzwischen rechnen Beobachter mit dem Exodus - sprich: Vertreibung – der gesamten Bevölkerung.

Der aserbeidschanische Machthaber Ilham Alijew kann zufrieden sein. Voll Genugtuung verkündete er – unter Berufung auf das Völkerrecht - die „Wiedereingliederung“ der Bergregion. Sein schneller Schlag machte das anno 2020 von Putin vermittelte – und durch Stationierung russischer Truppen vermeintlich garantierte - Abkommen obsolet. Denn obgleich bei dem Angriff auch russische Soldaten getötet wurden, stieß die Gewaltaktion in Moskau, unlängst noch Armeniens Schutzmacht, nicht einmal verbal auf Widerspruch. Damit reagiert Putin auf die sich unter Ministerpräsident Paschinjan abzeichnende Annäherung Eriwans an den Westen. Zudem pflegt er seit Beginn des Ukrainekrieges ein besonderes Verhältnis zu dem türkischen Präsidenten Erdogan, was die Anerkenung und Stabilisierung der Achse Ankara-Baku impliziert. 

Ähnlich begrenzt scheint – nach einem Waffenstillstand, bei dem die Armenier von Karabach ihrer Entwaffnung und dem faktischen Ende ihrer territorialen Eigenständigkeit zustimmten, das Interesse der westlichen Politik an der Zukunft der armenischen Bergregion. Die zu einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates angereiste grüne Außenministerin Annalena Baerbock erklärte in New York, Aserbeidschan und Russland müssten „dafür sorgen, dass die Menschen in ihrem eigenen Zuhause sicher sind." Der EU-Ratspräsident Charles Michel teilte mit, er habe Alijev telefonisch aufgefordert, "für einen vollständigen Waffenstillstand" und eine "sichere und würdige Behandlung der Armenier in Karabach" zu sorgen. Von einer Forderung nach Autonomie für die christliche Region innerhalb der Republik Aserbeidschan ist nirgendwo die Rede, erst recht nicht von "Selbstbestimmungsrecht".

Unausgesprochen bleibt, dass auch im Westen, in Washington und in der EU, nicht selten Bekenntnisse zu „Werten“ und Völkerrecht von materiellen Interessen überlagert sind. Im Falle von Berg Karabach handelt es sich um ein Territorium, das seine völkerrechtliche Definition den Grenzziehungen in Sowjetrussland nach den Vorgaben des damaligen Nationalitätenkommissars Stalin verdankt. Auf realpolitischer Ebene geht es - vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs - um die Interessen Europas an Öl und Gas aus Baku. Des weiteren geht es – nach dem faktischen Scheitern einer gesamteuropäischen Friedensordnung in den 1990er Jahren - um schiere Machtpolitik: um die Interessen und Projektionen Putins, des Westens, des NATO-Eckpfeilers Türkei, schließlich des Mullah-Regimes im Iran.

Im Schatten des Ukrainekriegs nutzte Alijew seine Chancen und schuf im Kaukasus neue Fakten. Des weiteren zielt er auf eine direkte Landverbindung zur an die Türkei angrenzende Exklave Nachitschewan.  Zur Hand kommt der Begriff Max Webers von der Normativität des Faktischen, der mit den Maximen von Recht, Moral und Völkerrecht kollidiert. Wir erleben derzeit erneut die Macht des Faktischen auch in manch anderen Regionen der Welt. Ein Testfall wird der Ausgang des Ukrainekriegs sein. 

 

Mein Kommentar auch auf der "Achse des Guten": https://www.achgut.com/.../berg_karabach_wird_fuer_oel...
 
Siehe auch meinen Globkult-Aufsatz "Vernehmliches Schweigen" zum  Revanchekrieg Alijews 2020:

 

Donnerstag, 31. August 2023

Realgeschichte und Geschichtspolitik

Für die Leser/innen meines Blogs, die nicht bereits meinen Artikel zu dem - vor dem Hintergrund des  Ukrainekriegs - von verschiedenen Autoren gefällten Negativurteil über den anno 2015 verstorbenen "Ostpolitiker" Egon Bahr zur Kenntnis genommen haben, stelle ich nachfolgend noch einmal den Globkult-Aufsatz "Geschichtspolitik im Zeichen des Krieges – Egon Bahr als bête noire" ins Netz.

I.

Wir – die Bundesrepublik Deutschland in und mit der Nato - befinden uns zwar noch nicht im Krieg, wie unsere Außenministerin Baerbock in einem ihrer faux-pas meinte. Nichtsdestoweniger findet hierzulande - nicht erst seit Beginn von Putins „militärischer Spezialoperation“, sondern seit dem Kiewer Maidan 2013/14 und der darauffolgenden Annexion der Krim – ein Meinungskrieg statt. Parteinahme ist geboten. Es gilt, die Guten von den Bösen zu unterscheiden, was im Falle des auch ob seiner KGB-Praxis notorischen Putin einfach scheint. In einem solchen Krieg eine um Analyse und mögliche Konfliktlösung bemühte Position einzunehmen, bedeutete moralische Feigheit, schlimmer noch: es handelte sich um Putinismus, um Verständnis für das Böse. Ist die Sache derart geklärt, setzt die Suche nach den Wegbereitern und Parteigängern des historisch Bösen ein.

Man kann – mit den Augen eines Talleyrand - die Dinge auch anders sehen: Putins Entscheidung zum offenen Krieg war schlimmer als ein Verbrechen - sie war eine Dummheit. Das Bonmot schützt vor Naivität. Gewiss, in derlei Betrachtung des Geschehens ist der Übergang von Realismus zu Zynismus fließend. Und umgekehrt: Die Grenzen zwischen Moral und Machtinteressen sind in der politischen Wirklichkeit oft schwer erkennbar. Während eines Krieges – im Sinne parteiischer Geschichtsschreibung naturgemäß auch danach - versagt die Fähigkeit zur kritischen Analyse und zur Differenzierung bezüglich seiner Vorgeschichte.

Genug der Vorrede: Vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges wird von einigen Kommentatoren die politische Weisheit, nicht zuletzt die Lauterkeit der zu Zeiten der deutschen Teilung unter Bahr-Brandt initiierten „Ostpolitik“ in Frage gestellt. Insbesondere der langjährige Brandt-Vertraute und als „Architekt der Ostpolitik“ bekannte Egon Bahr steht posthum unter Verdacht, als „linker Nationalist“ kontinuierlich im Zusammenspiel mit Moskau die Sache der Freiheit und der Menschenrechte zugunsten eines – zweistaatlich definierten – deutschen Nationalinteresses preisgegeben zu haben.

II.

Die Debatte eröffnete Heinrich August Winkler mit einem Aufsatz zum Gedenken an Egon Bahrs Tutzinger Rede 1963 über „Wandel durch Annäherung“ (H.A.W.: „Der Tabubruch von Tutzing“, in: FAZ v. 10. Juli 2023). Winkler würdigte die im Zeichen des Kalten Krieges unternommenen Schritte der sozialliberalen Koalition zur Überwindung des in Hitlers Krieg begründeten, durch unklare – als „revisionistisch“ und friedensgefährdend wahrgenommene - westdeutsche Rechtspositionen befestigten Spannungszustands in der Mitte Europas. Dazu gehörte insbesondere die in den Verträgen von Moskau und Warschau (1970) festgeschriebene Anerkennung der polnischen Westgrenze an Oder und Neiße als Voraussetzung für eine anzustrebende europäische Friedensordnung.

Bereits der Hintergrund der „neuen Ostpolitik“, konzeptionell hervorgegangen aus dem - zwischen Konfrontation und „Entspannung“ oszillierenden - Ost-West-Konflikt, letztendlich aus der durch den Mauerbau 1961 entstandenen Zwangslage, kommt in Winklers Ausführungen gegenüber den politisch-ethischen Aspekten der Ostpolitik nicht hinreichend zur Geltung. Die realpolitischen Brandt-Bahrschen Nahziele – vertraglich gesicherte Erleichterungen für West-Berlins sowie die Bewahrung des nationalen Zusammenhalt durch den Grundlagenvertrag mit der DDR – waren verknüpft mit dem nationalen Fernziel der Überwindung der deutschen Teilung.

Egon Bahr berief sich auf Kennedy: Es komme darauf an, den Status quo anzuerkennen, um den Status quo zu überwinden. Die Voraussetzungen für den Erfolg eines solchen Konzepts waren fünffach: 1) die Unumkehrbarkeit des Entspannungsprozesses zwischen den „Supermächten“ 2) der Abbau der Militärblöcke und die Schaffung eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems 3) die Rückgewinnung der vollständigen deutschen Souveränität, wenngleich in Gestalt der zwei existierenden Staaten 4) das vertraglich fixierte, wachsende Einvernehmen der deutschen Staatsführungen, zwischen deutschen Patrioten auf beiden Seiten 5) das Interesse Moskaus an einem stabilen Friedenszustand jenseits der bestehenden Antagonismen (5a) der Schlüssel für die deutsche Einheit liegt in Moskau).

 

Man kann – ex post - an den genannten Prämissen zweifeln. Nichtsdestoweniger hätte es ohne dieses Konzept und dessen Umsetzung in den ostpolitischen Verträgen in den 1970er Jahren keinerlei politische Bewegung nach „vorn“, sprich hin zu einem Status quo plus im geteilten Deutschland gegeben. (Mir persönlich ging die erhoffte Status-quo-Überwindung zu langsam. Andererseits konnte – dank „Ostpolitik“ - anno 1983 der bayerische Ministerpräsident Franz-Josef Strauss zwei Milliardenkredite an die wirtschaftlich marode DDR übermitteln, was die Erosion des SED-Regimes - und den Mauerfall - letztlich beförderte.)

Kein Zweifel besteht, dass die fünfte Voraussetzung erst 1985 mit dem Machtantritt Gorbatschows eintrat und dieser sein – alsbald zum Scheitern verurteiltes – Reformprogram mit der Rede vom „gemeinsamen Haus Europa“ verknüpfte. Maßgeblich für die weitere Entwicklung im östlichen Mitteleuropa war Gorbatschows Verzicht auf die Breschnew-Doktrin, d.h. auf den sowjetischen Interventionsanspruch im eigenen Machtbereich.

Erst nach und nach näherte sich Gorbatschow, mit Beratern wie Georgi Arbatow, Alexander Jakowlew und Valentin Falin, auch der deutschen Frage. Man dachte an einen evolutiven Prozess, mitgetragen von einer reformbereiten DDR-Regierung. Nicht eingeplant war die sich seit September 1989 abzeichnende „friedliche Revolution“ in der DDR, geschweige der Mauerfall. Die umfassende Krise im Innern der Sowjetunion sowie die durch den Mauerfall entstandene neue weltpolitische Konstellation bewogen Gorbatschow - nach längerem Zögern bezüglich der Nato-Mitgliedschaft des künftigen Deutschlands - zur Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung im Kontext der Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen.

Innerhalb des alten Machtapparats stießen Gorbatschows Reformstrategien („Glasnost“ und „Perestroika“) von Anbeginn auf Widerstände. Sie eklatierten in dem im August 1991 gescheiterten Putsch von Militärs und Geheimdienstlern, die weder die von Gorbatschows Rivalen Boris Jelzin betriebene Auflösung der Sowjetunion noch den Verzicht auf das – mit 400 000 sowjetischen Truppen in der DDR gesicherte - Machtglacis hinnehmen wollte. Ein erfolgreicher Putsch zu einem früheren Zeitpunkt – etwa noch in der Phase zwischen Mauerfall und dem 3. Oktober 1990 – hätte nicht nur die deutsche Einheit verhindert, sondern – unter blutigen Szenen - die alten Machtverhältnisse in ganz Mitteleuropa wiederhergestellt.

Seit dem Mauerfall, erst recht seit der in wenigen Monaten anno 1990 vollzogenen staatlichen Neu- (oder „Wieder-“)vereinigung findet ein parteipolitischer Streit über die Bedeutung der Ostpolitik für die Wiedergewinnung der deutschen Einheit statt. Wenngleich heute weniger emphatisch, messen meist sozialdemokratische Verteidiger der „neuen Ostpolitik“ das Verdienst zu, durch die über Jahr hin gepflegten friedenspolitischen Beziehungen zur Sowjetunion den Wandel unter Gorbatschow ermöglicht und befördert zu haben.

Ihre Gegner – meist zu finden bei den Grünen und bei der CDU/CSU – werfen den einstigen Protagonisten der „Ostpolitik“ die machtpolitische Fragwürdigkeit des auf „Entspannung“ basierenden Gesamtkonzepts, gravierende Fehler in der Raketen- und Sicherheitsdebatte anfangs der 1980er Jahre und insbesondere Versagen in der Fragen der Menschenrechte vor. In der aktuellen, durch die „Zeitenwende“ ausgelösten Debatte um die einstige „Ostpolitik“ fungiert Egon Bahr als bête noire, während Willy Brandt von Attacken verschont bleibt.

III.

In einem Leserbrief bezieht sich Gerhard Baum, von 1972 bis 1978 Parlamentarischer Staatssekretär im Innenministerium, von Juni 1978 bis September 1982 Innenminister, auf Winklers Kritik an den „Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen von Egon Bahr in den verschiedenen Phasen der Ostpolitik“. ( https://www.faz.net/aktuell/politik/briefe-an-die-herausgeber/briefe-an-die-herausgeber-vom-17-juli-2023-19037905.html).

Baum reklamiert für sich und die damaligen „Deutschen Jungdemokraten“, sie hätten innerhalb der FDP den Weg in die sozialliberale Koalition Brandt-Scheel im September 1969 geebnet. Mit ihren progressiven Vorstößen gegen die alten „Nationalliberalen“ in der Partei hätten er und seine Mitstreiter, begleitet von „Zweifeln“ an Ziel und Wegbeschreibung, zu den Wegbereitern der „Ostpolitik“ gehört. Das ist - von den reklamierten eigenen "Zweifeln" abgesehen - im Hinblick auf die Öffnung der FDP für eine "neue" Ostpolitik nicht unrichtig. Was Baums Ausführungen zur deutschen Einheit, zu den Verfehlungen Egon Bahrs einerseits und zu den spezifischen Leistungen Genschers andererseits, bedürfen sie indes einiger Korrekturen.

Baum schreibt: „Wir wollten eine Reformkoalition, die unter anderem den Kalten Krieg beenden sollte.“ Offenkundig standen diesem Ziel eben jene in den Nachkriegsjahrzehnten von Mal zu Mal verfestigten Machtrealitäten im Wege, die Egon Bahr schrittweise überwinden wollte. Entsprechend attestiert Baum dem Realpolitiker Bahr, er habe „am Anfang des Prozeses (der „Ostpolitk“) „eine kluge Strategie entwickelt.“ Danach sei Bahr sehr bald auf politische Abwege geraten.

Zu den Sünden Bahrs zählt Baum, der für sich beansprucht, stets die „berechtigten Interessen“ und Freiheitsbestrebungen der Osteuropäer im Blick gehabt zu haben, den angeblichen Verzicht auf die deautsche Einheit. Bereits in der Frühphase habe Bahr eine „zögernde bis ablehnende Haltung zu dem den Verträgen beigegebenen ´Brief zur deutschen Einheit´“ an den Tag gelegt. Hier trügt Baums Erinnerung. Es war Egon Bahr, dem es während der zähen Verhandlungen in Moskau gelang, seinem Gegenüber, dem sowjetischen Außenminister Gromyko, eben jenes Zugeständnis abzuhandeln. Als Argument diente der Verweis auf das Bundesverfassungsgericht.

Dass Bahr – von 1974-1976 als Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit – anno 1975 bei der KSZE-Konferenz in Helsinki bereit gewesen sei, der Forderung Breschnews auf endgültige Anerkennung der innerdeutschen Grenze nachzugeben, bedarf geschichtswissenschaftlicher Überprüfung in den Akten. Es trifft hingegen zu, dass Bahr im Streit um neue Mittelstreckenraketen („auf deutschem Boden“) ein Gegner des Nato-Nachrüstungsbeschlusses und Helmut Schmidts war. Der Bruch der sozialliberalen Koalition geht insofern auch auf sein Konto. Nicht ganz abwegig - im Hinblick auf den offenkundigen ökonomisch-technischen Rückstand der Sowjetunion - ist Baums These, der Nato-Doppelbeschluss sei ein „wichtiger Schritt zur Wiedervereinigung“ gewesen. Zu ergänzen wäre: der etwa zeitgleiche sowjetische Einmarsch in Afghanistan.

Baum wirft Bahr nicht nur die Missachtung der Solidarnosc-Bewegung in Polen vor, sondern auch, dass er – das für Ostpolitik stets maßgebliche – Ziel der deutschen Einheit als „eher nachrangig“ betrachtet habe. Eine solche Wahrnehmung, die sich in den 1980er Jahren während der SPD-SED-Sonderbeziehungen aufdrängte, wird widerlegt durch das 1988 von Bahr verfasste schmale Buch „Zum europäischen Frieden. Eine Antwort an Gorbatschow“. Darin plädierte Bahr – immer noch im Rahmen seines alten Konzepts – für weitere Abrüstung, für Friedensverträge mit den beiden deutschen Staaten, für die Wiedergewinnung der vollen Souveränität und dem darauf gegründeten Recht – und dem Ziel – der deutschen Einheit.

Baum schließt mit der kühnen These, Bahr habe „nach 1989 alles versucht, um den Zwei-plus-vier-Vertrag“ zu verhindern. Zudem habe er mit der „Falin-Gruppe in Moskau“ gegen Gorbatschow konspiriert. Richtig ist, dass Bahr – anders als sein Freund Willy Brandt - nach dem Mauerfall eine Zeitlang noch zögerte, den schnellen Zug zur deutschen Einheit zu besteigen. Schließlich scheint Baum vergessen zu haben, dass auch der von ihm als Gegner Bahrs und Vorkämpfer der deutschen Einheit gerühmte Genscher in der kritischen Anfangsphase von 2+4 für ein paar Wochen die Neutralität des zu vereinenden Deutschland in den Raum stellte.

IV.

Angestoßen von Gerhart Baums „Enthüllungen“ über Egon Bahr hat der „Tagesspiegel“-Redakteur Daniel Friedrich Sturm die Vorwürfe gegen den einstigen „Architekten der Ostpolitik“ in einem langen Artikel noch einmal zugespitzt. (https://www.tagesspiegel.de/politik/gerhart-baums-enthullungen-ein-harscher-vorwurf-gegen-egon-bahr-10165000.html ) Er bemerkt und moniert, dass Bahr „seine nationale Ader immer wieder“ gezeigt habe, „ebenso seine Distanz zur Nato“. Sodann übernimmt er die These Baums von der Nachgiebigkeit Bahrs gegenüber der sowjetischen Forderung nach Endgültigkeit der innerdeutschen Grenze vor der KSZE-Konferenz 1975.

Unverzeihlich findet Sturm das ostentative Desinteresse Bahrs an den Bürgerrechtlern in der DDR. Mehr noch, Bahr habe gegen „die Gründung der SPD in der DDR“- gemeint ist wohl die Gründung der SDP im September 1989 - „intrigiert“. In der Phase der friedlichen Revolution 1989/90 sei das Verhältnis zwischen dem als Bremser wirkenden Bahr und dem von Freude über die Revolutin erfüllten Brandt „zerrüttet“ gewesen. Last but not least habe Bahr auch nach der Krim-Annexion Putin als „berechenbar erklärt“ und die Krim als Teil Russlands betrachtet. (Anm.: Nicht anders äußerte sich vor seinem Tod im August 2014 der geschichtskundige Peter Scholl-Latour.)

Dass SPD-Leute, „selbst kluge Köpfe wie Frank-Walter Steinmeier und Olaf Scholz“, bis heute das späte Zerwürfnis zwischen Bahr und Brandt nicht wahrhaben wollten, beweise deren „frappierende geschichtspolitische Ignoranz.“ Der Satz des Bahr-Kritikers Sturm enthüllt ungewollt den Kern der Debatte über die historische Rolle Egon Bahrs, nach einem Bonmot Willy Brandts „unter uns der letzte Deutschnationale“.

Es geht in der skizzierten Debatte nicht um die kritische Rekonstruktion der Bahrschen „Ostpolitik“, um die Abwägung ihrer Verdienste, Grenzen und Schwächen, sondern um die Durchsetzung geschichtspolitischer Thesen zum Zwecke politisch-moralischer Eindeutigkeit in der Gegenwart. Vor dem Hintergrund des Ukrainekonflikts, in dem Moral und Macht eindeutig zu unterscheiden seien, werden die vermeintlich amoralischen, realpolitischen Kategorien Egon Bahrs als verwerflich empfunden. 

 

Siehe auch: https://www.tabularasamagazin.de/herbert-ammon-negativurteile-ueber-egon-bahrs-ostpolitik/ 

 

Mittwoch, 26. Juli 2023

Concerning German Remembrance of "Die Weiße Rose"

Rites of remembrance

In Western societies in general, and particularly in present-day Germany, we can observe a tendency towards an ahistorical view of human existence, obliterating the complexities of past and present. In contrast to this tendency, Germany, although undergoing a rapid process of transformation from – in relative terms – a culturally and ethnically homogeneous country into a heterogeneous multiethnic and multicultural society, is preserving a „national“ perspective regarding the country´s history. Whether, in the future, a „national“ narrative is apt to provide a „collective memory“ for a „modern immigrant society“ - the political goal proclaimed by the Berlin government – remains open to question.

Up to now,  in historical and political education, the focus lies on Germany´s bitter past of Nazism and the Holocaust. To a lesser degree, historical tribute is paid to the legacy of the anti-Nazi resistance. Aside from the failed plot of July 20, 1944, as an outstanding historical event, the student resistance group of the „Weiße Rose“ serves as a shining example of courage and ethical purity. Again, in events commemorating their martydom, the motives of the Scholls and their friends are rarely elaborated in full scope but elevated to an abstract ideal. Not by chance, in various films and exhibitions, the role of Sophie Scholl as a female resister is given particular emphasis.

It is to be noted, too, that there exist two separate - in fact, politically divergent - societies dedicated to preserving the ethical and political heritage of the „Weiße Rose“. In general, memorial events are staged by the „Weiße Rose Stiftung e.V.“ founded in 1987 by Inge Scholl and surviving members of the resistance group. Minor attention is attracted by the „Weiße Rose Institut“ set up, in 2003, by other family members of the group at the Abbey St. Bonifatius in Munich.

To further illustrate the intricacies of „Gedenkkultur“ (commemorative culture), the role of Alexander Schmorell, half-Russian by descent and born in Orel, Russia, in the revolutionary year 1917, tends to recede in the background. As a fellow medical student at the University of Munich, Schmorell became Hans Scholl´s closest friend. In the spring and summer of 1942, the two of them coauthored and spread the first leaflets titled „Die Weiße Rose“. In the second trial against members of the resistance group staged at the „Volksgerichtshof“ in Munich in April 1943, Schmorell, together with Kurt Huber and Willy Graf (killed some months later), was sentenced to death and executed, two months after the Scholls´ and their friend Christoph Probst´s execution. In 2012, Schmorell was canonized as „Alexander of Munich“ by the Russian Orthodox Church.

The commemoration of the „Weiße Rose“ heroism may also lead to overlooking the specific situation in February 1943, when the Munich group stepped up its actions of leaflets and graffitti („Freiheit“, „Nieder mit Hitler“). In false optimism, they hoped for a general upheaval against the Nazi regime in reaction to the catastrophic defeat of the 6th German Army at Stalingrad. In particular, their hopes were spurred by spectacular scenes of protests among Munich students triggered by a primitive speech of the Munich Gauleiter Paul Giesler at an academic event. Under strong emotional pressure, Hans and Sophie, on the morning of February 18, dared upon their last and fatal action of emptying a suitcase and a  satchel filled with leaflets from the gallery into the entrance hall of Munich University. The text itself, written by Professor Kurt Huber and edited by Hans Scholl, called for action against Europe´s subjection to Nazi terror. It was imbued with patriotic fervor appealing to the „spirit of 1813“.

On February 22, 1943, Sophie Scholl fearlessly addressed the notorious Roland Freisler president of the „Volksgerichtshof“ at Munich: „I am of the opinion still of having done the best I could do for my people, in particular now. Hence I do not regret my way of actions, and I am prepared to face the consequences arising from my actions.“ Patriotic words like these are likely to sound strange and politically inappropriate to young Germans today, removed from Nazism and World War II by several generations.

Ricarda Huch´s concept of a Memorial Book

There is an abundance of literature on the „Weiße „Rose“. And yet, its legacy is exposed to a fading historical memory in general and to a narrowed emphasis on politische Bildung („political education“). Against this background, a small book written by the historian Klaus-Rüdiger Mai, author of a biography of the Catholic Jewish martyr and saint Edith Stein, stands out for widening our perception of the „Weiße Rose“:

Klaus-Rüdiger Mai: Ich würde Hitler erschießen. Sophie Scholls Weg in den Widerstand, Paderborn (Bonifatius Verlag) 2023, 192 pages.

In the summer of 1946, the violincellist Susanne Hirzel happened to read an appeal by Ricarda Huch (1864-1947). The author and poet Huch, thanks to her son-in-law Franz Böhm, an economist, herself connected with a group of resisters on Freiburg, asked for collecting material for a Memorial Book in remembrance of those „heroic persons“ who had risked the attempt to overthrow the „astutely  established regime of horror“. (After Huch´s decease in 1947, the collection of papers was edited and published titled by the dramatist Günther Weisenborn, himself affiliated with the resistance group of the „Rote Kapelle“. The book titled „Der lautlose Aufstand. Bericht über die Widerstandsbewegung des deutschen Volkes 1933 – 1945“ first appeared in 1953.)

Susanne Hirzel, daughter of a Lutheran minister in the city of Ulm, and Sophie Scholl had been friends, as 14-year-old girls of the same age, since 1935. In the second trial against the „Weiße Rose“ she got away with a sentence of six months.

Bringing to mind Sophie´s courage in the face of death, Susanne Hirzel in a long letter responded to Huch´s request. She recalled that, in January 1943, Sophie Scholl had told her of her Munich friends´ pamphlets denouncing the Nazi regime. Somebody had to take courage in commencing action. „If I had a chance of shooting Hitler, I would do it, even though being a girl.“

Dictatorship and Romantic Sensitivity

Like in other Scholl biographies, the basic theme of May´s book is the siblings´ mental and moral development from early enthusiasm for Hitler towards uncompromising resistance, triggered by specific encounters with despotic arbitrariness. The Scholls´ road to resistance cannot be separated from its historical setting.

Germany´s political atmosphere in the final phase of the Weimar Republic is illustrated by two quotations. In the year 1931, the author Curzio Malaparte, himself rooted in Italian fascism, observed that Hitler was about „to skip the ´risky´ role of Catilina [convicted by Cicero of plotting against the Roman Republic, in 63 B.C.] and to adopt the less risky role of a plebiscitary dictator“. Other observations came from the French socialist Pierre Vinot in his book „Uncertain Germany“. He wrote about the collapse of the civic order and an abnormal propensity to self-analysis“. In addition, he diagnosed the inveterate penchant for a welfare state („Fürsorgestaat“) as an idea „certainly not belonging to civic culture. We are entering here into the wide field of socialism.“

The French writer was referring to the idea of the community of the people („Volksgemeinschaft“), removed from party politics and transcending class barriers. This romanticist concept was popular in the various „leagues“ („Bünde“) of the German youth movement, where the love of nature was merged with nationalism and social idealism. One of the heroes revered by the „Bünde“ was the poet Stefan George who, in 1927, proclaimed his dream of „Das Neue Reich“. With ideas and emotions of this sort, the „Bünde“ were not very far from the promises of national socialism. As a young army officer, Count Stauffenberg, famed for his attempt to assassinate Hitler on July 20, 1944, was swayed, too, by the enthusiasm generated by a column of SA stormtroopers celebrating Hitler´s ascendance to power (by appointment as Reichskanzler, January 30, 1933). In 1933, the law professor Ernst Forsthoff – becoming a half-hearted opponent of Nazism some years later -, in his book „Der totale Staat“ („The Total State“) proclaimed that the „bourgeois age was to be liquidated“. In the prospect of a „better future, “ it was necessary to exhaust the last reserves of the people.“

Inspired by their surroundings – school, church, and peers - the Scholl siblings were caught up in the nationalist euphoria. Inge Scholl, the eldest of the five sisters, brandished a picture of Hitler in her room. She was keen to see her brother Hans and his „club“, i.e. the Ulm YMCA, joining the Hitler Youth. Also, she was the first of the siblings to be appointed leader in the girls´ branch of the Hitler Youth („Bund deutscher Mädel“, BdM, League of German Girls).

Hitler Youth and „bündisch“ activities

The siblings´ enthusiasm for the Hitler Youth was in part due to the pubertarian desire of detaching themselves from their parental home. Hans Scholl entered into a permanent conflict with his father Robert Scholl, an agnostic pacifist anti-Nazi. Later, in 1942, at the time when Hans and Sophie were about to enter their fateful career as resisters, Robert Scholl was betrayed by his secretary for calling Hitler "a scourge of God.“ He was sentenced to four months in jail and barred from working as a tax consultant. Again, in Mai 1943, he was sentenced to eighteen months in jail for listening to foreign, i.e. „enemy“ radio stations.

Despite quarrels during adolescence, family ties remained intact, with mother Magdalena Scholl, of pietist faith and trained as a „Diakonisse“ ( the Protestant equivalent of a nun), sedating emotions. At every stage on their children´s road to resistance, the family provided emotional support. Also, we find no trace of antisemitic sentiments in that family. Young Sophie Scholl is quoted saying: „Anyone who does not know Heinrich Heine, doesn´t know German literature.“

Hans´ character, exhibiting strong self-will and a hungry intellect, can best be described as a „firebrand“. Sophie, too, her artistic talent and poetic sensitivity notwithstanding, drew attention among Ulm citizens as a „boyish“ BdM enthusiast. Yet, in one aspect, by cultivating specific youth movement traditions, the youngsters deviated from the rules and rites of the Hitler Youth. Inspiration came from Eberhard Koebel (tusk), the nonconformist leader of a group named d.j.1.11 (German Youth of November 11, 1929), who, after clashes with Nazi rivals - involving arrest and torture in Berlin in the spring of 1933 – emigrated to England via Sweden in 1934.

In the above-mentioned letter, Susanne Hirzel described the ideals and the emotions prevailing in those  bündisch“ groups: „In the final analysis, it was all about ´freedom´. We were resolved to dedicate our lives to this goal, although no one could have given a closer definition of what this ´freedom´ really meant.“ Klaus-Rüdiger Mai provides an interpretation of his own by seeing the Scholls´ and their friends´ emotions in the romantic tradition of the eighteenth-century „Sturm und Drang“ period, backing up his view with a quotation from Jack Kerouac´s „On the Road“. Kerouac writes about those „ crazy ones, crazy for life“. „What were such people called in Goethe´s Germany?“ On his last way, being marched to the guillotine, 24-year-old Hans Scholl exclaimed: „Es lebe die Freiheit!“ (Long live freedom!)

From 1936 onward, nonconformist traditions in and outside the Hitler Youth were no longer tolerated but criminalized as „bündisch activities“ („Umtriebe“/activities in the sense of „disturbances“). Questioned by the Gestapo in February 1943, Sophie explained her early break with Nazism „above all“ with her and her siblings´ arrest in the late autumn of 1937 for charges of „bündische Umtriebe“. Charges against Hans Scholl and Inge´s friend Ernst Reden involved violations of the penal code § 175 banning homosexual practices. Referring to emotional uncertainties in the phase of puberty, the historian Mai refutes the theologian Robert Zoske, who, in his biographies, has attempted to elaborate on bisexual behavior of Hans and to detect latent lesbian tendencies in Sophie Scholl. (https://www.theeuropean.de/herbert-ammon/eine-neue-deutung-des-lebensweges-von-hans-scholl/ ; https://www.theeuropean.de/herbert-ammon/neue-biografie-ueber-sophie-scholl/)

Like Zoske in his biography of Hans Scholl, May, in his biographical essay on Sophie, fails to mention the Scholl family´s close relationship with Richard Scheringer, noteworthy for his biography. As a lieutenant, Scheringer, together with two other young officers, was convicted, in March 1930, for spreading Nazi propaganda in the Reichswehr (army). While serving his sentence, he converted to communism without abandoning his nationalist sentiments. Aside from minor brushes with the regime, he emerged unscathed from the Nazi era on his farm near Ingolstadt. The Scholl children occasionally spent their holidays there. Elisabeth, one of the five siblings, was employed as a maid in the Scheringer family at the time of the Munich drama.

Christian Faith

Standing out as a firmly established motive of the young Scholls´ road to martyrdom was their Christian faith, differing, to be sure, in certain features as regards Hans and his younger sister Sophie. When Hans, before, in late 1937, being captured himself, learned about his siblings´ arrest, he sent a letter thanking his mother for sending him a „wonderful“ word from the Bible. „It helped me to regain my old composure.“ Around 1939/1940, Hans Scholl (and somewhat later Sophie) was introduced by their brother Werner´s Catholic friend Otto Aicher (who had been barred from graduating at his school for refusing to join the Hitler Youth) to the Munich circle of Catholic intellectuals centered around Carl Muth and the convert Theodor Haecker. Thus, thanks to Aicher, himself intending to make converts of the Scholls, the siblings came to know the ideas of the French Rénouveau catholique inspired by authors like George Bernanos, Paul Claudel, and Jacques Maritain.

The author Mai is far from diminishing the intellectual and religious relevance of the Munich circle of the anti-Nazi opponents around Carl Muth. Nonetheless, he sees the Scholl siblings´ road to resistance in the tradition of Protestantism. Before being murdered on the scaffold on February 23, 1943, they received the Last Supper from a Lutheran pastor. In contrast to Luther, who, at his trial before the Imperial Diet at Worms in 1521, could expect salvation from the Elector of Saxony, there was no mighty secular power to hold a protecting hand over young Hans and Sophie Scholl.


Note:

The above article is an enlarged version of my review of Mai´s book on my Globkult blog https://herbert-ammon.blogspot.com/2023/02/21-februar-2023-zum-gedenken-sophie.html. This text again is based on my review in the Catholic newpaper „Die Tagespost“ of February 22, 2023,

https://www.die-tagespost.de/kultur/literatur/klaus-ruediger-mai-das-buergerliche-zeitalter-wird-liquidiert-art-235803

For additional reading see my articles and reviews:

https://www.globkult.de/geschichte/zeitgeschichte/471-die-geschichtliche-tragik-der-rweissen-rosel-und-die-politische-moral-der-nachgeborenen

https://www.theeuropean.de/herbert-ammon/eine-neue-deutung-des-lebensweges-von-hans-scholl/

https://www.theeuropean.de/herbert-ammon/neue-biografie-ueber-sophie-scholl/

https://www.globkult.de/geschichte/rezensionen/1932-eckard-holler-auf-der-suche-nach-der-blauen-blume-die-gro%C3%9Fen-umwege-des-legendaeren-jugendfuehrers-eberhard-koebel

https://www.globkult.de/geschichte/rezensionen/2151-fritz-schmidt-juergen-reulecke-hans-scholl



Montag, 10. Juli 2023

Aktuelles, Berlinisches

I.

Die  tristen Weltläufte verlangen einen kurzen Kommentar. In Stichworten:

 1) Der sonst so protestantisch friedfertige Bundespräsident Steinmeier hält inzwischen -  im Sinne der "Zeitenwende" -, zur Abwehr des Aggressors Putin, zur siegreichen Beförderung von Frieden und Freiheit, den Einsatz von Streumunition als kriegstaugliches Instrument für gerechtfertigt.  

2) Die großgründeutsche Moralverwaltung nimmt Anstoß an dem neuesten "Asylkompromiss" der EU. Wir können folglich davon ausgehen, dass auch diese längst überfällige Vereinbarung zur Kontrolle des von kriminellen Schlepperbanden betriebenen Zustroms von "Geflüchteten" in diesem unserem Lande ignoriert und/oder unterlaufen wird. 

3) Entsetzen herrscht über die den Höhenflug der AfD in den Umfragen. Da es trotz einiger  grünkritischer Ansagen von Friedrich Merz - und innerkoalitionären Querschüssen von Wolfgang Kubicki -  keine wirkliche Opposition gegen die - in nahezu allen Bereichen realitätsferne - Politik der Ampel gibt, kann die AfD bis auf weiteres auf Verstärkung der "populistischen" Stimmungslage rechnen. 

Politische Folgen ergeben sich daraus kaum, solange die "Brandmauer" gegen die Höcke-Partei hält. Offenkundig zielt auch Merz - wie schon vor ihm seine Antipodin Merkel -auf eine Koalition mit den Grünen, wie das - zielbewusst platzierte  Doppelinterview mit der Grünen-Kovorsitzenden Ricarda Lang in der der FAZ (v. 10.07.2023, S. 2) erkennen lässt.

I. 

Das  eigentliche, ins Lokale zielende Thema meines Blog-Eintrags ist ein von Wolfgang Drechsler, dem stets lesenswerten Afrika-Korrespondenten des "Handelsblatt" und neuerdings auch wieder des "Tagesspiegel", angestoßenes Sujet: die Ästhetik der Hauptstadt Berlin.Drechsler schrieb auf Facebook  über seine Empfindungenn nach einem abendlichen Bummel vom AA - es heißt trotz grüner Purgationsmanie noch immer so - am Werderschen Makt über den Gendarmenmarkt und die "Linden" zum Brandenburger Tor:

 "Eigentlich bin ich kein Berlin-Fan und bin es nie gewesen. Und habe die Stadt länger gemieden. Aus so vielen Gründen... Aber dieser Abend, diese Fülle an Kultur auf engstem Raum, die verschiedenen Gesichter der Menschen, die schwermütige Musik am Tor, das so lange geschlossen war und diese Stadt trennte und jetzt dieser milchig-heiße Sonnenuntergang sind schon speziell...Und haben mich mit dieser schwierigen Stadt nun doch ein wenig versöhnt..."

Diese Sätze inspirierten mich zu folgender Replik: 

"Ja, Berlin hat schöne, beeindruckende Örtlichkeiten - von der Museumsinsel über die weitläufigen Parks bis zu den Seen - , dazu weniger schöne und unübersehbar hinreichend abstoßende. Mehr als ärgerlich sind die als "Grafitti" deklarierten, rücksichtslosen Schmierereien an ästhetisch ansprechenden Baulichkeiten, wie z.B. die mit gelbem Ton verklinkerten S-Bahn-Unterführungen. Kein Trost: In - fast - allen deutschen und westeuropäischen Städten sieht es nicht besser aus. - Am unangenehmsten in und an Berlin ist die unkritische Selbstgefälligkeit der Intelligenzija."

Darauf Wolfgang Drechsler: 

"Das trifft vieles sehr gut... Grade auch diese merkwürdige, ja erschreckende Selbstgefälligkeit, die ja auch die mir nie wirklich sympathisch gewordene Berliner Schnauze erklärt. Ein enger Freund schrieb mir eben dies zu Berlin, kurz nach seiner Rückkehr von einer dreiwöchtigen USA-Reise: ´Selbst uns Berliner verbindet mit dieser Stadt eine zwiespältige Liebe. Wirklich schön wie Venedig, historisch wie Nürnberg, romantisch wie Siena oder prachtvoll wie Sankt Petersburg ist sie nicht. Dem Berliner geht die Eleganz des Mailänders völlig ab; der Umgangston kann zwischen ruppig und komisch pendeln. Charmant mögen Franzosen wirken, Berliner eher wie Oger aus den Sümpfen. Die Dysfunktonalität der öffentlichen Verwaltung hält der Berliner für ein völlig normales und hohes Gut; ebenso lebensgefährliche Radwege, die sich eigentlich nur für 4x4s eignen. Trotzdem mögen wir diese sonderbare Stadt irgendwie. Das hochkonzentrierte und vielfältige Kulturangebot auf engstem Raum wissen wir zu schätzen. Immer wieder kommen wir gerne nach Berlin zurück. Kaum da, zieht es uns wieder fort…´"
Postscript:
Mein Blog-Eintrag vom 10.07. 2023 ist zwar  schon wieder fast zwei Wochen alt, aber bis auf weiteres - bis zu einer kaum zu erwartenden "Wende" in der Hauptstadt - zeitlos aktuell. Hinzuzufügen wäre in Teil: 1) die neuen markigen Sprüche gegen hormongesteuerte Freibad-Okkupanten 2) das Sommertheater um das Ehegatten-Splitting; in Teil II 1) das Bekenntnis des neuen Regierenden Kai Wegner zum Spektakel unter der biblischen Regenbogenfahne 2) die zahllosen Baustellen, die nicht nur Taxifahrer zur Verzweiflung treiben 3) die rücksichtslose Arroganz der naturgemäß "grünen" Radfahrerinnen und R-.

 

 

Mittwoch, 5. Juli 2023

Post mortem Hans Sinn

Das Lebensende vor Augen, schrieb der Deutsch-Kanadier Hans Sinn vor etwa einem halben Jahr auf Facebook, der Tod sei eingebettet in die alles umfangende Ewigkeit. Noch am 20. Juni 2023 würdigte er die „ehemaligen DDR-Bürger“, die das SED-Regime zu Fall brachten („ihre Ost-Deutsche Regierung beispielhaft gewaltlos heruntergebracht“). Allerdings, fügte er – unzutreffend bezüglich der Fakten – hinzu, „die ostdeutschen Bürger“ hätten im Zwei-plus-Vier-Vertrag ihre historische Chance verfehlt, indem sie „ein Abkommen unterschrieben, in welchem Ostdeutschland der Wiederaufruestung Gesamtdeutschlands zugibt“. Die „heutigen Deutschen“ hätten – erneut - „um Nachkriegs-Deutschland zu vereinigen die Gelegenheit verpasst einen neuen Anfang zu machen.“

In derlei brüchig gewordener Sprache brachte Hans ein letztes Mal seine Vision eines neutralen, entmilitarisierten Deutschland als eines geläuterten Friedensbringers zum Ausdruck. In seinem unzweideutigen Pazifismus verschmolzen Kriegserfahrungen – als begeisterungsfreier Hitlerjunge das im Feuersturm „Gomorrah“ (Juli 1943) zerstörte Hamburg vor Augen, anfangs 1945 zum „Volkssturm“ rekrutiert, auf die Nachricht von Hitlers Tod Anfang Mai aus einem SS-Ausbildungslager in Dänemark desertiert (siehe meine Buchbesprechung https://www.globkult.de/geschichte/rezensionen/1114-amanda-west-lewis-the-pact,-markham,-ontario-%E2%80%93-brighton,-mass-red-deer-press-2016,-352-seiten) - die philosophisch-theologischen Reflexionen eines Teilhard de Chardin im Atomzeitalter, patriotische Friedenshoffnungen mit Mahatma Gandhis Lehren der Gewaltlosigkeit.

Einem wohlwollenden Offizier („Give him a chance“) verdankte Hans, angezogen vom Inserat einer Holzfällergesellschaft, den Stempel für die Einreise nach Kanada. Von dort kehrte er für einige Jahre nach Deutschland zurück, um sich – im Nachhall der Stalin-Note von 1952 und der – selbst nach dem Nato-Beitritt der Bundesrepublik 1955 – noch anhaltenden Debatte in neutralistisch-pazifistischen Friedenszirkeln zu engagieren. Insbesondere warb er – lange ohne große Resonanz - ab 1959 für einen „Zivilen Friedensdienst“. Danach entschloss er sich zur endgültigen Auswanderung nach Kanada. 

Ohne die deutschen Dinge aus dem Blick zu verlieren, sah er seine geistige und politische Heimat fortan in friedensbewegten Gruppen zwischen Vancouver, Toronto und Ottawa. Anno 1962, ein Jahr nach dem Mauerbau versuchte er, zusammen mit ein paar Gleichgesinnten, mit einem „Friedensmarsch“ von Vancouver bis nach Berlin das Weltgewissen hinsichtlich des durch die Mauer befestigten Kalten Kriegs und der derart stillgelegten „deutschen Frage“ aufzurütteln. Das Unternehmen endete unbeachtet in Berlin nach zwei Jahren.

1981 gründete er zusammen mit dem Quaker-Aktivisten Murray Thomson die Friedensinitiative Peace Brigades International (PBI). Daraus ging eine Menschenrechtsorganisation hervor, die in Techniken der Gewaltlosigkeit unterwiesene Freiwillige in Konfliktgebiete – in Lateinamerika, Asien und Afika – entsendet. Im Jahr 2018 zählten die Gruppen von PBI über 1000 Mitglieder. Von seinem in der Nähe von Ottawa gelegenen Wohnort Perth, Ontario, aus engagierte sich Hans zudem in der sozialdemokratisch geprägten New Democratic Party.

Anfang der 1980er Jahre erregte in Deutschland und Europa die – hauptsächlich von der protestantischen Kirche sowie von den soeben gegründeten „Grünen“ getragene - Friedensbewegung Aufsehen. Der Auslöser war der im Kontext der Nuklearstrategien der Militärblöcke im Dezember 1979 – nahezu zeitgleich mit dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan – erfolgte „Nachrüstungs“-Beschluss der NATO zur Aufstellung von neuen Mittelstreckenraketen in Mitteleuropa . Entgegen den Absichten einiger DDR-affinen Initiatoren brachte der – mit nationalpatriotischen Anklängen („Keine neuen Atomraketen auf deutschem Boden!“, „Schießplatz der Supermächte!“) aufgeladene westdeutsche Protest in der DDR eine unabhängige Friedensbewegung hervor. Mit dem mit Unterschriften aus Ost und West versehenen „Havemann-Brief“, der Forderung nach Friedensverträgen und Truppenabzug der Siegermächte kam - für einen spektakulären Augenblick – unüberhörbar die „deutsche Frage“ in Spiel.

In die Hochphase der damaligen Friedensbewegung fällt der Beginn meiner Freundschaft mit Hans Sinn. In einem Brief stellte er sich und sein Friedensprojekt PBI vor. Zu diesem Zeitpunkt hatte Hans bereits Kontakte zur unabhängigen Friedensbewegung in der DDR – namentlich zu Michael Kleim und Christian Dietrich sowie Edelbert Richter an der kirchlichen Hochschule Naumburg – geknüpft. Naturgemäß reagierte die Stasi mit einem Einreiseverbot, als Hans, aus Kanada angereist und alsbald befreundet mit Petra Kelly und Gerd Bastian, den friedensbewegten Führungsfiguren der frühen Grünen, seine Mitstreiter jenseits der Grenze besuchen wollte. Nach persönlicher Kontaktaufnahme zu Bürgerrechtlern in Ost-Berlin wurde auch ich anno 1983 mit einer Mauersperre bedacht, zum Glück ohne Verbot der Nutzung der Transit-Wege.

In den folgenden Jahren widmete Hans seine Energie dem Schicksal von Kindersoldaten, Kriegskindern und Kindern als Opfern häuslicher Gewalt. Außerdem setzte er sich für die Belange der First Nations in Kanada ein. An der Ohio State University initiierte er Studien zum Thema „ethnische Säuberungen“, was das studentische Interesse auch auf die im Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 legitimierten - in Amerika nahezu unbekannten – Vertreibungen der Deutschen aus dem östlichen Mitteleuropa weckte. Seine Zielvorstellung eines gänzlich entmilitarisierten Landes in der Mitte Europas lag stets außerhalb der politischen Realität. Immerhin kamen die Impulse zur 1999 erfolgten Gründung eines Zivilen Friedensdienstes (ZFD) als Unterorganisation des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) im Rahmen des Entwicklungshelfergesetzes (EhfG) (https://www.ziviler-friedensdienst.org/en/about-us/history) nicht unwesentlich von Hans Sinn (https://pbicanada.org/2019/06/09/hans-sinns-lifelong-journey-for-a-peaceful-world/).

Hans und mich, den im Krieg geborenen, aber eine ganze Generation Jüngeren, verband über Jahre hin – ungeachtet der Differenz zwischen meiner „realpolitischen“ Betrachtung des Unfriedens in der Welt und der in nuce machtpolitischen Aspekte der „deutschen Frage“ und seines religiös fundierten Aktivismus - eine innige Freundschaft. Ich nahm Anteil an seinem Schmerz über den Verlust seiner als „Nachzüglerin“ geborenen Tochter Rachel, die mit 15 Jahren an einem unheilbaren Gehirntumor starb. Ihr Wunsch war es gewesen, noch einmal ein „echtes deutsches Weihnachten“ zu erleben. Daraufhin fuhr ich mit Hans, seinem Sohn Nicky und mit Rachel im Dezember 1993 (?) zu einem folkloristisch angelegten Adventsabend im verschneiten Erzgebirgsort Seifen.

Hans Joachim Sinn war ein Mensch voll Herzensgüte. Sein friedenspolitisches Engagement war gänzlich selbstlos motiviert, ohne den bei Aktivisten oft anzutreffenden eifernden Anspruch auf moralische Überlegenheit. Er starb friedlich im Alter von 94 Jahren im Kreise seiner Lieben im Great War Memorial Hospital in Perth am 29. Juni 2023.

Freitag, 30. Juni 2023

Der jüngste Krieg und die Propaganda im Krieg

Zum ersten Jahrestag des Ukrainekriegs schrieb ich einen Aufsatz über die tieferen, in Geschichte, Kultur und Großmachtpolitik verwurzelten Hintergründe sowie den mutmaßlich auslösenden Faktor für den -  von Putin in großspuriger Propaganda als "militärische Spezialoperation"  angekündigten - russischen Angriff auf die Ukraine (https://www.tichyseinblick.de/meinungen/ukraine-krieg-nikias-frieden/; https://globkult.de/geschichte/zeitgeschichte/2273-die-ukraine-und-die-aktualitaet-des-peloponnesischen-krieges).   Akzeptiert man die - offen gegen Putin gerichteten - Erklärungen des Chefs der Söldnertruppe "Wagner" Prigoschin für seinen gescheiterten Putsch, so habe es vor dem 24. Februar 2022 weder Angriffsabsichten seitens der Ukraine noch Anzeichen für einen bevorstehenden Nato-Beitritt Kiews gegeben. Demnach hätte ich mich bezüglich des Auslösers ("trigger") des offenen Krieges geirrt. Dessen ungeachtet gibt es hinreichend Fakten in dessen mittelbarer Vorgeschichte  (ungefähr datierbar auf den Zeitraum 2002 bis 2013/2014),  die - vor dem Hintergrund des in russischen Augen demütigenden Niedergangs des russischen Imperiums - Putins Krieg plausibel, wenngleich keineswegs gerechtfertigt,  erscheinen lassen.

Der russische Angriff auf die Ukraine läutete in den Worten von Bundeskanzler Scholz  eine "Zeitenwende" ein. Die eindrucksvolle - indes nicht alle Waffensysteme umfassende -  militärische Unterstützung der Ukraine seitens des Westens, in zunehmendem Maße gerade auch der Bundesrepublik Deutschland, geht einher - von  "Dissidenten" am rechten und linken Rand abgesehen -  eindeutiger moralischer Parteinahme. Sie wird - nach den grauenvollen Szenen vom Wüten russischer Einheiten in Butscha kurz nach dem gescheiterten Angriff auf Kiew - tagtäglich bestätigt von Bildern der Drohnen- und Raketeneinschläge in ukrainischen Städten und den dabei getöteten, hilflosen Menschen.

Derzeit, noch unter dem Eindruck des zerstörten Krachowka-Staudamms sowie des Prigoschin-Putsches, verfolgen wir die Entwicklung der als kriegsentscheidend angekündigten ukrainischen Offensive an diversen Fronten.  Krieg und Kriegsverlauf diesseits und jenseits des Dnipro/Dnjepr sind begleitet von Informationen und Kommentaren aus Medien und Politik. Wir sind gehalten, Emotionen, Sympathie und Moral nicht nur der leidenden Bevölkerung zuteil werden zu lassen,  sondern - auf der politischen Ebene  - als engagierte Bürger auch dem angegriffenen Staat Ukraine  beizustehen, dazu die entsprechenden Entscheidungen unserer Regierung "alternativlos" gutzuheißen.  

Bei  nicht nur im Krieg gebotener Parteinahme, erst recht im aktuellen Kampfgeschehen, verschwindet die Komplexität historisch-politischer Konflikte sowie die Frage nach deren möglicher Lösung hinter dem Vorhang der von Politikern, Journalisten und als Experten angebotenen Analysen. Die Pilatus-Frage "Was ist Wahrheit?" weicht dem Dogma. Nichtsdestoweniger kommen die in jedem Krieg der von um Objektivität bemühten Interpreten des Geschehens übersehenen, von den Protagonisten des Guten verpönten Begriffe "Propaganda", schlimmer noch "Manipulation", zur Geltung.

Vor dem Hintergrund des Kriegsgeschehens in der Ukraine ist das Interview des Historikers Christian Hardinghaus in der "Berliner Zeitung"  geeignet, die propagandistische Unschärfen in den Medien zu erhellen. Er verweist auf die propagandistische Einfärbung der Berichterstattung seitens der Ukraine.  (https://www.berliner-zeitung.de/open-source/christian-hardinghaus-ukrainische-propaganda-gelangt-ungefiltert-in-unsere-medien-li.364064?fbclid=IwAR3yke0sXW-QsDk_jTz0i_9ECZuM_w2fRL2_Y8cnCoZfwaqw6kmBhZZLnMo):

"Sie plädieren für einen besseren Journalismus, angesichts der grassierenden Medien-Manipulation. Wie könnte dieser aussehen? Hat die Digitalisierung in der Berichterstattung zu einer Provinzialisierung geführt, welche anfällig ist für Manipulation?

Ich beobachte unabhängig vom Ukraine-Krieg und schon lange davor, dass unsere Medien zu unkritisch geworden sind und zu regierungsnah berichten. Sie sprechen im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr die Stimme des Volkes, hinterfragen zu zaghaft politische Entscheidungen, nicht mal, wenn sie nachweislich gegen den Mehrheitswillen im Volk getroffen werden. Das Problem liegt nicht bei den einfachen Journalisten. Ich bin ja selbst einer davon. Viele, vor allem diejenigen, die in einer Festanstellung arbeiten, würden gerne anders, freier, mutiger berichten, können sich aber nach oben hin nicht durchsetzen. Im Grunde geht es Journalisten nicht anders als allen anderen. Die Menschen trauen sich zunehmend seltener, ihre Meinung offen zu sagen, wenn diese zu weit von der Mitte des Overton-Fensters verortet werden könnte. Für den Journalismus ist das natürlich besonders fatal, denn so kann er seinen Grundstatuten selbst nicht mehr nachkommen. Wir alle müssen also lernen, mutiger zu sein, damit sich im Gesamten, was ändert."


 

 

 

 

 

Mittwoch, 14. Juni 2023

Weitere Kommentare zu meinem jüngsten Berlin-Kommentar

 Der mittlerweile mutmaßlich als "völkisch" - mithin verfassungsbedenklich - eingestufte deutsche Volksmund weiß: Eigenlob stinkt. Andererseits wissen Geschäftsleute ("Unternehmende"), Politiker, Künstler, Wissenschaftler, Pastoren und Autoren (alle m/w/d): Klappern gehört zum Geschäft. Mit Vergnügen habe ich beim Browsen festgstellt, dass mein Kommentar zu den Berliner Zuständen in der jüngst eröffneten Rubrik "Leserkommentar der Woche" der "Achse des Guten" erschienen ist: https://www.achgut.com/artikel/leserkommentar_der_woche_det_is_berlin_ob_rot_schwarz_oder_gruen

Ich stelle daher meinen von "Globkult" übernommenen Beitrag zur Berliner Meinungs- und Willensbildung https://www.globkult.de/politik/deutschland/2299-was-wird-aus-wegners-wende noch einmal auf meinem Blog vor. Die nachfolgend skizzierte Liste politischer Kalamitäten, Rivalitäten und Intrigen ist naturgemäß unvollständig. Zu den Positiva der letzten Wochen gehört die Sperrung des als baufällig diagnostizierten autogerechten  Betonbauwerks über den Breitenbachplatz samt Unterführung unter dem monströsen Bauwerk Schlangenbader Straße. Wann der Beton beseitigt wird und/oder ob der Breitenbachplatz seine alte Ästhetik zurückgewinnen kann, steht indes noch in den Sternen. Und noch was Positives: Das Jahresgehalt des künftigen RBB-Intendanten (mutmaßlich der künftigen unquotierten Intendantin) soll - nach dem unfreiwilligen Abgang von Patricia Schlesinger (siehe auch: https://herbert-ammon.blogspot.com/2022/10/gedanken-zum-reformationstag.html) auf bescheidene 180 000 Euro reduziert werden. Das erfreut den Berliner Steuerzahler und RBB-Konsumenten.

Daher nochmal meine Frage: Was wird aus Wegners Wende?

Vor einem halben Jahr, ein paar Wochen vor Wiederholungswahl am 12. Februar 2023, gab ich die Prognose ab, an den Berliner Zuständen werde sich auch nach den Wahlen nichts ändern(https://herbert-ammon.blogspot.com/2023/01/vor-und-nach-der-berliner-wahl-leerlauf.html) Hinsichtlich der Koalitions- und Regierungsildung habe ich mich geirrt. Das Unerwartete geschah: Franziska Giffey verzichtete – nach ihrem Verzicht auf den am OSI-Exzellenzzentrum ›The EU and its citizens‹ der FU Berlin erworbenen Doktortitel – auch auf das Spitzenamt des – funkional ungegenderten – Regierenden Bürgermeisters zugunsten des CDU-Wahlsiegers Kai Wegner. Und unerwartet unterlagen in der Abstimmung über Regierungsbildung samt Koalitionsvertrag die radikal karrierelinken Jusos gegenüber den altersbedingt ›konservativen‹ Genossen in den Außenbezirken.

Im Bildungswesen erzielt Berlin – im Wettbewerb mit anderen deutschen Großstädten – negative Spitzenergebnisse bei internationalen Lese- und Rechentests. Besserung erhofft sich die Stadt von der aus Dresden stammenden Katharina Günther-Wünsch (CDU), die Erfahrungen als Studiendirektorin an der Walter-Gropius-Schule in Neukölln mitbringt. Die einfache, politisch stets wirksame Erklärung liegt im Lehrermangel. Richtig, aber wer möchte sich heutzutage diesen Beruf noch zumuten? Erfolge im Bildungsbereich sind überdies schwerlich zu erwarten, solange in den ›Problembezirken‹ elementare kulturell-soziale Hindernisse – nicht nur abzulesen an den Wahlergebnissen für Erdogan – fortbestehen.

Als Senatorin für Integration, Arbeit, Soziales, Vielfalt und Antidiskriminierung fungiert Cansel Kiziltepe, SPD. Um eines der Integrationshemmnisse abzubauen, kündigte Wegner in einem Interview an, sprachliche Gender-Akrobatik in Verlautbarungen der Berliner Verwaltung zu untersagen. Auf Wegners Vorstoß reagierte die links-grüne taz mit Empörung. Es gehe ihm nicht um Rücksichtnahme auf die sprachlichen Nöte der migrantischen Neubürger, sondern um einen ethno-deutschen Kulturkampf. Bei seinem Gegenangriff auf einen »immer wieder hart am Rande Rechtsextremismus operierenden Politiker wie Wegner« griff der Autor tief in seine Theoriekiste: »Kulturkämpfe werden eröffnet, um das absehbare Scheitern einer letztlich den Kapitalinteressen verpflichteten Politik zu kaschieren und die zwangsläufige Wut auf Sündenböcke abzulenken. Mal sehen, wie lange die sich das gefallen lassen.« (https://taz.de/Kai-Wegner-gegen-gendergerechte-Sprache/!5933280/)

Mal sehen. Was der Verfassungsschutz zu derlei Definitionen des Rechtsextremismus sagt, ist im Berliner Milieu belanglos. Entscheidend ist in der Hauptstadt die richtige Gesinnung. Wir dürfen also weiter prognostizieren: Mit seiner Absage ans Gendern ist Wegners Wende angesichts der ›linken‹ Kampfbereitschaft bereits gescheitert.

Im übrigen bleibt alles beim alten: Die überlasteten Ämter arbeiten weiter in enervierender Langsamkeit. Klimakleber retten weiter das Klima. Die Feuerwehr, genauer der Senat, der sein Budget nach wie vor zu einem Drittel aus Steuerquellen der ›reichen‹ Bundesländern finanzieren muss, fräst die Kleber aus dem Asphalt der Stadtautobahn. Der Rest des Berliner Straßennetzes bewahrt seinen maroden Zustand. Ob die für den Verkehrsfluss im Osten der Stadt sinnvolle A 100 weiter ausgebaut oder ökokulturell gestoppt wird, ist noch unklar.

Immerhin soll die Friedrichstraße, deren Verwandlung in ein Reservat für grüne Radler/innen die Berliner Grünen bei der Wiederholungswahl einige Prozente kostete, ab Juli – unter Vorbehalt – für Autofahrer wieder offen sein. Wir dürfen also weiter auf eine Wende zum Positiven hoffen.

(Erschien zuerst auf der ›Achse des Guten‹)

 

 

 

 





Freitag, 26. Mai 2023

Notizen zum grünen Pfingstfest 2023

Ich stelle meinen Globkult-Artikel https://www.globkult.de/politik/deutschland/2296-die-gruenen-bestimmen-die-richtlinien-der-politik hier noch einmal als Blog-Eintrag vor:

 Laut Grundgesetz bestimmt der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik. Dass Bundeskanzler Olaf Scholz in seinem Ampel-Kabinett diesen Auftrag mit Durchsetzungsvermögen wahrnähme, ist schwer zu erkennen. Die treibende Kraft in der Ampel – wie in nahezu allen Bereichen von Politik und Gesellschaft in diesem unserem Lande – sind die von unbefleckten Idealen bewegten Grünen. Dass die ökologisch-materielle Familienaffäre – für Kenner der grünen Netzwerke ein keineswegs überraschender Fall von Nepotismus – des entlassenen Energiestaatssekretärs Patrick Graichen die Grünen in den Umfragen ein paar Prozente gekostet hat, fällt politisch nicht ins Gewicht. Seit Merkel ist deutsche Politik nur noch grün. An diesem Faktum wird sich auch solange nichts ändern, wie Scholz und Lindner an der Ampel festhalten.

Wirtschaftsminister Robert Habeck, als Literaturwissenschaftler und Kinderbuchautor ökologisch, nicht ökonomisch versiert, hält auch nach Graichens Entlassung am deutschen Weg zur Klimarettung fest. Graichens Nachfolger Philipp Nimmermann, so Habeck, ›wird mit seiner Stringenz die Energiewende, die Wärmewende und die Transformation voranbringen.‹ Wenn es um ihre Ideale geht, nutzen die Grünen die Instrumente der Macht.

Während Strom aus französischen und polnischen Atomkraftwerken sowie Kohle aus Kolumbien importiert werden, setzt das von der Ampel beschlossene grüne Klimaprogramm das von Inflation und schwachen Wachstumsraten betroffene Volk unter ökonomischen Druck. Immerhin zeigt Habeck plötzlich Verständnis für einige von Energiesorgen geplagte Industrieunternehmen. Er will die – bislang maßgeblich von der hoch subventionierten Energiewende verursachten – Stromkosten in der Stahl- und Chemieindustrie mit einem Preis von sechs Cent pro Kilowattstunde mindern. Auch wenn das Geld dafür aus dem Wirtschaftsstabilitätsfonds kommen soll, heißt das nichts anderes als neue Subventionen für grüne Stromerzeugung. Widerspruch regt sich derzeit noch bei der FDP, die indes aus Liebe zur grünen Ampel die Abschaltung der letzten Atomkraftwerke widerspruchslos geschehen ließ.

Justizminister Marco Buschmann (FDP) propagiert eine Erweiterung des Familienbegriffs, der grüner, bunter und absurder nicht sein kann. Laut dem Gesetzentwurf aus seinem – mutmaßlich grün-divers bemannten/befrauten – Ministerium gilt die nach Lust und Jahreszeit variable Geschlechtszugehörigkeit, jedoch nicht im Kriegsfall. Dann müssen vor allem Männer wieder als Männer und Frauen als Frauen – letztere der Bundeswehr bislang ohne gerechte Geschlechterparität vertreten – an die Front. Der Ernstfall ist zum Glück noch nicht eingetreten, denn entgegen der von der grünen Außenministerin Baerbock kurzzeitig vertretenen Ansicht, befinden ›wir‹ – gemeint war die Nato – uns noch nicht im Krieg mit Russland.

Nach eigenem Bekunden betreibt Annalena Baerbock in dem – unlängst durch Abhängen eines letzten Bismarck-Porträts grün und rötlich gereinigten – Auswärtigen Amt ›feministische‹ Außenpolitik. Dank umfassender medialer Unterstützung kommt sie damit in der deutschen Öffentlichkeit durch, auch wenn ihr Auftritt in Beijing von ihrem chinesischen Amtskollegen Wang Yi als westliche Anmaßung kühl abgewehrt wurde. Immerhin gelang ihr beim kräftigen Händeschütteln mit dem Industrieminister der Vereinigten Arabischen Emirate ein energie- und wirtschaftspolitischer Erfolg. Grüner Strom, gewonnen aus Flüssiggas, kommt künftig – nicht ganz klimaneutral – auch aus den VAE, nicht nur aus Katar und den USA. Klar, grüne Energiepolitik. Unklar ist nur, was daran feministisch sein soll.

Lieblingsthema grüner Außenpolitik ist die Migration mit dem Ziel, die Bundesrepublik Deutschland noch bunter zu machen. Kritiker aus den eigenen Reihen – nach dem Austritt Boris Palmers bleibt nur noch der grüne Landrat im mainfränkischen Miltenberg als Stimme der Vernunft – kommen gegen den grün-medialen Mainstream nicht an. Während Scholz zum zentralen Thema deutscher Innenpolitik schweigt und die FDP – am Thema vorbei – für mehr ›Fachkräfte aus Drittländern‹ plädiert, gehört Innenministerin Nancy Faeser (SPD) zu den innigsten Verbündeten der Grünen im Kabinett. Unbeeindruckt von der Debatte auf EU-Ebene und den längst auf Kurswechsel dringenden EU-Staaten, verfolgt die Ampel im Zeichen einer seit Jahren verschleppten Asylpolitik die grün-linke Leitidee der multikulturellen ›Bereicherung‹. Das Land soll sich grundlegend ändern, und Karin Göring-Eckardt, Frontfrau des grün-protestantischen Milieus, ›freut sich darauf‹.

Einst wurde den Grünen unter der Spottbezeichnung ›Ökopaxe‹ nachgesagt, sie seien die späten Erben der deutschen Romantik. Was die – ihrer Herkunft nach bunt gemischten – Grünen stark machte, war ihre vermeintlich vorbehaltlose Friedensliebe und mehr noch ihr massenwirksamer militanter Kampf gegen die Atomenergie als Menschheitsbedrohung. Die Vorstellung eines unzweifelhaften Pazifismus wurde spätestens im Kosovo-Krieg anno 1998 von Gerhard Schröders grünem Außenminister Joschka Fischer wortstark weggefegt, als dieser den Nato-Einsatz der Bundeswehr im zerfallenen Jugoslawien mit der geschichtliche Lehre ›aus Auschwitz‹ begründete. Was vom Pazifismus der Gründergeneration übrig blieb, ist die oben zitierte, eilig korrigierte Erkenntnis von Annalena Baerbock.

Ob das grüne Erfolgskonzept ›Atomkraft? Nein danke!‹ linken oder rechten Ursprungs ist, sei als Frage dahingestellt. Immerhin ist dieser Gründungsmythos aus den 1980er Jahren mit der Stilllegung der letzten Kernkraftwerke im April 2023 deutsche Praxis geworden. Gleichwohl, dass die Grünen mit Naturromantik nichts im Sinn haben, beweisen – von den weiter laufenden, CO2 ausstoßenden Kohlekraftwerken abgesehen – die gigantischen Windräder, verankert in enormen Beton/Stahl-Fundamenten, mit denen auch in den letzten deutschen romantisch-lieblichen Gefilden, im hessischen Märchenwald der Brüder Grimm sowie auf den romantisch-herben Hügellandschaften der Uckermark die grüne Energiewende erzwungen wird.

Kann man von Kriegsromantik sprechen, wenn die Grünen um Annalena Baerbock und Katrin Göring-Eckardt, mit Verve assistiert von der FDP-Politikerin Strack-Zimmermann, mehr Waffen für den Sieg der Ukraine über den Aggressor Putin fordern? Nein, denn nicht allein für sie geht es um einen bellum iustum, inspiriert von wehrhaftem, westlich wertebewussten Idealismus, getragen von illusionslosem Realismus bezüglich des tief verwurzelten russischen Imperialismus. Die Idee, dass im Ukrainekrieg auch andere Machtinteressen im Spiele sein könnten, weisen die Grünen als Vertreter der reinen Moral als unzulässig ab. Auf Entrüstung reagiert man auf die kühle Neutralität von Vertretern der einstigen ›Dritten Welt‹ und des hierzulande unter türkischen Migranten beliebten Erdogan.

In der Ideengeschichte – und in der historischen Wirklichkeit des Vormärz, maßgeblich in der Welle des Philhellenismus – unterscheiden und überschneiden sich Idealismus und Romantik. An dem noch lange nicht absehbaren Ausgang des Ukrainekrieges wird sich entscheiden, ob unsere grünen deutschen Idealisten nicht auch von romantischen Wunschvorstellungen – Sieg über Putin und Rückgabe aller russisch besetzten Gebiete an die Ukraine – bewegt sind.

Montag, 27. Februar 2023

Krieg ohne Aussicht auf einen "gerechten" Frieden

I.

Mein zuerst auf auf https://globkult.de/geschichte/zeitgeschichte/2273-die-ukraine-und-die-aktualitaet-des-peloponnesischen-krieges unternommener Versuch, die Hintergründe des von Putin vor einem Jahr eröffneten Ukraine-Krieges  zu entschlüsseln und - ausgehend von der derzeitigen Lage - die geringen Aussichten auf eine Art "Frieden" zu definieren, ist in aktualisierter Version auf Tichys Einblick erschienen: "Die Aussichten auf einen "faulen" Nikias-Frieden" (https://www.tichyseinblick.de/meinungen/ukraine-krieg-nikias-frieden/

Dort hat er in 51 Leserkommentaren breite Resonanz - und mehrheitlich Zustimmung - gefunden. Es geht - jenseits eines schlichten Schwarz-Weiß oder Gut-Böse Schemas - um eine Analyse des Ursachengeflechts des Kriegsgeschehens sowie um eine Abwägung der Chancen auf einen bestenfalls "faulen" Nikias-Frieden.

II.

Für die Leser (m/w) meines Blogs zitiere ich aus meinem Aufsatz auf TE folgenden Auszug:

Mit der...auf amerikanisches Drängen von der Bundesregierung beschlossenen Lieferung von deutschen Kampfpanzern an die Ukraine sowie dem ukrainischen Drängen auf weitere Waffensysteme geht der Krieg in eine weitere Etappe. In das Eskalationsmuster fügt sich die überraschende Reise des amerikanischen Präsidenten Biden nach Kiew und nach Warschau, verknüpft mit Zusagen weiterer Hilfe an Selenskyi. Ob Reaktion oder längst geplanter Schritt im Großmacht-Konflikt – in großer Rede suspendierte Putin die russische Beteiligung an dem mit den USA anno 2010 geschlossenen Abkommen zur Begrenzung von Nuklearwaffen (New Start). Er gab dem Westen die Schuld am Ukrainekrieg und demonstrierte russische Siegesentschlossenheit.

Vor diesem Hintergrund hat sich die deutsche Öffentlichkeit – sprich: das politisch engagierte Publikum - in zwei Lager gespalten: Die eine Seite- befürwortet die umfassende Unterstützung der Ukraine gegen Russland unter Putin, die andere Seite – durch den Aufruf von Sarah Wagenknecht und Alice Schwarzer spektakulär hervorgetreten – warnt vor weiterer Eskalation und plädiert – implizit - für eine deutsche Friedensinitiative. 

Beide Seiten vermeiden eine Analyse der komplexen, für das Kriegsgeschehen ursächlichen und für dessen künftige Entwicklung – und für eventuelle Friedensaussichten – schwer berechenbaren Faktoren. Zusammengesetzt aus Machtverhältnissen und -projektionen, Interessen, Psychologie, Ideologie, militärischem Potential, Ressourcen und Strategie, ergibt sich ein „modernes“ politisches Puzzle. Eine Auflösung des Ukraine-Rätsels scheint in mehreren Varianten denkbar. Sofern wir eine Eskalation bis zum Einsatz von Atomwaffen ausschließen, dürfen wir über folgende Alternativen eines Kriegsausgangs spekulieren: a) der „totale“ Sieg der einen oder anderen Seite b) beidseitige Erschöpfung, die am Ende zu einem wie immer gearteten Kompromissfrieden nötigt c) ein Regimewechsel in Moskau oder Kiew, der den Weg zu Verhandlungen eröffnet d) ein nachlassendes Interesse der USA, ein „Einschlafen“ des Krieges auf dem Gebiet der Ukraine sowie ein Erstarren der Fronten im Donbass.

Vorerst ist – mit Ausnahme der auf einen Sieg der Ukraine eingeschworenen deutschen Grünen - an die Realisierung einer der genannten Varianten – nur schwer zu denken. Aus westlicher Sicht handelt es sich um einen - gemäß UN-Satzung völkerrechtlich sanktionierten – reinen Verteidigungskrieg der ihre staatliche Souveränität, ihre territoriale Integrität und ihre Demokratie und Freiheit verteidigenden Ukraine gegen den russisch-imperialen Aggressor Putin. Aus dieser Sicht, bestätigt und geschärft durch tagtägliche Bilder des Grauens und Leidens, ist unzweideutige Parteinahme geboten: Es geht um die Wahrung des Völkerrechts, allgemein um die Verteidigung des Rechts gegen die Amoral brutaler Macht.

Dass es sich – jenseits aller völkerrechtlichen und mdoralischen Aspekte des Krieges - um einen Großmachtkonflikt zwischen den USA und Russland handelt, wird hierzulande kaum diskutiert, ist in der amerikanischen Debatte als Thema deutlich präsent. Zuletzt lenkte die an der Georgetown Uniersity lehrende Emma Ashford den Blick auf die macht- und geopolitische Rivalität hinter dem Ukrainekrieg („The Persistence of Great Power Politics“ in: Foreign Affairs vom 20.02.2023, https://www.foreignaffairs.com/ukraine/persistence-great-power-politics?utm_medium=newsletters&utm_source=fatoday&utm_campaign=The%20Persistence%20of%20Great-Power%20Politics&utm_content=20230220&utm_term=FA%20Today%20-%20112017 )

[…] Einwände gegen die vorherrschende Deutung des Ukraine-Kriegs sind nicht statthaft. Aus dem Blick geraten dabei indes die unterschiedlichen Interessen, letzlich Machtinteressen aller im Ukraine-Konflikt involvierten Staaten und Regierungen. Ausgeblendet wird zudem die lange Vorgeschichte des Krieges, die weiter zurückreicht als zu dem Machtwechsel in Kiew im Kontext der blutig eskalierten Maidan-Ereignisse 2013/14.

[…] Zu den tieferen Ursachen des Ukraine-Krieges, die im frühen 21. Jahrhundert – etwa seit auf den Machtantritt Putins in Moskau anno 2000 – mit den mittelbaren Konfliktmomenten zusammenfallen, gehört indes das Mächtespiel auf dem europäischen Kontinent. Wie ehedem zweimal zuvor - im politisch-militärischen Machtkalkül der deutschen Führung im Kriegsjahr 1918, sodann Hitler-Deutschlands im Zweiten Weltkrieg – wurde die Ukraine zum Operationsraum der Großmächte.

In der moralisch aufgeladenen Sicht der Dinge erscheint es unstatthaft, angesichts der Kriegsszenen im Donbass sowie der Drohnenangriffe auf ukrainische Städte an diesen Teil der Vorgeschichte zu erinnern. Gleichwohl: Die sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als „einzige Weltmacht“ (Zbigniew Brzezinski) verstehende USA forderte – de facto, intentional aus der Sicht Moskaus – mit der vor allem von den baltischen Staaten und Polen erwünschten Ostausdehnung der NATO 1995ff. das geschwächte, sich als Großmacht gedemütigt fühlende Russland heraus. Die Herausforderung geschah auf geopolitischem, militärischem und – im Zeichen demokratischer Freiheitsrechte gegen autoritäre Strukturen und Traditionen – ideologischem Gebiet.

Als point of no return für den neu aufbrechenden Ost-West-Konflikt erscheint Putins Absage an den Westen auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007. Es folgte im August 2008 der kurze Krieg gegen Georgien, das sich unter dem damaligen Präsidenten Micheil Saakaschwili zu einem Angriff auf – unzweifelhaft provokativ vorgerückte - russische Positionen in Südossetien hatte verleiten lassen. Von dem – im Westen als erfolgreiche „orangene Revolution“ gefeierten - Regimewechsel in Kiew im Februar 2014 (siehe „Chronologie der Maidan-Revolution“, https://www.nzz.ch/international/ukraine-chronologie-der-maidan-revolution-ld.1290571) führt der Weg über die russische Besetzung der strategisch bedeutsamen Krim Ende Februar 2014 und die nur wenig später in der Ostukraine einsetzenden Kämpfe russischer Separatisten gegen die Kiewer Zentralregierung in den von Putin am 24. Februar 2022 eröffneten Krieg.

Ein Ende ist nicht abzusehen

Wir begeben uns auf das Terrain der Spekulation, wenn wir nach dem auslösenden Faktor (trigger) für Putins Entscheidung zum großen Krieg fragen. Am 22. Februar 2022 kündigte Putin das sieben Jahre zuvor (12.02.2015) zur Beilegung des butigen Konfikts im Donbass ausgehandelten Minsk II-Abkommens auf. Er rechtfertigte dies mit der Obstruktion des Abkommens seitens der – in der Tat an der Verwirklichung der Vereinbarungen wenig interessierten - Kiewer Regierung. Ausschlaggebend für den – von Putin als vermeintlich unmittelbar durchschlagende „militärische Spezialoperation“ geplanten – Großangriff dürfte die Wahrnehmung der mutmaßlich auf Rückeroberung der russisch besetzen Gebiete mitsamt der Krim zielenden Ausbildung und Aufrüstung ukrainischer Truppen durch Briten und Amerikaner gewesen sein. [...] 

Schlussfolgerung

Damit kehren wir zu den eingangs erwähnten Varianten eines Kriegsausgangs zurück. Am Ende könnte es auf einen – für die Ukraine und ihre westlichen Unterstützer unbefriedigenden - Deal hinauslaufen, bei dem Putin einen Teil seiner Eroberungen – maßgeblich die Krim - behält und die Ukraine auf einen Beitritt zur NATO verzichten muss. Unabhängig von einem derartigen Szenario haben sich im Gefolge des Krieges – zuletzt durch die in Brüssel groß inszenierte Verkündung eines EU-Kandidatenstatus für die Ukraine – die Machtgewichte in Europa verschoben: Während die Position der östlichen EU-Staaten gestärkt ist, hat die Bundesrepublik Deutschland nach Durchtrennung ihrer Sonderbeziehungen zu Russland und lange unklarer Parteinahme ihre halbhegemoniale Rolle in Europa eingebüßt.

III.

Auf meine Ausführungen haben zwei Freunde mit nicht unberechtiger Kritik geantwortet. Beide beziehen sich auf die in meiner Argumentation enthaltenen Mutmaßungen. Soweit damit die eingangs - und am Ende - als mögliche Varianten eines Kriegsausgangs gemeint sind, habe ich meine diesbezüglichen Überlegungen selbst als "auf dem Terrain der Spekulation" angesiedelt. Anders steht es mit meiner "Mutmaßung" bezüglich des für das Eklatieren des bereits seit dem Regimewechsel in Kiew nach den Ereignissen auf dem Maidan 2013/2014 mit Gewalt - Kämpfe im Donbass und Besetzung der Krim - ausgetragenen Konflikts. 

Für meine These, wesentlich ausschlaggebend für Putins - vor Kiew wider Erwarten gescheiterte - "militärische Spezialoperation" sei die von ukrainischer Seite geplante Rückeroberung der Gebiete im Donbass sowie der Krim gewesen,gibt es enen Beleg in Ukas No 117/2021 der Kiewer Regierung vom 24. März 2021. Darin geht es um "1. Die Politik der Beendigung des Besatzungsregimes und Wiedereingliederung der vorübergehendbesetzten Territorien der Autonomen Republik Krim und der StadtSewastopol (im Folgenden als vorübergehend besetzte Territorien bezeichnet)besteht aus einemganzen elementenkomplex zur Durchführung einer Reihe von Maßnahmen, diplomatischer, miltärischer, wirtschaftlicher, informationeller, humanitärer und anderer Art." (https://www.president.gov.ua/documents/1172021-37533?_x_tr_sl=uk&_x_tr_hl=de&_x_tr_pto=wapp)

Zu erinnern ist auch daran, dass die ukrainische Regierung unter dem damaligen pro-westlichen Präsidenten Viktor Juschtschenko bereits 2008 eine Verlängerung des bis 2017 geschlossenen Pachtvertrags kategorisch abgelehnt hatte.(https://www.derstandard.at/story/1224776229310/verlaengerung-des-pachtvertrages-fuer-russische-schwarzmeerflotte-abgelehnt). Umgekehrt vereinbarte anno 2010 der prorussische Präsident Viktor Janukowitsch  2010 mit Moskau, dass der 2017 zu erneuernde Pachtvertrag für die Stationierung der russischen Flotte um 25 Jahre verlängert werden sollte.  (https://www.handelsblatt.com/politik/international/die-krim-zankapfel-zwischen-moskau-und-kiew/9558502.html).

Kurz vor der russischen Besetzung der Krim Ende Februar 2021 setzte das Parlament in Kiew ein Gesetz außer Kraft, welches das Russische dem Ukrainischen auf der Krim als Amtssprache gleichgestellt hatte. Laut Süddeutscher Zeitung vom 28. Februar hielt "sogar die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) dies für eine ziemlich schlechte Idee... Es könnte der Funke sein, den es braucht für eine Explosion." (https://www.sueddeutsche.de/politik/ukrainische-halbinsel-krim-russlands-faustpfand-am-schwarzen-meer-1.1900555)

Fazit: In der von Schreckensbildern und berechtigter Empörung über Putin geprägten Debatte sind sowohl die komplexen, vorrangig machtpolitischen Hintergründe sowie die von mir als "Trigger" bezeichneten Details außer Blick geraten. Während Nato-Generalsekretär Gerhard  Stoltenberg und andere Akteure von einem noch Jahre andauernden Krieg sprechen, können wir nicht mehr tun, als auf ein möglichst baldiges Ende dieses Krieges zu hoffen.