Montag, 17. Juni 2019

Als Sünder angesichts der Wohlfühlapokalpyse

Wir Kinder der Aufklärung leben befreit von Sündennot und Höllenangst, wenngleich trotz allerlei Exit-Programmen noch keineswegs befreit von Tod und Todesangst. Doch mit Umweltaktivismus, Urlaubsfreuden und Fitnesstraining gelingt es den von kontinuierlich steigender Lebenserwartung  beglückten  älteren Generationen, d.h. den  Alt-Achtundsechzigerrn und Post-Achtundsechzigern, das hässliche Bild des Sensenmannes aus dem Bewusstsein weitgehend fernzuhalten. Das gelingt am besten, wenn man sich auch als bereits älteres Semester für Greenpeace, Seawatch oder das ewig gleiche, grüne Kirchentagsprogramm  begeistert.

In dieser Melange der Empfindungen kommt im Gleichklang mit deutschen Schuldgefühlen  das schlechte Gewissen, das säkularisierte Sündenbewusstsein, wieder zur Geltung. Wieviel Plastik- und/oder Aluminiumumhüllungen habe ich heute beim Einkauf von Käse, Bio-Joghurt, dazu gar noch Schinken, in Kauf genommen? Auf dem Markt sind die Viktualien teurer, die Möhren werden aber  noch in Papiertüten verpackt. Warum fahre ich nach Usedom noch immer mit meinem Mittelklasse-Benziner statt mit einem brandneuen, hoch subventionierten, mit Lithium-Batterien bestückten VW-Tesla? Wie hoch ist mein täglicher Kommunikationsbedarf, wieviel Energie verbraucht der Akku meines mit Coltan gefertigten Smartphones?

Getragen von derlei seelischer  Grundstimmung überstehen die in der Leistungsgesellschaft überflüssigen Alten (=Senioren) sozialradikal-libertäre Attacken gegen ihre staatsfinanzierte Drohnenexistenz, vermeiden ungute Einsamkeitsgefühle und finden Anschluss bei der for future schulstreikenden Jugend. Die Jungen und die Alten, Politiker (f/m/n) und Pastoren (f/m/n), Kirchenleute und Kirchenfeinde, Kinderlose und Alleinerziehende vereint die Angst vor der für 2050 angekündigten Klimaapokalypse. Um sie noch abzuwenden, muss man a) sich engagieren b) richtig  wählen c) Opfer bringen.

Das soeben von Karin Göring-Eckardt, als unvollendete Theologin wissenschaftlich ausgewiesene Ökologin, vorgelegte 100-Milliarden-Programm zur deutschen Weltrettung und/oder zur Bewahrung der Schöpfung -  Deiche, offshore-Windparks, emissionsfreie Verkehrssysteme, Naturverschönerung durch Windmühlen usw.-  will finanziert sein. Auch die Bewahrung des Friedens - durch Modernisierung und Aufstockung der für weltweite peace enforcing missions zu europäisierenden Bundeswehr - wird am Ende mehr kosten als die von Trump - und der NATO-Führung - geforderten zwei Prozent des BIP. Im Hinblick auf die allseits herrschende Ungerechtigkeit und die Zukunft Afrikas sollte man auch wieder Enteignungskonzepte oder staatliche Schuldenexpansion in Betracht ziehen, auf jeden Fall jedoch CO2-Steuern erheben.

Wer sein Gewissen mit derlei Einsichten in die Notwendigkeit pflegt, gehört zu den Guten. In seinem Inneren amalgamiert die -  von der Mehrheit der Klimaforscher wissenschaftlich, von Papst Francesco mehr theologisch - vermittelte Angst vor der zum Glück erst auf 2050 angesetzten Apokalypse mit der Überzeugung, über höhere Moral zu verfügen als die Klimaskeptiker, erst recht die Klimaleugner. Ein besseres Gewissen zu haben, ist also keine Todsünde mehr, wie ehedem der Hochmut (superbia), sondern ein erlaubtes Wohlgefühl.

Wer - unter Verweis auf ausgebliebene Prophetien oder auf den jüngsten NASA-Bericht von den  wieder wachsenden Gletschern auf Grönland und in der Antarktis -  Zweifel an den Weltuntergangsszenarien hegt, verdient die Verachtung der Rechtgläubigen. Zu Recht begleitet ihn der Verdacht. Denn er gehört zu den Ungläubigen, er allein - nicht die gläubige Mehrheit -  ist ein Sünder gegen den Geist der Wahrheit. Am Ende handelt es sich gar um einen "klandestinen" AfD-Sympathisanten. Auf den Verdächtigen  - dies die Erfahrung der Geschichte - wartet die Guillotine. Immerhin hat auch ihm - sowie allgemein den verdächtigen, ungeliebten "Ossis" - jüngst der einstige "ostdeutsche" Pastor und vormalige Bundespräsident Joachim Gauck partielle Absolution erteilt. 

Sonntag, 2. Juni 2019

Merkel´s Speech at Harvard

I.
Fraglos war der Empfang einer  Ehrendoktorwürde an der Harvard University am 30. Mai 2019 ein Höhepunkt in der privaten, wissenschaftlichen und politischen Karriere von Angela Merkel. In der Laudatio wurde sie gerühmt als "the schientist who became a world leader". Die von einem Ghostwriter (sc. -r Gh-in) verfasste Dankesrede, genauer die Commencement Speech, hatte die Kanzlerin,  so war zu erfahren, noch in letzter Minute eigenhändig verfeinert. Offenbar hat sie selbst noch  die Zitate aus der Schatzkammer deutscher Dichtung selbst eingeflochten. Den Anfang ihres Berufslebens, nach Abschluss ihres Physikstudiums - unerwähnt blieb das Stipendium in Moskau -,  "inspirierte" (dixit Merkel) das poetische Zauberwort Hermann Hesses. Mit Hölderlin kam die Kanzlerin im Verlauf ihrer Rede - und ihrer Karriere  - gleich zweimal ins Offene.

Merkels Vortrag, eingeleitet und beendet mit einigen Sätzen auf Englisch, wurde mehrfach mit mächtigem Applaus, ja von "standing ovations", der Graduierten bedacht. Wer wagte angesichts solch eindrucksvoller Szenen noch Worte des Zweifels am Auftritt unserer Kanzlerin?

Die Kommentare in den meisten deutschen Medien fielen entsprechend laudatorisch aus. Beifall fanden vor allem Merkels Ausführungen zu "meinem Land, Deutschland, (das) unvorstellbares Leid über Europa und die Welt gebracht (hatte)", zu Multilateralismus, Protektionismus, Handelskonflikten, Isolationismus, kurz: die pointierte, indirekt, ohne Namensnennung vorgetragene Absage an Trump.Vor erlesenem Publikum, vor der Elite Amerikas und der global vereinten Menschheit hatte es die deutsche Kanzlerin  dem unberechenbaren Rüpel im Weißen Haus wieder einmal gegeben. Im Internet ist zu erfahren, dass man in den USA von der Merkel-Ehrung kaum Notiz nahm.

Entgegen aller Erwartung durchbricht ausgerechnet die  FAZ (nr. 126 v. 01.06.2019, S.9) unter der Überschrift "Festgemauert in den Phrasen" auf der ersten Seite des Feuilletons alle Regeln der Hofberichterstattung. Edo Reents, Teilnehmer der großen Feier in Harvard, vernahm "eine Rede, deren intellektuelles Niveau man nur niederschmetternd nennen kann."  Das Gehörte, eine Serie von Versatzstücken, veranlasste den Berichterstatter zur Flucht: "Nichts wie weg hier, bloß mit niemandem Eindrücke austauschen, am Ende merken die noch, dass man Deutscher ist."

II.
Es sei gestattet, diesem köstlichen, mehr auf das Sprachliche zielenden Verriss noch ein paar Anmerkungen  zu den autobiographischen und politischen Aussagen der Geehrten (insgesamt sechs "Erfahrungen und Gedanken") hinzuzufügen.  Merkel bekennt, sie sei keine Dissidentin gewesen, sie sei nicht gegen die Mauer angerannt. Richtig. Sie übergeht - vielleicht aus Zeitgründen - den Umzug ihrer Familie in die sozialistische DDR. Den Bau der  Mauer in Berlin, die "ein Volk" (sic!) und Familien - "auch meine Familie" teilte, erklärte sie damit, dass "die Regierung der DDR Angst (hatte), dass das Volk weglaufen würde in die Freiheit". So kann man den Mauerbau erklären. Zu ergänzen wäre, dass der DDR seit Nikita Chruschtschows Berlin-Ultimatum (27.11.1958) und dem Scheitern der Vier-Mächte-Verhandlungen 1959/60 über Deutschland und Berlin vor allem die Arbeitskräfte wegliefen.

Das Mirakel des Mauerfalls deutet die Kanzlerin so:  "Dann kam das Jahr 1989. Überall in Europa setzte der gemeinsame Wille zur Freiheit unglaubliche Kräfte frei. In Polen, in Ungarn, in der Tschechoslowakei und auch in der DDR wagten sich Hunderttausende auf die Straße." In aller Bescheidenheit nennt die DDR-Bürgerin Merkel die Leipziger Demonstranten, die am 9. Oktober 1989 das Regime herausforderten, an letzter Stelle. Die umfassende Krise der Sowjetunion, der Name Michail Gorbatschow, der sich widerwillig auf die - für Europa zentrale - deutsche Frage einließ, der ungarische Außenminister Gyula Horn, der mit dem westdeutschen Außenminister Genscher die Grenzöffnung zu Österreich verabredete, kommen in der Rede nicht vor. Natürlich sollte man´s den jungen Leuten, der angehenden Elite der USA und aller Welt, nicht zu kompliziert machen, daher: "Wir Europäerinnen und Europäer sind zu unserem Glück vereint."

Ungeachtet des von Robin Alexander rekonstruierten realen Verlaufs der "Flüchtlingskrise" wird Merkel weiterhin von vielen gerühmt ob ihres spezifisch moralischen - und grünen - Zugangs zum Politischen. Dass "Kriege und Terrorismus zu Flucht und Vertreibung" führen, steht außer Zweifel. Weit weniger klar ist, wie "wir die Ursachen von Flucht und Vertreibung bekämpfen (können)." In Harvard präsentierte Merkel  ihr deutsches Konzept von 2015: "Das alles können wir schaffen." 

Ähnlich verhält es sich mit dem "von Menschen verursachten" Klimawandel und den daraus resultierenden Krisen. Ja, wir "können und müssen" alles unternehmen, "um diese Menschheitsherausforderung wirklich (sic!) in den Griff zu bekommen." Merkel versprach in Harvard, sie werde sich "deshalb mit ganzer Kraft dafür einsetzen, dass Deutschland, mein Land, im Jahr 2050 das Ziel der Klimaneutralität erreichen wird".

Merkel ließ offen, was Trump, Putin, Xi Jinping, Maduro, Erdogan, die Mullahs in Teheran oder Kim Jong-un über dieses globale Programm denken. In ihrem Land, in Deutschland, genügt grüne Entschlossenheit für die Lösung aller Menschheitsfragen. Das heißt nicht, dass Merkel gänzlich falsch lag, als sie zum Schluss verkündete: "Nothing can be taken for granted, everything is possible."