Freitag, 15. November 2024

Unzeitgemäße Gedanken zum "Volkstrauertag"

I.

Am kommenden Sonntagabend erwarten uns - abstinente oder widerwillige - TV-Konsumenten folgende Szenen: Zum Volkstrauertag findet eine Gedenkstunde im Bundestag statt, in der  "an die Opfer  von Gewalt und Krieg aller Nationen" (https://de.wikipedia.org/wiki/Volkstrauertag) gedacht wird. Für die diesjährige Feier wurde als Hauptredner  der rumänische Staatspräsident Klaus Johannis gewonnen. Zwei Fragen sind dabei offen: 1) Wie behandeln die von ihren Fraktionen bestellten Redner (bzw. deren Redenschreiber) das Thema Ukrainekrieg? 2) Wie reagieren die anderen Parteien, wenn der/die Redner/in der AfD auftritt?

Sodann sehen wir in den TV-Nachrichten, wie der Bundespräsident, vermutlich begleitet von einigen Vertretern der Bundeswehr, einen Kranz mit schwarz-rot-goldenen Schleifen in der Neuen Wache Unter den Linden niederlegt, um der Opfer der Kriege und der Opfer der von Nazi-Deutschland verübten Verbrechen zu gedenken.  

Der Volkstrauertag heißt ungeachtet seines völkischen Anklangs - und der bestenfalls indifferenten Anteilnahme der mit eigenen "Erzählungen" beschäftigten Staatsbürger mit Migrationshintergrund - noch immer so. Ein im engeren Sinne "nationales" Gedenken an die deutschen Kriegsopfer sowie der Gefallenen der beiden Weltkiege ist am Volkstrauertag nicht vorgesehen.  Immerhin  gedenkt man - Gegenstand einer weiteren TV-Szene - neuerdings auch der bei  - erfolglos abgebrochenen - Kriegseinsätzen (Afghanistan, Mali) sowie - als sei dies identisch - bei Unfällen im Dienst zu Tode gekommenen Soldaten und Soldatinnen (in ungegenderter Reihung) der Bundeswehr. Die entsprechende Pflichtübung fällt dem noch amtierenden Verteidigungsminister Boris Pistorius zu, den - im Hinblick auf  den bereits stattfindenden Wahlkampf - einige Auguren als zugkräftigeren SPD-Kanzlerkandidaten gegenüber dem an der "Schuldenbremse"  gescheiterten Ampelkanzler Olaf Scholz ins Spiel gebracht haben.

Der deutsche Gedenktag fällt in das  dritte Jahr des von Russlands Herrscher Putin am 24. Februar 2022 eröffneten Krieges gegen die Ukraine. Ob bei dessen Erwähnung der Kriegsopfer auf beiden Seiten gedacht wird, ist nicht anzunehmen, denn die Sympathien der meisten Deutschen und ihrer politischen Klasse - ausgenommen, versteht sich, AfD und BSW - liegen noch immer bei der Ukraine, dem Opfer des Aggressors Putin. Das könnte sich jedoch ändern, wenn der derzeit in die Defensive gedrängte Präsident Selenskyi von den Deutschen noch mehr Geld und/oder endlich die Lieferung von Taurus-Raketen fordern sollte, was den vom Grundgefühl  pazifistisch gestimmten Deutschen missfallen dürfte.

II. 

Ach ja, die heutigen Deutschen tun sich schwer mit ihren Gedenktagen, erst recht mit dem Gedenken an ihre Kriegstoten. Lange waren sie eingestimmt auf "Frieden schaffen ohne Waffen". Doch jetzt müsse Deutschland wieder "kriegstüchtig" sein, so proklamierte es unser Verteidigungsminister  anlässlich der am 24. Februar 2022 eingetretenen "Zeitenwende" (Scholz). Nicht überraschend sind seit dem Ukrainekrieg - vom Gazakrieg abgesehen - die Friedensparolen der Evangelischen Kirche, in den 1980er Jahre Hauptträger einer gegen "neue Nato-Raketen" gerichteten Friedensbewegung, hörbar verstummt.

Kriegstüchtig? "Kriegstüchtig" heißt nicht nur höhere Militärausgaben, heißt nicht nur Krieg mit Distanzwaffen wie Drohnen, Raketen und weitreichenden Feldhaubitzen. "Kriegstüchtig" heißt Vorbereitung auf Kampf, Zerstörung, Töten, Verstümmelung und Sterben.   

III.

"Troja hört nicht auf zu brennen", lautete der Titel eines Essays des Philosophen Peter Furth. (Siehe H.A.: https://www.globkult.de/gesellschaft/besprechungen-gesellschaft/862-eine-kritik-der-deutschen-zivilreligion-aus-dem-geist-der-tragoedie). Auf die Gefahr hin, von übelwollenden Zeitgenossen bewusst missverstanden zu werden, zitiere ich Auszüge aus dem Interview, in dem der 100jährige Kurt Meisner, ein aus Landsberg a.d.Warthe (heute Gorzów Wielkopolski) stammender Überlebender des Krieges, in den er 1942 als Siebzehnjähriger - noch als Arbeitsdienstleistender-  hineingeriet, in der ungeliebten "Jungen Freiheit" über seine Kriegserfahrungen berichtete (in: JF Nr. 47 v. 15.11.2024, S. 12). Das Interwiew führte Moritz Schwarz.

[...]  

Wie verarbeitet man das?

Meissner:  Danach hat keiner gefragt. Es war ja damals viel vom Heldentod die Rede. Ich aber habe die Realität in ihrer äußersten Brutalität kennengelernt - all die furchtbar Verwundeten, die Verstümmelten, die Sterbenden und die Toten, die ich so jung und völlig unvorbereitet sehen mußte und die bis heute in meiner Erinnerung sind...

Wie war es, mit 17 töten zu müssen?

Meissner: Auch das ist schrecklich. Aber wenn es heißt, er oder ich, dann zögern Sie nicht. Als MG-Schütze habe ich später viele Russen getötet, furchtbar. Doch so auf die Entfernung ging es noch. Aber ich war auch in Nahkämpfe verwickelt und mußte einmal einen jungen Russen mit meinem Dolch erstechen. Ich habe immer wieder an ihn gedacht und daran, daß auch er eine Mutter hatte, die hoffte und betete, er würde zu ihr heimkehren. 

[...]

Sie waren von Ihrem Kampf nicht überzeugt?
Meissner: Von unserem Kampf schon, denn wir kämpften schlicht ums nackte Überleben, aber nicht von diesem Krieg.
 
Wie hatten Sie bei Ausbruch [des Krieges] über ihn gedacht?
Meissner: Da war ich 15, und dachte natürlich Unsinn wie, er möge nicht so bald vorbei sein, damit ich ihn nicht verpasse. Denn die Heldengeschichten, die man uns darüber erzählte, gefielen uns natürlich.
 
Hatte man in Ihrer Familie denn keine politische Meinung,etwa zu den ihm vorausgehenden Streitfragen um Danzig oderden polnischen Korridor?
Meissner: Mein Vater, ein Bahnangestellter, war zwar SA-Mann, aber nur um beruflich voranzukommen. Mir selbst gefiel es im Jungvolk ganz gut, nicht aber später in der HJ, weshalb ich möglichst viele Lehrgänge besuchte, um nicht am normalen HJ-Dienst teilnehmen zu müssen. Stattdessen lernte ich nützliche Dinge, die mir später im Krieg das Leben retteten. 
 
Bis 1938 hatte ich allerdings nichts gegen die Nazis, doch als die Synagogen brannten, und ich anderentags die eingeschlagenen Schaufenster der jüdischen Geschäfte sah, waren sie bei mir unten durch, denn so etwas macht man nicht!
 
Fühlten Sie keinen Patriotismus? Viele junge Deutsche, die damals in den Krieg zogen, glaubten ja daran, das Vaterlandzu verteidigen?
Meissner: Nein, patriotisch war ich nie. Ich kämpfte nicht für Deutschland, sondern weil mir keine andere Wahl blieb. Ich kämpfte um mein Leben und für das meiner Kameraden.
 
Spielte es für Sie keine Rolle, daß Deutschland bei einer Niederlage die Vernichtung drohte?
Meissner: Die Niederlage war für mich schon ausgemachte Sache. Denn Sie müssen bedenken, als ich an die Front kam, gab es nur noch Abwehrkämpfe und Rückzug. Einen Sieg, das war klar, würde es nicht mehr geben – und so ist es ja auch gekommen.
[...]
Was ist mit ihrer Heimat? 

Meissner: Ja, das war schrecklich, daß wir nach dem Krieg nicht mehr nach Landsberg zurückkonnten. Ich vermisse meine Heimat noch heute. Aber es war nicht zu ändern...

Wie sind Sie mit all dem nach dem Krieg zurechtgekommen?

Meissner: Ich habe das mit mir selbst ausgemacht, da ich nie jemand war, der viel darüber geredet hat. Nach dem Krieg hatten wir nichts mehr, nicht einmal mehr eine Heimat. Erst mußte man am Leben bleiben, die Hungerwinter überstehen und dann wieder aufbauen. Ich denke manchmal, mein Gott, was wir ertragen mußten! Und die Jugend jammert, weil sie zu viel arbeiten muß und nicht genug Party machen kann. Ich habe Sorge, daß diese Generation - der alles zu fehlen scheint, womit wir uns durchgebissen und unter alle den Trümmern wieder hervorgearbeitet haben - das, was wir hier aufgebaut haben, nicht wird halten können. 

 
Interessiert sich die Jugend für Ihre Erlebnisse?
Meissner: Nein, ich bin jetzt hundert und fast meine ganze Generation ist tot, alle die mich noch verstanden haben. Zwar habe ich eine Tochter und Enkeltochter, aber sie kennen meine Welt nicht
mehr. Ich bin im Grunde sehr einsam. Oft denke ich an all die Verstorbenen und meine vielen gefallenen Kameraden, die im Krieg geblieben sind. Es wird Zeit, daß auch ich gehe.

Mittwoch, 6. November 2024

Trump is back

Eine tiefgründige Analyse der kulturellen Kräfte, die dem allseits verabscheuten Trump zu seinem come back ins Weiße Haus verholfen haben, war vor dem 5. November 2024 in deutschen Zeitungen und Medien kaum irgendwo zu finden. Man begnügte sich mit dem herablassenden Verweis auf die  - stets nur als weiße, offen oder versteckt rassistische  Unterschicht identifizierten -  "Abgehängten", die dem "Populisten" Trump - auf den das Etikett ohne Frage zutrifft - auf den Leim gehen. 

Nun ist die große Überraschung da, und die allseits entsetzten, sich geistig und moralisch überlegen dünkenden  Deutschen, die an Joe Biden allenfalls seine fortschreitende Debilität auszusetzen hatten, müssen sich auf die neue, durch die Rückkehr Trumps an die Spitze der verunsicherten Weltmacht USA entstandene Weltlage einrichten. Die große Unsicherheit erfasst alle Parteien, namentlich die Grünen als führende deutsche Meinungsmacht. Nur die beiden ungeliebten Randparteien AfD und BSW können als Trump-Versteher beanspruchen, auf die Dinge, die da auf Deutschland und Europa zukommen, vorbereitet zu sein.  

Eine umfassende Betrachtung des Trumpismus aus meiner Tastatur sei hier nur angekündigt. Bis dahin verweise ich die auf meine vor vier Jahren verfasste Globkult-Besprechung einer Art Trump-Biographie eines Bewunderers von The Donald: https://www.globkult.de/politik/besprechungen/1856-doug-wead-donald-trump-die-wahre-geschichte-seiner-praesidentschaft. Im Schlusssatz erwähnte ich den von Trumps Schwiegersohn Jared Kushner ausgearbeiteten Friedensplan für Israel-Palästina, der zu einem Friedenszustand im Nahen Osten führen sollte. 

Geschichte im Irrealis ist als Gedanke zulässig, für den Historiker sogar unverzichtbar. Wir wissen nicht, wie der Dealmaker Trump in den nächsten Jahren die von Kriegen und Krisen bestimmte Weltlage zu bewältigen gedenkt. Dennnoch sei die Frage erlaubt, ob die Katastrophen, die in den vier Jahren des Präsidenten Joe Biden über Israel und die Ukraine - und damit auch über uns - hereingebrochen sind, auch unter einem Präsidenten Trump stattgefunden hätten.

Samstag, 2. November 2024

Countdown

Countdown: Nur noch fünf Tage bis zu den US-Wahlen. Meine Position: Weder - noch. Nicht nur einige Facebook friends sprechen von einer Wahl zwischen Pest und Cholera. Noch im Sommer tippte ich auf Kamala Harris. https://www.globkult.de/.../2389-die-deutschen-hoffen-auf... Jetzt nimmt kein Buchmacher mehr Wetten an, oder?

Der mit mir seit den vergeblichen Bemühungen in der Stasi-unterwanderten - und längst im geschichtlichen Orkus der Grünen gelandeten -  "Berlin- und Deutschland AG" der sog. "Alternativen Liste" befreundete Peter Klepper, hat mit seiner Stellungnahme zum Ausgang und zu den Folgen der US-Wahlen - so oder so -  recht: Die ach so besorgten Deutschen sollten sich - ungeachtet ihrer Liebe zu Kamala - auf die Realität einstellen. 

Mehr Realitätssinn  und weniger grün eingefärbte Wunschvorstellungen -  eine solche Maxime gilt für das gesamte Feld der bedrängenden politischen Wirklichkeit. Sie gilt im Hinblick auf den Ukrainekrieg, dessen schnelle Beendigung Trump versprechen mag, die aber weder von ihm noch von uns - von mehr Geld und neuen Waffenlieferungen für Selenskyis "Siegfrieden" - abhängt, sondern, so unangenehm diese schlichte Erkenntnis sein mag, vom Machtkalkül Putins. Ob nun Trump oder Harris sich mit China als Rivalen - und mit dem wachsenden BRICS-Komplex - auseinandersetzen muss, ist weltpolitisch betrachtet von minderer Bedeutung. Ob  - im Blick auf die von den USA global ausstrahlenden Kulturpolitik - ein Sieg Kamalas oder Donalds vorzuziehen sei, ist eine Frage des Geschmacks. Kamala wird den Wokies entgegenkommen, Donald außer lauten Phrasen nichts gegen den allerorts vordingenden "progressiven" Nonsens unternehmen.    

Nüchterne Wahrnehmung der Dinge ist zudem geboten hinsichtlich der Zukunft der EU als eines von politischen Dissonanzen geprägten, nach innen auftrumpfenden, nach außen zahnlosen Machtgebildes, das seine Versprechen gegenüber der Ukraine und den Beitrittsaspiranten Moldavien, Georgien und Armenien in aller Wahrscheinlichkeit nicht einlösen kann. Das gilt sodann - bei allem Entsetzen über den 7. Oktober 2023 -  für Israels Krieg gegen Hamas in Gaza und gegen Hisbollah im Libanon (mit Teheran als schwer berechenbarem Faktor). Last but not least gilt dies für die - ungeachtet aller Grenzkosmetik und aller vermeintlich den Migrationsdruck mindernden Bezahlkarten - für die anhaltende Einwanderung von "Geflüchteten", während die aus der Migration erwachsenen Probleme der "Integration" den Kommunen, Stadtstaaten und Ländern allerorts über den Kopf wachsen. 

Gewiss, aus gebotener Selbstbscheidung,  sollte sich man sich  nicht zitieren, auch nicht wiederholen.  Das könnte das Publikum (m/w/d/o.A.) langweilen. (Siehe https://www.achgut.com/artikel/fragen_zu_den_us_wahlen_und_zum_demokratischen_fuehrungspersonal)

 

Mittwoch, 30. Oktober 2024

Reformationstag: Protestantische Theologen gegen Trumpisten

Parallel zu den Austrittszahlen aus den Kirchen hat der  Reformationstag am 31. Oktober, ehedem ein  Hochfest des deutschen Protestantismus, seine Bedeutung erkennbar eingebüßt. Die Gruselmasken von Halloween sind den Jüngeren heute besser vertraut als die markigen Bilder von Luthers Thesenanschlag an der Schlosskirche zu Wittenberg. Immerhin gibt es in einigen Bundesländern  noch schulfrei, und im atheistischen Bundesland Brandenburg wurde der Tag nach dem Mauerfall - unter dem längst vergessenen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe - gar zum staatlichen Feiertag erhoben. Seither nutzen die Bewohner des Berliner Umlandes den arbeitsfreien Tag vor allem zu Einkäufen, jedenfalls nicht zum Besuch eines Reformationsgottesdienstes. 

Gedenkgottesdiente finden gleichwohl in den  Kirchen der Hauptstadt statt, obenan, auf mediale Wirkung bedacht, im Berliner Dom - gegenüber dem als "Humboldt-Forum" semantisch und inhaltlich neutralisierten "Schloss" mit dem "umstrittenen" christlichen Schriftzug um die nicht minder "umstrittene" Kuppel - sowie in der semantisch noch unumstrittenen Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.

Den Inhalt der zum Reformationsfest verfassten Predigten können wir ohne Mühe antizipieren: Zu erinnern gilt es an den geistig befreienden Widerstand des von seinem Gewissen getriebenen Theologieprofessors Luther gegen das im ausbeuterischen Ablasshandel zugespitzte Machtgebaren der alten Kirche. Billige Gnade sei nicht zu kaufen, heißt es unter Bezug auf Dietrich Bonhoeffer. Dabei wird offen gelassen, ob die wenigen, meist grauhaarigen Gottesdienstbesucher, darunter einige mit dem Button  "Omas gegen Rechts", mit dem Begriff  "Gnade" überhaupt noch etwas anzufangen wissen.

Das Thema "Reformation" wird sodann fortgesponnen zur kritischen Betrachtung der Figur des Reformators und dessen historischer Überhöhung im Nationalprotestantismus. Das Erbe der Reformation - die Rede von der "Freiheit eines Christenmenschen" -  sei belastet durch das Versagen in der Nazizeit und das nur  halbherzige Bekenntnis zur deutschen Schuld nach 1945. Im Raum der AfD komme das völkische Gift der sog. "Deutschen Christen" erneut zur Wirkung. 

An dieser Stelle kehrt die Predigt zurück zum Vermächtnis des Widerstandskämpfers und Märtyrers Dietrich Bonhoeffer. Dessen Verständnis von gelebtem, auf Christus bezogenen Glauben, ziele auf tätige Hinwendung zu den Schwachen, Missachteten und Hilfsbedürftigen. Sein Verständnis des christlichen Pazifismus impliziere das Bekenntnis zum defensiven Gebrauch von Waffen gegen einen verbrecherischen Feind, wie wir ihn derzeit in Gestalt Putins und in seinem Krieg gegen die Ukraine erleben. 

                                                                        *

Als weiteres Thema einer deutschen Reformationspredigt kommt der amerikanische Wahlkampf in Frage. Ganz Deutschland starrt auf das Datum des 5. November. Laut Meinungsumfragen favorisieren über 70 Prozent der Deutschen Kamala Harris als künftige US-Präsidentin. Nur AfD-Wähler wünschen sich Donald Trump als Wahlsieger. Stoff genug für eine Predigt am Reformationstag sowie für den kommenden Sonntag vor den Wahlen am Dienstag.

Der Wahlkampf in den USA geht in seine letzte Phase. Aus den Meinungsumfragen - mit der diesen inhärenten Unsicherheitsmarge - ergibt sich keine eindeutiges Bild. In einigen Swing States scheint jedoch Trump vorne zu liegen.  In ihrem Abwehrkampf gegen den - entgegen vorherrschender Meinung anscheinend nicht nur beim weißen Prekariat populären -  "Populisten" Trump greift Harris inzwischen zur schärfsten Waffe, in dem sie ihn als "Faschisten" tituliert. Trump erklärt Kamala schlicht für "so stupid".

Während die meisten Medien, Intellektuellen, Film- und Popstars Harris unterstützen, hat Trump inzwischen auch einige prominente Namen auf seiner Seite, obenan Elon Musk. Ein weiterer namhafter Trump-Unterstützer ist der Journalist Eric Metaxas, Autor einer in hohen Auflagen publizierten Bonhoeffer-Biographie (Bonhoeffer: Pastor, Martyrer, Spy),Vorlage eines demnächst mit demselben Titel in die Kinos kommenden Filmes.

Metaxas ist Mitglied einer New Yorker Kirche von Presbyterianern, die  antiliberalen, fundamentalistischen Glaubenssätzen anhängen.  Gegen seine Rolle im Lager Trumps - bis bin zur Verteidigung des "Sturms auf as Capitol" am 6. Januar 2021 - und als Protagonisten eines rechten "christlichen Nationalismus" haben sich amerikanische und deutsche Theologen, obenan die ehemaligen EKD-Vorsitzenden Wolfgang Huber und Heinrich Bedford-Strohm, in einem Aufruf (in der Printausgabe "Die ZEIT" vom 17.10.2024) zu Wort gemeldet. 

Mit Recht weisen die Unterzeichner (die "Unterzeichnenden") darauf hin, dass Metaxas´ Buch "gerade im englischen Original sachlich fehlerhaft ist". Sie empören sich auch darüber, dass Metaxas in seinem neuen Buch den zwischen woken Linksliberalen und diversen "rechten" Kräften - von einigen (im europäischen Sinne) konservativen Intellektuellen über Evangelikale und/oder Fundamentalisten sowie "christliche Nationalisten"  bis hin zu gewaltbereiten Milizen - ausgefochtenen Kulturkampf mit dem Krieg gegen Hitler-Deutschland gleichsetzt. Der Trump-Anhänger Metaxas illustriere seine kämpferische, antiliberale  Rhetorik "sogar mit einem Foto, das eine Pistole auf einer Bibel zeigt. Diese Gewaltverherrlichung geht einher mit der Weigerung, zwischen dem heutigen gesellschaftlichen Kontext und Nazideutschland zu unterscheiden. Eric Metaxas ist kein vertrauenswürdiger Erzähler von Bonhoeffers Leben und Lehren."   

                                                          *

Die Kritik an verzerrender Interpretation der Schriften Bonhoeffers sowie am politischen Missbrauch Bonhoeffers im Wahlkampf für Trump ist nicht unbegründet. Nichtsdestoweniger sei vermerkt, dass die Auseinandersetzung mit Bonhoeffer auch im Lager "progressiver" Theologie - maßgeblich in der Ausdeutung der Gefängnisschriften Bonhoeffers unter weitgehender Ausblendung der voluminösen "Ethik"-Fragmente - vielfach in reduktionistischer und vorschnell aktualisierender Weise geführt wird.  (Siehe dazu meine Bonhoeffer-Aufsätze in Globkult, darunter meine Rezension des Bonhoeffer-Porträts von Wolfgang Huber  https://www.globkult.de/geschichte/rezensionen/2139-wolfgang-huber-dietrich-bonhoeffer-auf-dem-weg-zur-freiheit-ein-portraet).

Als  Negativ-Beispiel für eine "moderne" Sicht auf Bonhoeffer, genauer: für den Bezug auf Bonhoeffer im politisierenden Protestantismus  sei zum Schluss aus einem Aufsatz des Theologen Thorsten Dietz zitiert. Dietz, Professor für Systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule Tabor und Privatdozent an der Universität Marburg, schreibt: "Metaxas’ Darstellung von Dietrich Bonhoeffer ist oft Fanfiction für christliche Nationalisten." (https://www.reflab.ch/billige-gnade-streit-um-bonhoeffer/?) Zwar sei Bonhoeffer "kein linksliberaler Theologe im heutigen Sinne" gewesen. Es gebe  "bei Bonhoeffer für rechte Formen des Christentums eine Reihe von verstörenden Anknüpfungspunkten", so in dessen erst später überwundenen "Nationalismus", in seinem von "Geschlechterhierarchie" abgeleitetem Verständnis von Ehe sowie in seinem - in der radikkalen Ablehnung der Französischen Revolution begründeten - Antiliberalismus. 

In schiefer Syntax und nur halbrichtig in der Aussage -  Bonhoeffers ironische Kommentare zur theologischen Flachheit des Spocial Gospel schlicht ignorierend - heißt es dann weiter: "Gerade sein Studienaufenthalt in den USA und die Begegnung mit schwarzen Gläubigen sowie auch der Social-Gospel-Theologie verdankt seine Theologie eine nachhaltige Wende zum Sozialen." Auf die Gegenwart bezogen erläutert der Autor das "Soziale" bei Bonhoeffer wie folgt:  "Bonhoeffers Bereitschaft zu selbstkritischer Hinterfragung privilegierter Personengruppen führen ins Zentrum heutiger Auseinandersetzungen... Eigene Privilegien einzuräumen und aufzugeben, das ist nichts, was heutige Menschen mit den Eigenschaften männlich, cishet (?) , weiss – mit Gelassenheit absolvieren."

Als nichtprivilegierter weißer Cis-Mann denke ich zum Reformationstag darüber nach, ob man derartige in kirchlichem Lehramt etablierte Theologie noch weiterhin gelassen mit Kirchensteuer finanzieren soll.



Mittwoch, 18. September 2024

Scholzens Drehtürpolitik

Noch ist Olaf Scholz Bundeskanzler, da Lindner die Chance zum Kanzlersturz - und zur Rettung seiner Partei über die Fünf-Prozent-Hürde -  immer wieder verpasst hat. Zugleich ist zu erfahren, dass jetzt bereits innerhalb der SPD an seinem Stuhl gesägt wird, dass der ob seiner martialischen Reden angeblich populäre Boris Pistorius als nächster Kanzlerkandidat ins Spiel gebracht werden soll.

Doch das sind Gerüchte. Vorerst ändert sich in diesem Lande - allen Wahlergebnissen in den längst nicht mehr neuen Bundesländern zum Trotz - nichts. Zwar hat die Innenministerin Faeser inzwischen erkannt, was die weiland Bundeskanzlerin Merkel nicht für möglich halten wollte, nämlich, dass man, um der militanten Migration zu begegnen,  Grenzen kontrollieren, gar schließen kann  - wenn sie es denn ernst meinte.  

Die starken Worte der Nancy Faeser sind nicht ernst gemeint. Was - angetrieben von Erregung über die AfD-Erfolge  -  die immer noch regierende Ampel als "verantwortungsvolle Migrationspolitik" propagiert, ist nichts anderes als eine Politik der Drehtüre: Ein paar illegale Straftäter - unter Hunderttausenden von illegal Eingewanderten - werden vor den Wahlen nach Afghanistan abgeschoben. Danach schließt Kanzler Scholz höchstselbst Abkommen mit Ländern wie Kenia und Usbekistan, die eine Anwerbung - de facto Abwerbung - von "Fachkräften" aus diesen Ländern vorsehen. 

Ungeachtet des geplatzten Migrationsgipfels stützt die CDU unter Merz die auf tiefgreifende Transformation der deutschen Gesellschaft zielende Politik der Ampel. Sollte die Ampel im Wahljahr 2025 von einer schwarz-grünen Regierung abgelöst werden, wird sich an den als "Migrationskrise" bekannten Zuständen in Deutschland wenig ändern. Wenn dann die "Brandmauer" zur AfD doch bröckelt und bricht, ist es für eine Politik, die  Deutschland erneuern  und als lebenswertes Land erhalten will, aller Voraussicht nach zu spät.  Als Ausweg aus der Misere droht sodann ein autoritäres Regime.


Mittwoch, 4. September 2024

Freunde und Helfer im Einsatz

Natürlich wäre ein Kommentar zu den - angesichts der Zustände im Lande sowie aufgrund aller Wahlumfragen erwartbaren - Wahlergebnissen in Thüringen und Sachsen angebracht.Vae Germaniae, Hannibal Höcke ante portas! Periculum in mora! Aufruf  an unsere Fachkräfte (mit und ohne Migrationshintergrund) in der Tiefbaubranche: Beeilt euch im Hinblick auf die Bundestagswahl 2025 mit dem Ausheben des Festungsgrabens vor dem Reichstag - zum Schutz der Demokratie vor Reichsbürgern, Corona- und Klimaleugnerinnen, Höcke-Jüngern, Sahra-Verehrern und ähnlich gesicherten Verfassungsfeinden! Immerhin kommt der entsprechende Bauauftrag auch von mir als Mitträger der Volkssouveränität, als verfassungstreuer postethnischer Bürger sowie als  Steuerzahler... 

Leider muss ich die Leser und -innen meines Blogs bezüglich einer zusätzlichen Wahlanalyse noch um etwas Geduld bitten. Zum einen hallen die Kassandrarufe durch sämtliche Medien, und in diesen Chor möchte ich mich mit dissonanten Tönen nicht einmischen.   Zum anderen lockt  der herrliche Spätsommer - nach allgemein medialer Meinung eine Folge des menschengemachten Klimawandels  - vom PC weg zum Badevergnügen in der Krummen Lanke.

Die Freude auf das Vergnügen im See bei angenehmer Wassertemperatur erfuhr am dritten Septembertag eine gewisse Störung. Während ich mein Fahrzeug (Verbrenner) durch eine beidseitig von geparkten Autos beengte Straße steuerte, kam in Schlangenlinien ein blauweißer Polizeiwagen - unter Verzicht auf  Blaulicht und Sirene - entgegengerast. An vorsichtiges Manövrieren, mit dem man gewöhnlich an einem entgegenkommenden Pkw vorbeikommt, war nicht zu denken. Aufs äußerste erschreckt, versuchte ich noch,  in eine schmale Parklücke auszuweichen. Da war der Polizeiwagen bereits auf meiner Höhe. Aus dem offenen Wagenfenster brüllte der von Amtswegen um meine bürgerliche Sicherheit besorgte Fahrer, ich solle gefälligst über den Bordstein fahren, um die Straße freizumachen. 

In derlei Fällen ist der  Bürger schon froh, wenn ihn der Polizist in der Höflichkeitsformel "Sie" anschreit. Mich bewegt sodann die Frage, ob unsere Berliner Polizei mit derlei rhetorischem Aufwand auch bei ihren stets folgenlosen Kontrolleinsätzen  im Görlitzer Park ("Görli"), am "Cotti", am "Helmi" oder sonstwo gegen drogendealende Fachkräfte  verfährt. Vermutlich halten sich die Ordnungskräfte da mehr zurück, um Stimmungsmache für die AfD zu vermeiden.


Sonntag, 11. August 2024

Deutscher Optimismus in der Sommerpause

Es gäbe genug Stoff für Kommentare zur bundesrepublikanischen Lokalpolitik und zum großen Weltgeschehen: die schleichende Wirtschaftskrise mitsamt fühlbarer Kosteninflation der Grundbedürfnisse, Faesers Schlag gegen die permanent drohende Machtergreifung der "Rechten", die deutsche "performance" bei den Olympics an der von Macron unzureichend gesäuberten Seine, die Klage der Landkreise über die Kosten der uns bereichernden Migration, die Erfolge im deutschen Bildungssystem (mit 261 1,0-Querschnittsnoten im diesjährigen Abitur in der Bundeshauptstadt Berlin),  die Einschränkung der Persönlichkeitsrechte durch EU-ferne Gesetzesvorhaben der Ampel für die Handhabung von Messern im sozial-kulturellen Alltag,  die medienwirksame Queer-Demo in Bautzen, die Spekulationen über die künftigen Regierungen nach den Wahlen am 1. September (Weltfriedenstag) in drei der  nicht mehr so "neuen" Bundesländer. 

Vor allem zu den Themen der global politics: Wie kommt die Ukraine im Kursker Oblast/Rayon voran, welchen Effekt erzielen deutsche Waffen im Hinblick auf den Siegfrieden über Putin? Wie reagiert Israel, wie der globale Westen, wie der globale Süden auf den erwarteten Doppelangriff von Hisbollah und der Mullahs in Teheran? Besteht noch  Hoffnung auf ein Ende des Gaza-Krieges, gar auf einen realen Frieden in Nahost?

Genug der Fragen, Sorgen und Spekulationen. Ich beschränke mich in diesen Sommertagen  auf einen Hinweis auf  meinen Globkult-Artikel  https://www.globkult.de/politik/welt/2389-die-deutschen-hoffen-auf-harris zu dem von um die Demokratie besorgten Deutschen mit Vorfreude erwarteten Sieg von Kamala Harris bei den US-Präsidentschaftswahlen. Daraus die Schlusspassage mit einer persönlichen Stellungnahme:

Ich kann mich für keinen der beiden Kandidaten (m/w) erwärmen. Ich habe jedoch das Gefühl, dass wir  – in der Bedrängnis eines zweifach geführten Kalten Krieges - am Ende des Wahltheaters eine kreischende Spätpubertäterin anstelle eines angejahrten Grosssprechers an der Spitze der westlichen Wertewelt erleben werden. Das wird - nach den mutmaßlich Entsetzen hervorrufenden Landtagswahlen in den drei „ostdeutschen“ Bundesländern -  vor allem „uns Deutsche“ - das neue „Wir“ unseres Bundespräsidenten – erfreuen.

Montag, 15. Juli 2024

Nach dem Fußballspektakel: Ein Blick von außen

I.

Naturgemäß überlagern die Berichte zum blutig gescheiterten Attentat auf Trump derzeit alle anderen Nachrichten, einschließlich der Kommentare zum Sieg der Spanier über die Engländer im Endspiel der Europameisterschaft. In den seitenfüllenden Berichten der FAZ  (v. 15.07.2024) war über den Verlauf des Attentats und das Innenleben des um Haaresbreite "erfolgreichen", von den Sicherheitsleuten erschossenen "mutmaßlichen" (juristisch-journalistische Pflichtformel) Mordschützen nichts Neues zu erfahren. Mit Ausnahme eines tiefgründigen Aufsatzes von Peter Graf von Kielmannsegg zum Vermächtnis des 20. Juli 1944 wäre die morgendlicheZeitungslektüre - insbesondere auch das Feuilleton -  den Zeitaufwand wieder einmal kaum wert gewesen. 

Den Sportteil überfliege ich seit langem nur mit kursorischem  Desinteresse. Die Helden meiner Kindheit und Jugend sind längst vergessen und/oder gestorben. Im Lauf der Jahre versiegte meine patriotisches Interesse an der  deutschen "Nationalmannschaft", auch an deutschen Siegen bei den Olympischen Spielen. Das "Sommermärchen" von 2006 verfolgte ich nur mit größtmöglicher Distanz, zog allerdings noch - mehr aus Freundschaftsgründen denn aus Begeisterung -  in die beflaggten Kneipen. Bei dem korrupten Spektakel in Qatar im Dezember 2022 ärgerte ich mich über Faesers provokant peinlichen Auftritt und registrierte mit Genugtuung das frühe "Aus" der namenlosen, zu PC-Gesten genötigten "Mannschaft". Ich gestehe jedoch, dass ich in den letzten Wochen -  zunächst wiederum mehr aus freundschaftlicher Verpflichtung denn aus Interesse -  ein paar EM-Spiele auf TV  angesehen habe. Und in der Tat: die spieltechnische Genauigkeit der Spanier, die Akrobatik von Spielern wie Yamal,Williams, Musiala oder Bellingham bereiteten ästhetisches Vergnügen. Die Enttäuschung Harry Kanes und seiner Leidensgenossen erregte mein Mitgefühl.

II.

Beim Durchblättern der Zeitung stoße ich auf die Kommentare aus dem Ausland zum Ausklang der Fußball EM 2024. Ins Auge fällt (S. 24, unten links) die Überschrift: "Frankreich. Altmodische Züge, dreckige Straßen". Das erweckt mein Leseinteresse, auch wenn ich die ICC-Züge  nicht so sehr als altmodisch, sondern das Reisen mit der Deutschen Bahn AG seit Jahren nur als qualvoll erfahre. 

Zur französischen Wahrnehmung wird der  langjährige Redakteur der Sortzeitschrift "LÉquipe" zitiert: "Dass die Züge altmodisch, langsam und unpünktlich sind, war bekannt, aber dass die Sauberkeit auf den Straßen nicht mehr vorhanden ist, sowie die Tatsache, dass man so viele Obdachlose auf der Straße sieht, hat mich schon überrascht."  

Nichts könnte die triste Gegenwart dieses unseres diversen und weltoffenen Landes schärfer abbilden als dieser Satz. Wer als Bürger mit offenen Augen durch die Städte - und durch die politische Landschaft - der "erweiterten Bundesrepublik" (dixit post 1990 J.H.) - geht, den kann  schon seit langem - spätestens seit der Ära Merkel - nichts mehr überraschen. (Siehe dazu auch meinen Artikel aus dem Jahr 2022:   https://www.tabularasamagazin.de/zur-aesthetik-des-muells-in-der-hauptstadt-und-anderswo/)

Mittwoch, 10. Juli 2024

Die NS-Ära in einem Ort in Oberbayern

Nachfolgend stelle ich für die Leser/innen meines Blogs die Besprechung eines Buches vor, das, entstanden aus umfangreicher Archivarbeit, die Banalität des Bösen der Nazi-Diktatur am Beispiel des Münchner Vororts Gröbenzell erhellt. Die Rezension erschien soeben auf Globkult.

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Die NS-Ära in einem Vorort von München

An Literatur über die NS-Ära ist wahrhaftig kein Mangel. Gleichwohl verdient in ahistorischer Gegenwart, da die rituellen Beschwörungen des „Nie wieder!“ auf eine gänzlich andere politisch-soziale und kulturelle Wirklichkeit treffen, ein aus umfangreicher Archivarbeit hervorgegangenes Buch Interesse, welches die Realität von damals anhand der Lokalgeschichte eines Ortes in Oberbayern anschaulich macht.

Gröbenzell war seit Anfang des 20. Jahrhunderts als Siedlung, angrenzend an den Münchner Vorort Pasing an der Bahnstrecke nach Bruck (Fürstenfeldbruck) entstanden. Ohne den Status einer selbständigen Gemeinde, verteilten sich um 1930 die ca. 1200 Bewohner auf fünf andere Gemeinden, die Mehrheit gehörten zum Dorf Olching. Ähnlich wie in anderen vor und nach dem I. Weltkrieg in der Nähe großer Industriestädte entstandenen Siedlungen, bestritten die Besitzer der Siedlungshäuser ihren Unterhalt als Arbeiter, Angestellte oder als kleine Selbständige sowie durch intensive Nutzung ihrer auf ehedem unfruchtbarem Moorgebiet erworbenen Grundstücke. Kennzeichnend für die örtlichen Lebensverhältnisse war die Zucht von hörnerlosen Ziegen, für die ein regsamer „Bocksverein“ auf entsprechenden Ausstellungen mehrfach prämiert wurde.

Von den umliegenden katholisch-konservativen Dörfern unterschied sich die traditionslose Siedlung – immerhin gab es eine katholische Kirche - durch die geringe kirchliche Bindung ihrer Bewohner. Hingegen existierte ein reges Vereinsleben, obenan der Interessenverein Gröbenzell (IVG), in dem aktivistische Mitglieder für die Selbständigkeit der Siedlung eintraten.

Zur Erhellung der politischen Ausgangslage - in der Phase relativer Stabilisierung der Weimarer Republik - können die Landtags- und Reichstagswahlen 1924 (Grafik 2, S.33) dienen, als der Völkische Block in Bayern (VBI) fluktuierend zwischen 17,1 und 5,1 Prozent der Stimmen erzielte. (Rainer Probst: Völkischer Block in Bayern (VBl), 1924/25, http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Völkischer_Block_in_Bayern_(VBl),_1924/25) Auf kommunaler Ebene traten anno 1924 SPD und KPD noch gemeinsam als „Linksblock“ siegreich hervor. (S.16, 33)

Bei den Reichstagswahlen am 20.5.1928 kam die NSDAP in Gröbenzell - bei mit 47,4 Prozent ungewöhnlich hohen Stimmenthaltungen - bereits auf über 20 Prozent. (S.21, 33) Als erste am Ort firmierende Partei trat sie am 19. September 1929 nach Gründung in der Bahnhofswirtschaft in Erscheinung. Soziologisch aufschlussreich ist das Personal der frühen Gröbenzeller NSDAP. Zu den Gründern und den kurz danach eingetretenen Aktivisten gehörten - als erster Vorsitzender - ein aus Bamberg zugezogener, frühpensionierter Postsekretär sowie dessen als „SA-Mutter“ gerühmte Ehefrau, der Protagonist der Sezessionisten im IVG, ein Dentist und Obmann des Schachklubs, Alois E. Drexler, der Bruder von Anton Drexler, dem Gründer der Münchner NS-Kernzelle DAP, ein entlassener Polizeioffizier aus Hessen, ein Bildhauer sowie – als Teilnehmer am Hitlerputsch 1923 und „Blutordensträger“ - fünf weitere Nationalsozialisten der ersten Stunde. Als machtgieriger Ortsgruppenleiter fungierte von 1932 bis 1945 der Buchhalter Martin Steger.(S. 32)

Am 14. September 1930 signalisierten die Reichstagswahlen mit 18,3 Prozent der Stimmen den Durchbruch der Hitler-Partei und die Krise der Republik. Deutlich abweichend vom Wahlverhalten sowohl im Bezirk Bruck sowie in der Gemeinde Olching, blieb die konservative Bayerische Volkspartei (BVP) in Gröbenzell mit nur 66 Stimmen (=10,7 %) unter den für das katholische Bayern gewohnten Zahlen. (20) Hingegen feierte die Gröbenzeller NSDAP mit 35,2 Prozent - wenngleich noch mit weniger Stimmen als für die SPD - einen spektakulären Erfolg. Im Krisenjahr 1932 schwankten in der politisch scharf gespaltenen Siedlung die Zahlen für die NSDAP bei Landtags- und Reichstagswahlen zwischen 29,4 und 27,9 Prozent. (S. 32, 29, 30)

Weltwirtschaftskrise, Arbeitslosenziffern, Notstandsküchen und politische Gewalt – nicht nur seitens der Nazis - liegen als Erklärung nahe. Zu Recht rückt der Autor Kurt Lehnstaedt den Evangelischen Verein ins Bild. Dessen Vorsitzender, der Pasinger Stadtvikar Werner Pürckbauer, legte bei seinem ersten Gottesdienst im April 1930 Flugblätter aus, in denen er die Gefahren des Bolschewismus und seitens der KPD beschwor. Den Evangelischen Verein stimmte er mit „Schallplatten aus dem Sowjetparadies mit ihren satanischen Melodien“ ein. (S. 23) Im Herbst 1933 annoncierte der Vorstand des Vereins die Einladung zu einem Vortrag des Vikars über „Die Sendung Adolf Hitlers im Lichte des Evangeliums“ im Schulhaus Gröbenzell. Ob derlei Botschaft auch antisemitische Töne enthielt, geht aus der Darstellung nicht hervor. (S.78)

Bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 – im Gefolge von Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, der „Verordnung zum Schutz des Deutsches Volkes“ (4. Februar 1933) und des Reichstagsbrands - lag die NSDAP in der Münchner Vorortsiedlung zwei Prozent über dem Ergebnis im Reich von 43,9 Prozent. (S.37). Die eigentliche „Machtergreifung“ bestand in der Übertragung der Regierungsgewalt in den Ländern an Reichskommissare, in Bayern an den General Franz von Epp als Generalstaatskommissar. Innenminister wurde der Münchner Gauleiter Adolf Wagner, der Himmler als Münchner Polizeipräsidenten installierte.

Wie im gesamten Reich, exekutierten im Bezirk Bruck die zur „Hilfspolizei“ ernannten SA-Leute die „nationale Revolution“ mit terroristischer Gewalt. Nicht wenige Sozialdemokraten und Kommunisten kamen in „Schutzhaft“ oder landeten im frisch etablierten KZ Dachau. Zu den Opfern gehörte der SPD-Gemeinderat Josef Schäflein, ein Zimmermann. Der SA-Mann, der ihn mit einer Eisenstange zum arbeitsunfähigen Invaliden geprügelt hatte, wurde nach dem Krieg zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt. (S.42)

Die „Gleichschaltung“ begann mit der Verhaftung der bisherigen Amtsträger. Gebrochen von „Schutzhaft“ oder KZ, unterwarfen sich frühere Nazi-Opponenten der Diktatur, andere wählten den Weg der Anpassung bis hin zum Eintritt in die Partei. Mit Ausnahme des Gartenbauvereins, wo der mit einer jüdischen Frau verheiratete, evangelische Schreinermeister Hans Bär bis Herbst 1937 noch als Kassier und Zuchtwart walten konnte (S.38), besetzten im Trachtenverein, in der IVG, in der Freiwilligen Feuerwehr usw. Parteigenossen die Vorstandsposten. Von der KPD organisierter Widerstand im Bezirk Fürstenfeldbruck wurde im Sommer 1934 zerschlagen. Die gleichzeitigen SS-Mordaktionen während der sogenannten Röhm-Affäre erregten in der Gegend offenbar kaum Unruhe. (S.91) Der erwähnte Ex-Polizeioffizier überlebte seine Nähe zu Röhm und machte später bei der SS Karriere. Er fiel Ende 1941 als SS-Brigadeführer bei „Säuberungsaktionen“ gegen Partisanen in der Sowjetunion. (S.166f.)

Bis zum Kriegsbeginn 1939 erlebte die Siedlung einen regelrechten Bauboom mit wachsenden Einwohnerzahlen. Den banalen Alltag akzentuierten Propagandaveranstaltungen, Filme im neu errichteten Kino, nicht zuletzt die ideologisch aufgeladenen Festtage wie „Heldengedenktag“, Hitlers Geburtstag, Maifest, Sonnwendfeier usw. Am 6. November 1938 wurde in der Ortsmitte ein von dem ortsansässigen NS-Bildhauer entworfenes Mahnmal enthüllt, gewidmet „den Toten des Weltkrieges und der Bewegung“. Der große Festakt endete mit einem „kameradschaftlichen Zusammensein“ in der Bahnhofswirtschaft mit Blasmusik, Einlagen von HJ und BDM sowie Schuhplattlern des Trachtenvereins.

Das Mahnmal (Abbildung S.118) erregte den Spott („Teller mit Pudding“) der weniger Gläubigen. Aufschlussreich ist das Kapitel über regimekritisches Verhalten. Was sich in abfälligen Bemerkungen oder in spontanen Ausbrüchen des Unmuts manifestierte, inspirierte zu vielfältiger Denunziation. Bemerkenswert sind dabei die relativ „milden“ Strafurteile, die – zum Teil bis in die ersten Kriegsjahre hinein – von den bereits im März 1933 auf der Grundlage des „Heimtücke“-Gesetzes etablierten Sondergerichten gefällt wurden. Im Oktober 1942 zeigte ein Architekt den staatenlosen Kaufmann Waldemar (Wladimir) Rennenkampf, einen aus der namhaften deutsch-russischen Familie stammenden Emigranten, wegen Defätismus und Schwarzschlachtens an. Der in der Bauplattenproduktion tätige Unternehmer wurde zwar zu 15 Monaten Gefängnis verurteilt, das Verfahren jedoch eingestellt, da Rennenkampf – am Ort ein offenes Geheimnis - als V-Mann der Gestapo fungierte. (S. 145-149)

In erschütternden, sorgfältig recherchierten biographischen Details tritt in dem Kapitel „Ausgeschlossen aus der Volksgemeinschaft“ das Wesen des Nationalsozialismus – die Mischung aus Wahn und „Wissenschaft“, Bürokratie und Verbrechen – hervor. Unter den zahllosen Menschen, die in die Mühlen der „Rassehygiene“ - Sterilisation und Euthanasie - gerieten, sticht das Schicksal einer jungen, aus Düsseldorf stammenden Frau hervor. Die Hausärztin der Familie notierte Verhaltensauffälligkeiten und meldete den „Fall“ dem Amtsarzt des Bezirks, der eine „schwere geistige Störung“ diagnostizierte und die Einweisung in eine Heil- und Pflegeanstalt veranlasste. Die 18jährige Eva Link entging bei mehrfachen Verlegungen der „Aktion T“, wurde aber im Zuge der „wilden Euthanasie“ am 28. Mai 1943 in der Anstalt von Meseritz-Obrawalde getötet. In der bei Posen gelegenen Nervenklinik wurden mehr als 18 000 Menschen ermordet, bevor im Januar 1945 die Rote Armee das Areal besetzte. (S.184)

Der antisemitische Rassenwahn erfasste vier in Gröbenzell ansässige, aus „Mischehen“ hervorgegangene Familien. Dr. Kurt Schroeter, ein international anerkannter Heilpädagoge, emigrierte im Oktober 1937 nach Amsterdam, während seine „arische“ Frau, ausgebildet als Lehrerin, ihren Lebensunterhalt am Ort mit Nachhilfeunterricht, dem Verkauf von Wertgegenständen, Grundstücksteilen und Vermieten bestritt. Anfang 1943 wurde er ins Amsterdamer Ghetto umgesiedelt, Mitte August auf offener Straße verhaftet und am 15. November– unter Assistenz niederländischen Hilfspersonals - nach Auschwitz deportiert. Anfang Januar 1944 wurde sein Name – unter „Nr. 76 Holl. Jude 163397 Schroeter Kurt Isr., geb. 5.3.82“ - auf der Todesliste des Krematoriums registriert.

Im Hause ihres Schwagers Hans Bär suchte im Frühjahr 1939 die zum Katholizismus konvertierte Irma Löwenstein Zuflucht. Sie wurde am 1. April 1940 von zwei SS-Männeren mit einem Spürhund „abgeholt“ und in das bis Anfang Mai 1942 noch bestehende Israelitische Krankenhaus in München gebracht, von wo sie am „5.6.42 nach dem Osten abgeschoben“ wurde. Sie starb am 18. Januar 1943 als eine von 87 Toten auf der Quarantänestation in Theresienstadt. (S.204-6)

Aufschluss über das Verhalten der Bevölkerung während der Kriegsjahre vermitteln die Aufzeichnungen des katholischen Pfarrers Josef Auer. Nach der Kriegswende 1943 demonstrierten nur noch überzeugte Nazis wie der Ortsgruppenleiter Steger heldische Siegeszuversicht. Für das Finale des Dritten Reiches typische Szenen erlebte der Ort gegen Ende April 1945. Während eine versprengte Wehrmachtskohorte - nicht etwa SS-Einheiten – den Pfarrer zwang, eine weiße Fahne vom Kirchturm zu entfernen, gelang es einer mit weißer Fahne ausgerüsteten Gruppe unter Führung des jungen Martin Hatzinger in letzter Minute, den Ort kampflos an die Amerikaner zu übergeben. Nach Kriegsende rankte sich um die nächtliche Aktion Hatzingers - in Unkenntnis seiner NSDAP-Mitgliedschaft machten ihn die Amerikaner nach der Befreiung zum örtlichen Bürgermeister – die Legende, sie sei mit der – am 28. April blutig gescheiterten - Widerstandsgruppe der „Freiheitsaktion Bayern“ (FAB) koordiniert gewesen. (S.247)

Erhellt wird das dunkle Bild der NS-Ära in einem Ort der oberbayerischen Provinz durch wenige Beispiele menschlichen Anstands, auch seitens zweier gemäßigter Nationalsozialisten. Loyalität gegenüber seiner jüdischen Frau bewies der völkisch-nationale Gerhard von Branca, nach Kriegsende aktives Mitglied der CSU. (S. 187f., 195-7, 259). Bei einem der Elendszüge („Todesmärsche“) von Häftlingen des KZ-Außenlagers Kaufering nach Dachau verteilte die Lebensmittelhändlerin Viktoria Kiefl – offenbar ungehindert von den spärlichen SS-Bewachern - Brot an die Häftlinge.

Aus unserer Inhaltsskizze geht die Qualität des Buches – als eine über den lokalen Rahmen weit hinausreichende Geschichtsquelle – hervor. Was das Begriffsklischee vom deutschen „Tätervolk“ betrifft, so leistet das Buch in seiner faktenreichen Präzision einen Beitrag zur Differenzierung hinsichtlich der bedrückenden Wirklichkeit. Die historische Grauzone – die zwischen Einverständnis, Nichtwissenwollen/Verdängung und tatsächlicher Unkenntnis angesiedelten Bewusstseinslagen der Deutschen in den Kriegsjahren – wird indes an der Stelle verlassen, wo der Autor den Holocaust als „gewissermaßen eine Art offenes Geheimnis“ bezeichnet. (S.211)

Kurt Lehnstaedt: Gröbenzell in den Jahren 1933 bis 1945. Die fünfteilige Siedlung im Nationalsozialismus, Volk Verlag München 2015, 296 Seiten


P.S. Der Autor hat mir mitgeteilt, dass es es sich bei dem Trupp, der in der Endphase des Krieges den Pfarrer Auer bedrohte und  zum Einholen der weißen Fahne nötigte,tatsächlich um SS-Leutete handelte.Diese Leute hatten sich mit Wehrmachtsuniformen ausgestattet. Die entsprechende, vom Autor zitierte Passage in dem Originalbericht Auers ist jedoch missverständlich formuliert.
 

Mittwoch, 5. Juni 2024

Der allgrüne Wahl-o-Mat

I.

Die als "Europawahlen" deklarierten Wahlen zu dem - mit fürstlichen Diäten ausgestatteten, ansonsten weitgehend als parlamentarische Staffage fungierenden - EU-Parlament werden in der politisch-medialen Aufbereitung des Themas zum zentralen politischen Ereignis des Jahres 2024 stilisiert. Es geht um das demokratische Bekenntnis aller "Europäer" zu "Europa", abzulesen an der Wahlbeteiligung und dem Abschneiden der "rechten" (verfassungschützerischer Sammelbegriff Nancy Faesers für Nonkonformisten aller Art, für Konservative, Reaktionäre, reale oder imaginierte Faschisten sowie Neonazis) Parteien - nach Ausschluss der AfD aus der demokratisch geläuterten rechten Le Pen-Familie.  

Kritische Fragen zu den Mechanismen und Machtrealitäten - zur Verfassungswirklichkeit der EU - des Brüsseler Apparates werden in derlei Debatten grundsätzlich vermieden. Der zur Wahl aufgerufene "mündige Bürger" in den formal noch souveränen Nationalstaaten ist - soweit nicht "bekennender Europäer" - ratlos, welcher "Parteienfamilie" er sich zuzuordnen habe, wo  er denn sein Kreuz auf der langen Liste machen solle. 

Ginge es nur darum, die Parolen auf den Wahlplakaten für bare Münze zu nehmen, so enthielte immerhin das "Bündnis Deutschland" ein attraktives Wahlversprechen: "Vernunft statt Ideologie". Leider ist mir nicht klar,  wieviel Vernunft in der besagten Splitterpartei herrscht und auf wieviel Vernunft - und Einfluss - sie rechnen könnte.

Als mündiger Bürger und ratsuchender Wähler habe ich auf der "Achse des Guten" das von der Bundeszentrale für politische Bildung ausgearbeitete Ratespiel kommentiert.  https://www.achgut.com/artikel/der_allgruene_wahl_o_mat

II.
Der von der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) ins Netz gestellte „Wahl-O-Mat“ soll laut Eigenwerbung „keine Wahlempfehlung, sondern ein Informationsangebot über Wahlen und Politik“ sein. Bei „Wikipedia“ wird das von der Zentrale präsentierte Instrument politischer Bildung wohlwollend als „Wahlentscheidungshilfe“ – will heißen: eine Art Hilfsapparat für politisch Pflegebedürftige – vorgestellt.

Was ich von dem - von seinen Autoren (sc. -innen) selbst vermutlich als wertebewusst und genuin demokratisch empfundenen -  "Informationsangebot" halte, habe ich bereits anlässlich der Bundestagswahl 2021 einmal verdeutlicht.https://www.achgut.com/artikel/wahlomat_gruen_gefaerbtes_ratespiel Es handelt sich um wenig mehr als um grüne Wahlwerbung. Der in Form von 38 "Thesen" - in der Meinungsforschung auch bekannt als statements  - vorgestellte Fragenkatalog besteht aus nichts anderem als loaded questions, die beim "mündigen Bürger" (sc. der B-in und/oder  - wie im Fragenkatalog als demokratische Grundsatzentscheidung offeriert - B- ohne "Geschlechtseintrag")   a) ein schlechtes Gewissen wecken ("Die EU soll eine eigene Seenotrettung im Mittelmeer aufbauen." Oder auch: "Der Flugzeugtreibstoff Kerosin soll für Flüge in der EU steuerfrei sein.") oder b) eine differenzierende Betrachtung des fraglichen Themas gar nicht erst zulassen: Ja - neutral - Nein. Aliud non datur. Beispiele: "In der EU sollen mehr Flächen als Naturschutzgebiete ausgewiesen werden." "Die zulässige Menge an Fischen, die in EU-Gewässern gefangen werden dürfen, soll gesenkt werden.""Das Erasmus- Stipendium für Auslandsaufenthalte soll für Studierende, die über weniger finanzielle Mittel verfügen [?], höher sein." "Geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen soll europaweit als Asylgrund anerkannt werden." Usw. usw. Nein ("stimme nicht zu") macht den Wahl-o-mat-Spieler AfD-verdächtig.

Ich gestehe, dass folgende "These" mein Urteilsvermögen - mangels Kenntnis der Materie - schlicht überfordert: "Urheberrechtlich geschützte Werke (z.B. Fotos, Musik, Literatur) sollen in der EU für nicht-kommerzielle Zwecke kostenlos verwendet werden dürfen." Was soll da die rot umrahmnte Ermahnung: "Bitte beantworten Sie die Thesen sorgfältig."?

Da die Dinge nicht so einfach sind, wie sie der Wahl-o-Mat - und eben auch die zur Wahl stehenden Parteien - auf  Wahlplakaten, in Talkshows und Fensterreden im Bundestag - suggerieren, bleibt einem "mündigen Bürger" kaum anderes übrig, als die  zur Wahl gestellte "These" abzuweisen, d.h  auf der Liste zu überspringen. Entsprechend antwortete der Wahl-o-mat am Ende des ideologischen Hürdenlaufs  sowie nach meiner Auswahl  (von der CDU/CSU über die Grünen zur AfD, über Sonneborns "Die Partei bis zu Sahra Wagenknecht) der zur "Europawahl" zugelassenen 34 oder 35  Parteien: "Leider kann der Wahl-O-Mat auf der Grundlage Ihres Antwortmusters kein individuelles und zuverlässiges Ergebnis berechnen."

 Ich hatte auch nichts anderes erwartet. Hätte ich gemäß der in die "Thesen" eingespeisten Vorgaben "gewählt", wäre ich ohne Frage bei den Grünen - oder bei den noch grüneren - wenngleich in violetter Farbe Stimmung machenden - Supereuropäern von VOLT gelandet. Als mündiger, auch sprachästhetisch sensibler Bürger kann ich deren urdeutschen Wahlaufruf "Sei kein Arschloch" jedoch nicht so recht goutieren. Ich lasse mich nicht - weder von der durchgrünten BpB noch von VOLT  - ver...

 



 

Samstag, 25. Mai 2024

Zur "Biographie" des Grundgesetzes

I. Vorbemerkung

Vorab empfehle ich zur Einstimmung auf das Thema den am 22. Februar 2024 auf meinem Globkult-Blog erschienenen Aufsatz: https://herbert-ammon.blogspot.com/2024/02/auf-dem-weg-zu-einer-neuen-verfassung.html

Vor dem Hintergrund der großen Feierlichkeiten zum 75jährigen Jubiläum des Grundgesetzes gewinnt danach meine vor fünfzehn Jahren  (H.A.: "Im Namen der Väter", in: Junge Freiheit nr.12/09, S. 25) publizierte Rezension des Buches von Christian Bommarius "Das Grundgesetz. Eine Biographie" neue Aktualität. Der historische Kontext wird in den großen Festreden und Kommentaren zum 23. Mai 1949 zugunsten eines an den amerikanischen "Gründervätern" orientierten bundesrepublikanischen Gründungsmythos ("Mütter und Väter des Grundgesetzes") weithin vernachlässigt.

Hervorzuheben ist in meiner Buchbesprechung die Kritik, dass Bommarius - wie heute, anno 2024, sämtliche gründeutschen Exegeten des Grundgesetzes - die  im Grundrechtskatalog festgehaltene Unterscheidung zwischen allgemeinen Menschenrechten und mit auf  Staatsangehörigkeit beruhenden Bürgerrechten übersieht.

Selbstkritisch würde ich zudem - im Hinblick auf die herausragende Rolle des Supreme Court in den USA  -folgenden Satz  revidieren:  "Zu Recht sieht er im Bundesverfassungsgericht ("das mächtigste Verfassungsgericht der Welt" [ !?]) den Wegbereiter der demokratischen Erfolgsgeschichte."

II. Zur Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes

Im Sommer 1948 demonstrierten in Hannover vor dem niedersächsischen Landtag 1.500 Studenten, die, durch die Währungsreform vom 21. Juni 1948 bargeldlos und von Hunger geplagt, ein Essensgeld forderten. Wenige Tage später erhielt der Protestführer Gerhard Simons einen in Englisch geschriebenen Brief, in dem sein Vater Hans Simons zum Erfolg gratulierte. Danach mündete der Brief in bittere Bemerkungen über die „selbstsüchtigen und engherzigen“ westdeutschen Politiker, die angesichts der deutschen Teilung nur mit Bedenken an die Gründung eines Weststaats gingen. Einen Verfassungsauftrag („Frankfurter Dokumente“) hatten die elf Ministerpräsidenten am 1. Juli von den Militärgouverneuren der drei westlichen Besatzungsmächte Pierre König, Brian H. Robertson und Lucius D. Clay in Frankfurt bekommen. Die Politiker, so Simons, wollten die Chancen der Staatsgründung, Partner im Wiederaufbau und im Kampf gegen den Kommunismus zu werden, nicht sehen. Sie verhielten sich wie ein Mädchen, das zwar wolle, aber sich noch ziere, mit der Garantie, nicht schwanger zu werden.

In der Episode tritt exemplarisch die deutsche Tragödie im 20. Jahrhundert hervor: Gerhard Simons, Batteriechef an der Ostfront, erhielt im August 1944 in der Wolfsschanze aus Hitlers Händen das Ritterkreuz mit Eichenlaub. Sein Großvater Walter Simons, 1919 führendes Mitglied der deutschen Delegation in Versailles, war aus Protest gegen den Vertrag – ein im Buch unerwähntes Detail – von seinem Posten im Auswärtigen Amt zurückgetreten. 1920/21 diente er als parteiloser Außenminister im bürgerlichen Kabinett Konstantin Fehrenbachs (Zentrum), von 1922 bis 1929 als Präsident des Reichsgerichts in Leipzig. Nach einer Begegnung mit Hitler sah der strenggläubige Protestant in ihm den „Retter Deutschlands“.

Der Sohn Hans Simons, religiöser Sozialist, folgte 1925 Theodor Heuss als Leiter der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin. Als Sozialdemokrat kämpfte er gegen den Aufstieg des Nationalsozialismus, zuletzt als Oberpräsident von Niederschlesien. Die Schwester Tula heiratete den Carl-Schmitt-Schüler Ernst-Rudolf Huber, Vater des derzeitigen Bischofs und EKD-Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber. 1935 emigrierte Hans Simons mit Zweitfamilie in die USA. Er kehrte 1947 als Abteilungsleiter der Civil Administration Division der US-Militärregierung nach Deutschland zurück.

Als am 1. September 1948 in der Pädagogischen Akademie zu Bonn der Parlamentarische Rat zusammentrat, fungierte Hans Simons als Leiter des amerikanischen Verbindungsstabs. Ihm zur Seite stand Anthony F. Pabsch, im Zivilleben Chef einer Spedition in Syracuse. Er erläuterte amerikanischen Journalisten die Rolle der alliierten Stäbe: „We observe them, then we cocktail them, dine them und lunch with them.“ Außerdem wurden die Telefone der CDU/CSU und SPD-Abgeordneten abgehört.

Noch eine Woche nach Übergabe der „Frankfurter Dokumente“ hatte ein CDU-Politiker geschrieben, er sehe „mit Sicherheit den Zeitpunkt herankommen, an dem den Deutschen nichts anderes übrigbleibt, als durch Verweigerung der Mitarbeit wenigstens ihre Ehre vor der Nachwelt zu retten.“ Es war Konrad Adenauer. Wenige Wochen später ließ er sich, indem er Carlo Schmid (SPD) den Vorsitz im Hauptausschuß überließ, zum Präsidenten des Parlamentarischen Rates wählen.

Derlei Pointen machen das Buch von Christian Bommarius, leitender Redakteur der Berliner Zeitung, über weite Strecken zur anregenden Lektüre. Anschaulich wird die historische Szenerie der „Stunde Null“: zertrümmerte Städte, Flüchtlingselend, Hunger, Apathie. Im Kontrast dazu steht die Leidenschaft, mit der die Veteranen der Weimarer Republik an den Verfassungsaufbau in den Ländern gingen. Dazu gehörten etwa in Bayern außer Widerstandskämpfern (Josef Müller, CSU) und Emigranten (Wilhelm Hoegner, SPD) Persönlichkeiten wie der mit einer Jüdin verheiratete Bamberger Rechtsanwalt Thomas Dehler (FDP), der Ende 1946 erklärte: „Jeder von uns, der in Deutschland gelebt hat, steckt in Bindungen.“ Eine Reihe von „Vätern“ des Grundgesetzes – die von Bommarius gepflegte Weiheformel „Väter und Mütter“ erweist sich hier als untauglich – hatte 1933 für das Ermächtigungsgesetz gestimmt, an der Spitze Theodor Heuss (FDP). Die Sozialdemokratin Elisabeth Selbert, unbeirrbare NS-Gegnerin, hatte ihre Kanzlei in Kassel in „arisierten“ Räumen eingerichtet.

Auf Elisabeth Selbert, weder Feministin noch sonstwie radikal, geht Artikel 3, Absatz 2 des Grundgesetzes („Männer und Frauen sind gleichberechtigt“) zurück. Der Antrag auf Abschaffung der Todesstrafe, Verfassungsziel der Sozialdemokraten, kam zuerst von ganz rechts, von dem DP-Abgeordneten und späteren Vertriebenenminister Hans-Christoph Seebohm: „Das keimende Leben wird geschützt. Körper- und Leibesstrafen sind verboten. Die Todesstrafe ist abgeschafft.“ Unterstützung bekam der Antrag nur von Heinz Renner (KPD).

Anschaulichkeit, Faktenreichtum, flüssiger Stil gehören zu den Stärken des Buches. Wer sich einen Überblick über Vorgeschichte, Entstehung und prägende Persönlichkeiten des Grundgesetzes – wer kennt etwa noch Namen wie Anton Pfeiffer, Adolf Süsterhenn oder Walter Menzel? – verschaffen will, ist gut bedient. Der Verfasser verfügt über historische Sensibilität. Kritik an der Kollektivschuldthese, die, wie er betont, den Deutschen trotz Franklin D. Roosevelts Verdammungsurteil über den „deutschen Charakter“ nicht von außen auferlegt worden sei, liegt ihm gleichwohl fern. Was auf Dauer stört, ist die Neigung zu hohem Pathos.

Daß Bommarius den Vorrang der Grundrechte über das Staatsprinzip als „kopernikanische Wende“ der deutschen Verfassungsgeschichte feiert, gibt den Grundton des Buches vor. Zu Recht sieht er im Bundesverfassungsgericht („das mächtigste Verfassungsgereicht der Welt“) den Wegbereiter der demokratischen Erfolgsgeschichte. Zu Recht wendet er sich gegen das Parteienmonopol. Er überzieht seine Thesen, indem er übersieht, daß im Grundrechtskatalog zwischen allgemeinen Menschenrechten und deutschen Bürgerrechten unterschieden wird. Unergiebig sind die Schlußkapitel, in denen er zum Lamento über den erneut übermächtig werdenden Staat anhebt, während er an der Selbstherrlichkeit der Brüsseler EU-Kommission nichts auszusetzen hat.

Christian Bommarius: Das Grundgesetz. Eine Biographie. Rowohlt Verlag, Berlin 2009, gebunden, 288 Seiten, Abbildungen, 19,90 Euro

 


Dienstag, 21. Mai 2024

Mein Kommentar zum (ersten) Höcke-Urteil

Das Landgericht  Halle hat den Thüringer AfD-Chef Höcke wegen - realen oder vermeintlichen, da  ganz unschuldig unabsichtlichen - Gebrauchs eines mutmaßlich an Nazi-Emotionen mobilisierenden Appells zu einer Geldstrafe verurteilt, die ausreicht, ihn mit einer Vorstrafe zu belasten. Während seine Verteidiger durch alle Instanzen gehen wollen, ist in Merseburg ein zweites Verfahren wegen desselben Propagandadelikts anhängig. Ob die Gerichtsverfahren Höcke und der AfD - im Kontext weiterer AfD-Skandalnachrichten  - tatsächlich schaden können, wird sich in den anstehenden Wahlen erweisen. Nachfolgend mein Kommentar auf der "Achse des Guten" (Zum Höcke-Urteil, dem Grundrecht der Redefreiheit und seinen Grenzen  – DIE ACHSE DES GUTEN. ACHGUT.COM):

 

Von Politikern und Chorführern (sc. -innen) ist immer wieder zu hören, wir lebten im „freiesten Staat der deutschen Geschichte“ - ein Satz, der Widerspruch ausschließt. Ob aus Absicht oder aus Unwissen, in derlei Rede wird die höchst freiheitliche - an der politischen Wirklichkeit gescheiterte - Verfassung der Weimarer Republik schlichtweg ausgeblendet. Den realen Freiheitsbegriff der Bundesrepublik hat vielmehr - noch als Bundeskanzlerin – Angela Merkel definiert, als sie - ironiefrei oder auch nicht - kundtat, in der Bundesrepublik stehe es jedem frei, seine Meinung zu äußern, er müsse dann aber auch mit Konsequenzen rechnen.

Anders als in den USA, wo der erste Zusatzartikel zur Verfassung ohne jegliche Einschränkung „free speech“ garantiert, sind im Grundgesetz dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit in Art. 5(2) gewisse Schranken – die allgemeinen Gesetze, den Schutz der Jugend und das Persönlichkeitsrecht betreffend – gesetzt. Mit gutem Grund werden seit Gründung der Bundesrepublik vor nunmehr 75 Jahren auch die Glorifizierung, die Verharmlosung sowie die Symbolik der Nazi-Ära strafrechtlich verfolgt. Bereits anno 2021 sind die Gesetze zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Hasskriminalität verschärft worden, was jedoch Innenministerin Nancy Faeser und dem Verfassungsschutzchef Haldewang offenbar noch nicht ausreicht. Künftig soll auch die „Delegitimierung staatlichen Handelns“ indiziert und verfolgt werden. Ein Schelm, dem nicht die Analogie zu „staatsfeindlicher Hetze“ aus DDR-Zeiten in den Sinn kommt...


Realer oder behaupteter Missbrauch der Meinungsfreiheit in politicis – nicht zuletzt in den social media - eröffnet juristischen Auseinandersetzungen ein weites Feld. Welche Seite – Anklage oder Verteidigung – obsiegt, wenn es um die Interpretation inkriminierter Aussagen geht? Bislang konnte man darauf vertrauen, dass unabhängige Gerichte im Streitfall die Meinungsfreiheit großzügig - „innerhalb eines Meinungsstreits noch zulässige Polemik“ - zugunsten des/der Beschuldigten auslegen würden.

Anders liegt die Frage der Meinungs- und Redefreiheit im Fall der Anklage gegen die AfD-Führungsfigur Höcke, der vom Landgericht Halle wegen angeblich bewusster Verwendung einer SA-Parole zu einer Geldstrafe von 13 000 € verurteilt wurde. Höcke, der sich verteidigte, der Nazi-Zusammenhang sei ihm bei seiner rhetorischen Klimax nicht bewusst gewesen, konnte kaum auf Nachsicht des Gerichts – und das Prinzip in dubio pro reo – rechnen. Denn in diesem Fall stand Redefreiheit im Gegensatz zu politischer Notwendigkeit.

Ein grüner Abgeordneter im Landtag von Sachsen-Anhalt hatte, gestützt auf selbst in Fachkreisen kaum geläufige historische Detailkenntnis, Höcke wegen Gebrauchs einer NS-Parole angezeigt. Danach stand das Gericht vor einem kaum auflösbaren Dilemma: Ein Freispruch – sprich: die Anerkennung der von Höcke behaupteten geistigen Unschuld – hätte der AfD zu einem medial wirksamen Propagandacoup verholfen. Es blieb also nur eine Verurteilung. Dass der Richter bereits vor der Urteilsverkündung ankündigte, es werde nur zu einer Geldstrafe, nicht zu einer Gefängnisstrafe kommen, lässt die Deutung zu, dass ihm bei der ganzen Sache nicht recht wohl war.

Höckes Anwalt hat Revision eingelegt und angekündigt, notfalls durch sämtliche Instanzen zu gehen. Das – noch nicht rechtskräftige – Urteil wurde selbst in der linken taz kritisch kommentiert. Höcke und die AfD werden es nutzen, sich vor den anstehenden Wahlen als verfolgte Unschuld darzustellen. Im weiteren Verlauf des Höcke-Verfahrens sowie allgemein des Umgangs mit der AfD wird man sehen, inwieweit sich in Freiheitsfragen die Justiz der Bundesrepublik gegenüber politischem Druck resistent erweist.


 

 


Dienstag, 30. April 2024

Zm 1. Mai sowie zum Zustand des Landes in der Mitte Europas im Frühling 2024

I.
Sankt Petrus meint es gut mit den multikolorierten Revolutionären (und -innen) Berlins zum diesjährigen 1. Mai. Zur Erläuterung für jüngere, von historischem Grundwissen unbelastete  Bundes- und Neubürger ein paar Notizen zur Bedeutung des Tages: 
 
1) Es handelt sich um den im Juli 1889 zu Paris von der ebendort gegründeten II.Internationalen Arbeiterassoziation - sie erlebte in den Augusttagen 1914 ihr historisches Fiasko - proklamierten Gedenk- und Protesttag a) zur Erinnerung an die Opfer des am 1.Mai 1886 - nach einer Bombenexplosion - blutig geendeten Streiks von hauptsächlich deutschen Arbeitern auf dem Chicagoer Heumarkt. Vier der acht als Anarchisten des Bombenanschlags beschuldigten und zum Tode verurteilten Arbeiter wurden gehängt. b) zur allgemeinen Durchsetzung des von den vergebens streikenden Einwanderern geforderten 8-Stunden-Tages.  

Ungeachtet aller in der Arbeiterbewegung gepflegten Erinnerung an das "Haymarket Massacre" kam der 1. Mai in den USA, kapitalistischer Hauptfeind aller Alten und Neuen Linken, historisch nicht zur Geltung. Stattdessen beschloss der US-Kongress - nach entsprechenden Vorläufern in einigen Bundesstaaten - anno 1894, den ersten Montag im September jeden Jahres als arbeitsfeien nationalen Labor Day zu feiern.
 
Über Jahre hin wurden im Deutschen Reich die zum 1. Mai ausgerufenen Streiks und Kundgebungen (in dt. Neusprech "Demos") von den Behörden unterdrückt bzw. niedergeknüppelt. In den Jahren Weimars kam es an den Tagen des "Blutmai" 1929 - nach einem  Demonstrationsverbot des sozialdemokratischen Polizeipräsidenten Zörgiebel - zu blutigen Zusammenstößen zwischen "roten" Arbeitern und der Berliner Polizei. 33 Menschen verloren ihr Leben.  Fortan gehörte der Proletariertod durch "Zörgiebels Polizei" zur Martyrologie und zum Liedgut der KPD. 
 
Zum "Tag der deutschen Arbeit" erstmals zum arbeitsfreien Feiertag erhoben und in der Reichshauptstadt  auf dem Tempelhofer Feld zelebriert wurde das aus vorindustrieller Tradition stammende Frühlingsfest von den Nazis am 1. Mai 1933. Mit Bratwurst und Freibier gewannen die Nationalsozialisten so manchen deutschen Proletarier für ihre Idee von Volksgemeinschaft im Dritten Reich.
 
In der DDR waren die "machtvollen" Demonstrationen zum 1. Mai Pflichtveranstaltungen für die Werktätigen sowie für die - als Avantgarde der Arbeiterklasse zugerechnete -  Intelligenz. Nicht wenige verdrückten sich aus den Demonstrationszügen zum frühest möglichen Zeitpunkt, um sich an den Wurst- und Bierständen bzw. in den wenigen Kneipen zu verlustieren. 
 
2) Schon in Jahren vor dem Mauerfall gehörte Randale am Vorabend und Abend des 1.Mai zur Westberliner Folklore. Seit Jahren begeht die dem Arbeitsleben meist fernstehende "linke Szene", verstärkt durch multikulturelle - und/oder nationalkulturell imprägnierte - Kampfgenossen, zu Berlin - mutmaßlich auch in Hamburg, Leipzig und anderswo  -,  stellvertretend für die im Zuge der Automatisierung, Digitalisierung und Globalisierung weithin soziologisch abhanden gekommene, klassenbewusste Arbeiterklasse, den 1. Mai nach strengem Ritual:  Marschkolonnen mit Transparenten und Parolen gegen den allenthalben anwachsenden Faschismus,  vorneweg (auch mittendrin oder als Nachhut) der Schwarze Block, von Trommeln begleitete, von globaler Erwärmung und Bierkonsum gesteigerte antikapitalistische Kampfeswut, die Steine oder Bierflaschen gegen Schaufenster oder  - trotz online-banking noch bestehende - Bankfilialen fliegen läßt, sodann Böller (made in China), brennende Autoreifen und Mülltonnen, und zum Finale ein Steinhagel auf die mit Schutzschilden ausgestatteten, aus anderen  Bundesländern  herangekarrten Polizisten (ohne P- innen). 
 
Die Kampfszenen vom "revolutionären 1. Mai"  in der "Tagesschau" bereiten manchen von der Idee des  Pluralismus überzeugten Demokraten (und -innen) einiges Unbehagen. Ähnliches gilt bei Wahrnehmung des geeordneten Aufmarsches frommer Neubürger unter Führung eines migrantischen Lehramtskandidaten in Hamburg, derfür das Kalifat als "Lösung" aller Probleme in der bunten Republik kämpft. 
 
3) Am Tag danach, 2. Mai, diesmal im Kalender kein "Brückentag", verkünden die Sprecher/die Sprecherinnen der Polizei und des Senats die Bilanz: "Es gab einige (oder zahlreiche) Festnahmen mit Feststellung der Personalien, gegenüber dem Vorjahr eine höhere - oder niedrigere - Zahl von verletzten Polizisten und Demonstranten, die Schäden liegen über oder unter einer Million €.  Die Stadtreingung ist dabei, die Kampfspuren zu beseitigen." 
 
Wie eingangs gesagt: Petrus meint es gut in diesem Jahr mit den Berliner Revolutionären. Auch die Kneipenbesitzer und die Inhaber von Bierständen dürfen sich auf guten Umsatz freuen.    
 
II.
Mit der Verszeile "April is the cruellest month" eröffnete ich in der zweiten Aprilwoche einen Text auf meinem Blog. (https://herbert-ammon.blogspot.com/2024/04/lesefruchte-und-leseempfehlungen.html). Tatsächlich mochte der nachfolgende,  keineswegs ungewöhnliche Wintereinbruch Klimaskeptikern (a.k.a. „Klimaleugner) für ein paar Tage ein schwaches Argument liefern. Doch ging es T.S. Eliot in the „The Waste Land“ nicht um die unberechenbare Natur, sondern um Selbstreflexion und den geistigen Zustand des Abendlands nach dem Großen Krieg.

Mehr als hundert Jahre nach seiner Entstehung erweist sich das Poem in seinen so düsteren wie bitter-ironischen Passagen im Blick auf die gründeutschen Lande, auf EU-Europa und die Außenwelt als zeitlos aktuell.

Als erstes fällt uns, die schon länger hier leben, das Erscheinungsbild deutscher Großstädte ins Auge: Vermüllte Bürgersteige und Bushaltestellen, „Grafitti“, sprich Schmierereien, allerorten, an frisch getünchten Fassaden, an den Rollläden noch bestehender oder leer stehender Geschäfte, an U-Bahn-Waggons, an Straßenschildern, Briefkästen usw., dazu monokulturell verhüllte Frauengestalten inmittten des multikulturellen Gewoges auf Straßen und Plätzen und eine wachsende Zahl von Obdachlosen in schmuddeligen Schlafsäcken unter Brücken und Unterführungen.

Als nächstes kommen andere Phänomene des politischen Alltags in den Sinn: die Statistiken zu Wirtschaft und Finanzen, zu Demographie und Sicherheit. Mit einem auf knapp über null Prozent geschrumpftem BIP befindet sich Deutschland am unteren Ende der Skala in Europa. Die Infrastruktur (Straßen, Brücken, Schienennetz) liegt darnieder, das flache Land leidet an fehlender Verkehrsanbindung, Ärztemangel u. dergl. Die Staatsschulden liegen mit 2,6 Billionen Euro exorbitant hoch, die deutschen Privatvermögen hingegen niedriger als anderswo. Das Rentensystem ist auf Dauer nicht mehr finanzierbar, die Geburtenquote ist 2023 mit 1,46 Kinder pro gebärfähiger Frau erneut gesunken (erhellend dazu die Cora Stephan: https://www.achgut.com/artikel/babys_sind_der_goldstandard_des_menschenhandels), während die registrierte Zahl der Abtreibungen anno 2023 mit 106 000 gegenüber dem Vorjahr erneut gestiegen ist. Die - um petty crimes bereinigte - Kriminalitätsrate ist seit 2015 zwar gesunken, doch ist eine "neue Gewaltdynamik" (FAZ v. 08.04.2024, S.1) zu verzeichnen, die - um politisch unerwünschte Nachfragen zu vermeiden -  statistisch nicht weiter aufgeschlüsselt wird. 

Ungewissheit überlagert die Große Politik. Wie es im Gaza-Krieg – und danach - weitergehen soll, weiß Israels Ministerpräsident Netanjahu womöglich selbst nicht. Ein Ende des Krieges in der Ukraine ist nicht abzusehen. Besorgnis bereitet die schwindende Widerstandskraft der Ukraine, während Putin eine Sommeroffensive vorbereitet. Damit schwinden von Tag zu Tag Aussichten auf einen Waffenstillstand, der von realen oder vermeintlichen „Putinverstehern“ beschworen wird.

Mehr noch: Wir („Wir“ - der peinlich kollektivistisch , „rechts“ klingende - Titel des Buches unseres Bundespräsidenten), wir, die friedensgewohnten Deutschen, werden von dem - laut Umfragen - populären Verteidigungsminister Pistorius ermahnt, wieder „kriegstüchtig“ zu werden. Ob „wir“ - gemeint ist die Bundesregierung unter Kanzler Scholz – bereit sind, die von Selenskyj geforderten „Taurus“-Raketen zu liefern, um Putins Sieg zu verhindern, hängt nicht von „uns“, sondern vom politisch-strategischen Kalkül der westlichen Führungsmacht USA und unserer Nato—Verbündeten ab. Immerhin gibt es auch in und außerhalb der Ampelregierung hinreichend Befürworter einer – naturgemäß als defensiv deklarierten - Eskalation der Kriegstechniken zum Schutz der Ukraine. Wie reagiert der Westen, wenn sich der militärische Zusammenbruch der – in Teilen kriegsmüden - Ukraine abzeichnen sollte?

Kurz: Zu Frohsinn besteht in diesen schönen Frühlingstagen wenig Anlass. Was den Missmut befördert, sind die wie stets auf Kritiklosigkeit des Wahlvolks zielenden Plakate der Parteien zur Europa-Wahl im Juni. Die Banalität der Slogans (SPD: „Mitte, Maß und Frieden“; "In Stadt und Land - und Wir-Gefühl" (sic!) Grüne: „Klima schützen, Wirtschaft stärken“; CDU: „Europa braucht dich“, FDP mit Konterfei von Strack-Zimmermann: „Europas Rückgrat“ usw.) soll über die Fehlentscheidungen, Unterlassungen und Anmaßungen deutscher Politik seit der Ära Merkel –  Nährstoff der „in Teilen rechtsextremen“ AfD - hinwegtäuschen. In zentralen Fragen – obenan Migration, Energiegewinnung, innere und äußere Sicherheit – hat die etablierte Politik seit langem an Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft verloren.

Last but not least geht es um den Kern der immer deutlicher werdenden Misere. Ungeachtet des historischen Glücksfalls der Wiedervereinigung fehlt es der deutschen res publica – entgegen aller Betonuung „unserer Werte“ - an innerer Substanz. Sinnfällig wurde die geistige Leere der Bundesrepublik beim jüngsten Staatsbesuch des Bundespräsidenten, als er dem türkischen Präsidenten Erdogan als Gastgeschenk einen gefrorenen Dönerspieß überreichte. Dass sich hierzulande niemand über diese peinliche Geste mokierte, bestätigt nur das Bild – das beschädigte Selbstbild - eines waste land.

So führt jegliche Betrachtung der deutschen Gegenwart auf den von Deutschen inszenierten „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) im Zweiten Weltkrieg zurück, der wiederum – von seinen tiefliegenden ideologischen Wurzeln abgesehen – aus der europäischen Urkatastophe des Ersten Weltkriegs hervorging. Im Zeichen der jüngsten ideologischen Mode der decolonization, die – bittere Ironie – de facto in der radikalen Kriminalisierung der neuzeitlichen Geschichte Europas die geschichtliche Einzigartigkeit der Nazi-Verbrechen relativiert, ist nicht zu hoffen, dass es noch zu einer Regeneration des „öden Landes“ in der Mitte Europas kommen könnte. In den Bologna-Universitäten Westeuropas und in den deutschen Feuilletons vertrocknet alles, was nicht lila-grün-wokem Saatgut entsprungen ist.

 

 

Siehe auch: https://www.achgut.com/artikel/am_ende_des_deutschen_april

Montag, 8. April 2024

Lesefrüchte und Leseempfehlungen im April

"April is the cruellest month" heißt es bei Chaucer und T.S. Eliot. Zumindest für die Natur trifft das Dichterwort im gründeutschen Lande in diesenTagen nicht zu. Denn erfreulich anzusehen ist das zarte Grün der Parks und die Blütenpracht in den Obstgärten. 

Wenig Freude hingegen bereitet der morgendliche Streifgang durch Zeitung und Internet. Ein Ende des Gaza-Krieges ist so wenig abzusehen wie ein Ende des Ukraine-Krieges. "Einfrieren", Verhandlungen mit Aggressor Putin oder mehr Geld und "deutsche" Waffen (und Ausbilder), damit Putin "nicht gewinnen" darf, wenn schon ein Sieg der Ukraine nicht mehr in Aussicht steht? Trifft die in den Medien vermittelte Stimmungslage in den USA zu, so steht im November 2024 wieder Trump vor der Tür des Weißen Hauses. Dann wird es für die "Europäer" - gemeint sind "wir Deutsche" - richtig teuer. Nur weiß man nichts Genaues, etwa wem die angeblich wahlentscheidenden Frauen in den Suburbs der "swing states" den Vorzug geben - dem senilen Biden oder dem noch rüstigen Macho Trump? - oder ob die Demokraten die von ihnen abgefallenen weißen Arbeiter zurückgewinnen können. 

Noch leben wir nicht in dem T.S. Eliot vor hundert Jahren beschriebenen "öden Land". Gleichwohl: Die Statistiken zu Wirtschaft und Finanzen, zu Demographie und Sicherheit sehen nicht rosig aus. In Europa befindet sich Deutschland mit dem schrumpfenden BIP am unteren Ende, die Infrastruktur (Straßen, Brücken, Schienennetz) liegt darnieder, die Staatsschulden liegen mit 2,6 Billionen Euro exorbitant hoch, die deutschen Privatvermögen niedriger als anderswo, das Rentensystem ist auf Dauer nicht mehr finanzierbar, die Geburtenquote ist 2023 mit 1,46 Kinder pro gebärfähiger Frau erneut gesunken (zum Thema "Kind als Luxusgegenstand"  siehe die Rezension von Cora Stephan: https://www.achgut.com/artikel/babys_sind_der_goldstandard_des_menschenhandels), die - um petty crimes bereinigte - Kriminalitätsrate ist seit 2015 zwar gesunken, doch ist eine "neue Gewaltdynamik" (FAZ v. 08.04.2024, S.1) zu verzeichnen, die - um politisch unerwünschte Nachfragen zu vermeiden -  statistisch lieber nicht weiter aufgeschlüsselt wird. 

Aufgehellt wird die Mißstimmung eines lesenden Bürgers durch die süßsauren Kommentare in den "Leitmedien" zum 80. Geburtstag von Gerhard Schröder, der zu Zeiten seiner Regierungsjahre  nicht nur durch flotte Sprüche für  gute Laune sorgte. Ich empfehle Roland Tichys Laudatio auf  den Jubilar Schröder auf "Tichys Einblick". Daraus folgendes Zitat: "Gegen den Apparat der SPD von gestern und der sektiererhaft triumphierenden Grünen hat Schröder Deutschland viele gute Jahre gesichert, sich selbst auch. Was wäre geschehen, wenn er [2005] ein paar Wählerstimmen mehr gewonnen hätte? Merkel wäre Deutschland erspart geblieben – schon das eine vertane historische Chance." https://www.tichyseinblick.de/meinungen/gerhard-schroeder-80-geburtstag/

Meinem Blog-Publikum empfehle ich zudem -  nicht zu Erheiterung - meinen jetzt auch auf "Globkult" https://www.globkult.de/politik/deutschland/2357-der-kampf-um-begriffe-und-die-verfassung erschienenen "Achse-des-Guten"-Aufsatz zum Umgang Haldenwangs und anderer Verfassungsschützer mit dem im Grundgesetz fixierten Begriff "deutsches Volk". Man soll sich ja nicht selbst zitieren, aber trotzdem: "Der von links-progressiver Seite propagierte, politisch beliebige Volksbegriff ist nicht nur ahistorisch, sondern zielt evident am Selbstbewusstsein der ›neuen Deutschen‹ vorbei. Die Veränderung der Gesellschaft im Zeichen von ›Multikultur‹ und/oder unter den – in sich widersprüchlichen Leitbildern von ›Vielfalt‹ hier und ›Identität‹ dort (diversity vs. identity) – führt entgegen aller Intention dazu, dass in der ›demokratisch‹ deklarierten politischen Sozialisation der NS-Bezug an Relevanz verliert. Sichtbar und lautstark hörbar wurde diese Negativkonsequenz für das am Gegenbild des Nazi-Regimes orientierte nationale – zugleich postnationale – Selbstbild der Bundesrepublik in den antiisraelischen – und antisemitischen – Parolen (›Free Palestine From German Guilt‹) auf den Demonstrationen im Gefolge des Gaza-Krieges."

Mittwoch, 3. April 2024

Wer schützt die deutsche Sprache vor dem Verfassungsschützer?

Dass "in der Nachkriegsgeschichte die Demokratie in unserem Land selten so in Gefahr [war] wie heute", verkündet Thomas Haldenwang unter der Rubrik "Fremde Federn" in der FAZ vom 2. April 2024, S. 10. Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) gehört unter den politischen Beamten der Bundesrepublik zu einer jüngeren Generation, für die die höchst reale Bedrohung der Nachkriegsdemokratie durch den Terrorismus der RAF offenbar nur noch eine ferne historische Episode darstellt. 

Namen von Personen und Gruppen, von denen die heutigen Gefahren für "die Demokratie in unserem Land" ausgehen, nennt der Autor nicht. Stattdessen konstatiert er, dass "die Zahl der Extremisten und das Extremismuspotential seit Jahren [steigen]. Digitalisierung  und Virtualisierung helfen einschlägigen Organisationen und Akteuren bei der Verbereitung ihrer gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Ideologien und von hasserfüllter Hetze." Im folgenden wird er konkreter: "Die zu Jahresbeginn bekannt gewordenen Vernetzungstreffen zwischen Rechtsextremisten  und Teilen der gesellschaftlichen Mitte (sic!) belegen Entgrenzungsprozesse, vor denen das BfV zuvor schon gewarnt hatte." 

Gemeint ist das Potsdamer "Geheimtreffen" im November 2023 von AfDlern und Mitgliedern der - damals noch innerhalb der CDU existierenden - "Werteunion".  In all der Aufregung über den dort von demokratisch wachsamen Investigativjournalisten mit- oder abgehörten Plan zur "Massendeportation" von Staatsangehörigen nichtdeutscher Herkunft wurde nie gefragt, warum die verfassungsfeindliche Zusammenkunft erst ca. sechs Wochen nach dem eigentlichen Treffen von den  Journalisten des staatlich geförderten Portals "Correctiv" ans Licht gebracht wurde.

Haldenwangs Artikel ist übertitelt "Meinungsfreiheit ist kein Freibrief". Darin proklamiert er, "um unmissverständlich klarzustellen: In Deutschland herrscht Meinungsfreiheit - und das ist gut so!" Die Meinungsfreheit im Grundgesetz schütze "selbst anstößige, absurde und radikale Meinungen". "Meinungsfreiheit und Diskurs" seien  "nämlich das, was eine Demokratie von einer Autokratie oder Diktatur mit ihrem staatlich vorgegebenen propagandistischen Einheitsbrei unterscheidet." Dass auch im  - vor allem im öffentlich-rechtlichen - Medienbetrieb der Bundesrepublik meist nur politischer Einheitsbrei angeboten wird, scheint dem Geschmackssinn - und dem Sprachstil - des obersten Verfassungsschützers besser zu entsprechen. 

Laut Art. 5(2) GG finden die Freiheitsrechte (Meinungs- und Pressefreiheit, Freiheit der Kunst und der Wissenschaft) "ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre." Kraft seines Amtes versteht sich Haldenwang zu einer eigenständigen Auslegung des Verfassungsartikels berufen: Meinungsäußerungen können "auch unterhalb ihrer strafrechtlichen Grenzen und unbeschadet ihrer Legalität verfassungsrechtlich von Belang sein." Aufgabe seines Amtes sei, in Meinungsäußerungen "tatsächliche Anhaltspunkte" von "verfassungsschutzrechtlicher Relevanz" aufzuspüren, unabhängig davon, "ob diese strafbar oder illegal sind."

Was für Anhaltspunkte er im Auge hat, erläutert Haldewang in einem Endlossatz:  "Wenn beispielsweise Bestandteile unserer freiheitlichen Grundordnung attackiert werden, zum Beispiel die Menschenwürde von Angehörigen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen oder politischer Akteure verletzt wird, wenn zulässige Kritik und demokratischer Protest in Teilen umschlägt, eskaliert und zu aggressiver, systematischer Delegitimierung staatlichen Handelns wird bis hin zu Gewaltaufrufen, wenn an sich legitime  Kritik und Meinungen in extremistische Agitation umschlagen, die die Grundfesten unserer demokratischen Ordnung erschüttern sollen und so den Boden für unfriedliche und gewalttätige Aktivitäten bereiten können, können solche Äußerungen Belege für gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen darstellen." 

Spätestens an dieser Stelle des Haldenwang-Aufsatzes würde jeder Deutschlehrer wutentbrannt den Rotstift ansetzen und ihn mit zig Ausrufe- und Fragezeichen garnieren. Haldenwangs zu Papier gebrachter Kreuzzug gegen reale und imaginierte Verfassungsfeinde scheitert bereits an der Syntax, nicht allein am Stil.   Dass bei Haldenwangs Kampf gegen "systematische Delegitimierung staatlichen Handelns" demokratische Grundprinzipien auf der Strecke bleiben, hat unlängst Henryk Broder auf der "Achse" verdeutlicht.https://www.achgut.com/artikel/kein_freibrief_von_haldenwang. (Siehe auch:https://www.tichyseinblick.de/daili-es-sentials/tichys-einblick-04-2024-angriff-auf-die-verfassung) Für mich geht es um eine ästhetische - im Hinblick auf den Gender-Unsinn auch politische - Grundsatzfrage: Wer schützt die deutsche Sprache vor dem Verfassungsschützer Haldenwang?