Samstag, 25. Mai 2024

Zur "Biographie" des Grundgesetzes

I. Vorbemerkung

Vorab empfehle ich zur Einstimmung auf das Thema den am 22. Februar 2024 auf meinem Globkult-Blog erschienenen Aufsatz: https://herbert-ammon.blogspot.com/2024/02/auf-dem-weg-zu-einer-neuen-verfassung.html

Vor dem Hintergrund der großen Feierlichkeiten zum 75jährigen Jubiläum des Grundgesetzes gewinnt danach meine vor fünfzehn Jahren  (H.A.: "Im Namen der Väter", in: Junge Freiheit nr.12/09, S. 25) publizierte Rezension des Buches von Christian Bommarius "Das Grundgesetz. Eine Biographie" neue Aktualität. Der historische Kontext wird in den großen Festreden und Kommentaren zum 23. Mai 1949 zugunsten eines an den amerikanischen "Gründervätern" orientierten bundesrepublikanischen Gründungsmythos ("Mütter und Väter des Grundgesetzes") weithin vernachlässigt.

Hervorzuheben ist in meiner Buchbesprechung die Kritik, dass Bommarius - wie heute, anno 2024, sämtliche gründeutschen Exegeten des Grundgesetzes - die  im Grundrechtskatalog festgehaltene Unterscheidung zwischen allgemeinen Menschenrechten und mit auf  Staatsangehörigkeit beruhenden Bürgerrechten übersieht.

Selbstkritisch würde ich zudem - im Hinblick auf die herausragende Rolle des Supreme Court in den USA  -folgenden Satz  revidieren:  "Zu Recht sieht er im Bundesverfassungsgericht ("das mächtigste Verfassungsgericht der Welt" [ !?]) den Wegbereiter der demokratischen Erfolgsgeschichte."

II. Zur Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes

Im Sommer 1948 demonstrierten in Hannover vor dem niedersächsischen Landtag 1.500 Studenten, die, durch die Währungsreform vom 21. Juni 1948 bargeldlos und von Hunger geplagt, ein Essensgeld forderten. Wenige Tage später erhielt der Protestführer Gerhard Simons einen in Englisch geschriebenen Brief, in dem sein Vater Hans Simons zum Erfolg gratulierte. Danach mündete der Brief in bittere Bemerkungen über die „selbstsüchtigen und engherzigen“ westdeutschen Politiker, die angesichts der deutschen Teilung nur mit Bedenken an die Gründung eines Weststaats gingen. Einen Verfassungsauftrag („Frankfurter Dokumente“) hatten die elf Ministerpräsidenten am 1. Juli von den Militärgouverneuren der drei westlichen Besatzungsmächte Pierre König, Brian H. Robertson und Lucius D. Clay in Frankfurt bekommen. Die Politiker, so Simons, wollten die Chancen der Staatsgründung, Partner im Wiederaufbau und im Kampf gegen den Kommunismus zu werden, nicht sehen. Sie verhielten sich wie ein Mädchen, das zwar wolle, aber sich noch ziere, mit der Garantie, nicht schwanger zu werden.

In der Episode tritt exemplarisch die deutsche Tragödie im 20. Jahrhundert hervor: Gerhard Simons, Batteriechef an der Ostfront, erhielt im August 1944 in der Wolfsschanze aus Hitlers Händen das Ritterkreuz mit Eichenlaub. Sein Großvater Walter Simons, 1919 führendes Mitglied der deutschen Delegation in Versailles, war aus Protest gegen den Vertrag – ein im Buch unerwähntes Detail – von seinem Posten im Auswärtigen Amt zurückgetreten. 1920/21 diente er als parteiloser Außenminister im bürgerlichen Kabinett Konstantin Fehrenbachs (Zentrum), von 1922 bis 1929 als Präsident des Reichsgerichts in Leipzig. Nach einer Begegnung mit Hitler sah der strenggläubige Protestant in ihm den „Retter Deutschlands“.

Der Sohn Hans Simons, religiöser Sozialist, folgte 1925 Theodor Heuss als Leiter der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin. Als Sozialdemokrat kämpfte er gegen den Aufstieg des Nationalsozialismus, zuletzt als Oberpräsident von Niederschlesien. Die Schwester Tula heiratete den Carl-Schmitt-Schüler Ernst-Rudolf Huber, Vater des derzeitigen Bischofs und EKD-Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber. 1935 emigrierte Hans Simons mit Zweitfamilie in die USA. Er kehrte 1947 als Abteilungsleiter der Civil Administration Division der US-Militärregierung nach Deutschland zurück.

Als am 1. September 1948 in der Pädagogischen Akademie zu Bonn der Parlamentarische Rat zusammentrat, fungierte Hans Simons als Leiter des amerikanischen Verbindungsstabs. Ihm zur Seite stand Anthony F. Pabsch, im Zivilleben Chef einer Spedition in Syracuse. Er erläuterte amerikanischen Journalisten die Rolle der alliierten Stäbe: „We observe them, then we cocktail them, dine them und lunch with them.“ Außerdem wurden die Telefone der CDU/CSU und SPD-Abgeordneten abgehört.

Noch eine Woche nach Übergabe der „Frankfurter Dokumente“ hatte ein CDU-Politiker geschrieben, er sehe „mit Sicherheit den Zeitpunkt herankommen, an dem den Deutschen nichts anderes übrigbleibt, als durch Verweigerung der Mitarbeit wenigstens ihre Ehre vor der Nachwelt zu retten.“ Es war Konrad Adenauer. Wenige Wochen später ließ er sich, indem er Carlo Schmid (SPD) den Vorsitz im Hauptausschuß überließ, zum Präsidenten des Parlamentarischen Rates wählen.

Derlei Pointen machen das Buch von Christian Bommarius, leitender Redakteur der Berliner Zeitung, über weite Strecken zur anregenden Lektüre. Anschaulich wird die historische Szenerie der „Stunde Null“: zertrümmerte Städte, Flüchtlingselend, Hunger, Apathie. Im Kontrast dazu steht die Leidenschaft, mit der die Veteranen der Weimarer Republik an den Verfassungsaufbau in den Ländern gingen. Dazu gehörten etwa in Bayern außer Widerstandskämpfern (Josef Müller, CSU) und Emigranten (Wilhelm Hoegner, SPD) Persönlichkeiten wie der mit einer Jüdin verheiratete Bamberger Rechtsanwalt Thomas Dehler (FDP), der Ende 1946 erklärte: „Jeder von uns, der in Deutschland gelebt hat, steckt in Bindungen.“ Eine Reihe von „Vätern“ des Grundgesetzes – die von Bommarius gepflegte Weiheformel „Väter und Mütter“ erweist sich hier als untauglich – hatte 1933 für das Ermächtigungsgesetz gestimmt, an der Spitze Theodor Heuss (FDP). Die Sozialdemokratin Elisabeth Selbert, unbeirrbare NS-Gegnerin, hatte ihre Kanzlei in Kassel in „arisierten“ Räumen eingerichtet.

Auf Elisabeth Selbert, weder Feministin noch sonstwie radikal, geht Artikel 3, Absatz 2 des Grundgesetzes („Männer und Frauen sind gleichberechtigt“) zurück. Der Antrag auf Abschaffung der Todesstrafe, Verfassungsziel der Sozialdemokraten, kam zuerst von ganz rechts, von dem DP-Abgeordneten und späteren Vertriebenenminister Hans-Christoph Seebohm: „Das keimende Leben wird geschützt. Körper- und Leibesstrafen sind verboten. Die Todesstrafe ist abgeschafft.“ Unterstützung bekam der Antrag nur von Heinz Renner (KPD).

Anschaulichkeit, Faktenreichtum, flüssiger Stil gehören zu den Stärken des Buches. Wer sich einen Überblick über Vorgeschichte, Entstehung und prägende Persönlichkeiten des Grundgesetzes – wer kennt etwa noch Namen wie Anton Pfeiffer, Adolf Süsterhenn oder Walter Menzel? – verschaffen will, ist gut bedient. Der Verfasser verfügt über historische Sensibilität. Kritik an der Kollektivschuldthese, die, wie er betont, den Deutschen trotz Franklin D. Roosevelts Verdammungsurteil über den „deutschen Charakter“ nicht von außen auferlegt worden sei, liegt ihm gleichwohl fern. Was auf Dauer stört, ist die Neigung zu hohem Pathos.

Daß Bommarius den Vorrang der Grundrechte über das Staatsprinzip als „kopernikanische Wende“ der deutschen Verfassungsgeschichte feiert, gibt den Grundton des Buches vor. Zu Recht sieht er im Bundesverfassungsgericht („das mächtigste Verfassungsgereicht der Welt“) den Wegbereiter der demokratischen Erfolgsgeschichte. Zu Recht wendet er sich gegen das Parteienmonopol. Er überzieht seine Thesen, indem er übersieht, daß im Grundrechtskatalog zwischen allgemeinen Menschenrechten und deutschen Bürgerrechten unterschieden wird. Unergiebig sind die Schlußkapitel, in denen er zum Lamento über den erneut übermächtig werdenden Staat anhebt, während er an der Selbstherrlichkeit der Brüsseler EU-Kommission nichts auszusetzen hat.

Christian Bommarius: Das Grundgesetz. Eine Biographie. Rowohlt Verlag, Berlin 2009, gebunden, 288 Seiten, Abbildungen, 19,90 Euro

 


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