Die Begriffe stehen unerschütterlich. Andernfalls müssten Verfassungsschützer ihr Instrumentarium ausmustern und sich nach geeigneteren Kategorien zur Darstellung der politischen Wirklichkeit umtun. Allerdings kommt den Hütern der bundesdeutschen Wohlanständigkeit noch immer der Umstand zu Hilfe, dass fast alle, die sich für moralisch und historisch für gut oder besser halten, sich als „links“ bezeichnen, und dass es hinreichend Leute gibt, die sich – ungeachtet des haut gout des Begriffs - in kämpferischer Attitüde als „Rechte“ bekennen.
Am historisch tief verwurzelten und immer wieder aufkeimenden Antisemitismus geraten die Kategorien durcheinander: War und ist Judenfeindschaft – in unvorstellbar mörderischer Ausprägung im Nationalsozialismus – ein ausschließlich rechtes Phänomen oder kehrt alter Judenhass heute in neuer Gestalt als linker Antisemitismus wieder? Der Lackmustest für heutige „Linke“ und „Rechte“ ist ihre Einstellung zu Israel.
Wie verträgt sich das linke Bekenntnis zu grenzenlosem Universalismus mit der „separatistischen“, auf jüdische Identität und Selbstbehauptung in feindlicher Umwelt gegründeten Idee des Zionismus? Ist die mit ihrer Hilfs- und Friedensmission für die Palästinenser im Gazastreifen an Netanyahu gescheiterte Klimaretterin Greta Thunberg noch immer eine Ikone der westlichen Linken oder findet sie neuerdings ihre Sympathisanten hauptsächlich bei Antisemiten auf der Rechten?
Traditionslinien eines linken Antisemitismus
Eine tiefgründige Analyse des „modernen“ Antisemitismus – ein Bündel aus nachwirkend religiösen und säkularen Motiven, die Mixtur aus dem Sozialneid der Plebs und dem Ressentiment der alten Eliten - ist hier nicht zu leisten. Von Konservativen wie von selbstkritischen Linken wird auf die lange Traditionslinie eines „linken“ Antisemitismus verwiesen. Sie führt zurück auf Voltaires Attacken auf den deistischer Vernunft entgegenstehenden Gott der Juden. Antisemitisch klingt in der Frühschrift „Bruno Bauer und die Judenfrage“ Karl Marx mit seiner dialektischen Proklamation der „Befreiung der Juden vom Schacher“. Der Erfinder des Begriffs „Antisemitismus“ war der linksradikale 1848er Demokrat Wilhelm Marr. Antikapitalistisch eingefärbte Judenfeindschaft - „der Sozialismus der dummen Kerls“ (August Bebel) - ist bei Pierre-Joseph Proudhon sowie – mit Ausnahme der Saint-Simonisten (wiederum ausgenommen der zeitweilige Saint-Simonist Richard Wagner) - bei diversen sozialistischen Strömungen anzutreffen. Im Anarchismus des Revolutionärs Michail Bakunin verschmolzen Antigermanismus, Panslawismus und Antisemitismus zu einem ideologischen Amalgam. Nicht zuletzt kam Ende der 1940er Jahre der Antisemitismus bei Joseph Stalin, kurz zuvor noch Unterstützer der Staatsgründung Israels, zum Vorschein.
In der antiimperialistischen Befreiungsideologie von „1968“ trat – in der Abkehr von linken Sympathien für den sozialistischen Zionismus - seit dem Sechstage-Krieg von 1967 ein unverkennbar antisemitisches Element zutage. Es eklatierte in dem am 9. November 1969 von der Berliner „Tupamaro“-Gruppe unternommenen Versuch, mit einem Brandanschlag auf die Synagoge in der Fasanenstraße den „deutschen Judenknacks“ - so der radikal linke Kommunarde Dieter Kunzelmann als Anstifter des Unternehmens - revolutionär zu überwinden. Die neulinken Terroristen der RAF begaben sich in den Nahen Osten, um in den Lagern der PLO die Techniken des revolutionären Kampfes zu erlernen.
Im decolonialism zerfließt die Scheidelinie
Zu den politischen Paradoxien oder Absurditäten der Gegenwart gehört die von vermeintlich linken Sachwaltern der Aufklärung propagierte Ideologie des Islamogauchisme. Vor dem Hintergrund des Gazakrieges spielen sich in deutschen Städten mit vor Jahren noch unvorstellbare Szenen („Juden ins Gas!“) ab. In der medialen Aufbereitung des Geschehens wird betont, dass bei den von Migrantengruppen inszenierten Anti-Israel-Demonstrationen sowohl radikale („woke“) Linke (mit Parolen wie „Queers for Palestine“) als auch – wenn auch äußerlich schwer erkennbar – auch Rechtsextreme vertreten seien. Immerhin waren die jüngsten gewaltsamen Aktionen an den Berliner Universitäten ausschließlich das Werk von migrantischen Aktivisten und indigenen Linksradikalen.
Die von progressiven Linken lange beliebte Formel, Kritik an Israel müsse „erlaubt“ sein, Israelkritik sei grundverschieden von Antisemitismus, hatte bereits nach dem – spätestens im Juli 2000 und nicht zuletzt an Arafat gescheiterten - Oslo-Abkommen an Überzeugungskraft verloren. Welche Seite trägt die Hauptschuld am Scheitern des stets ungewissen Friedensprozesses? Ob die unter Netanyahu forcierte Siedlungspolitik der Israelis auf der Westbank die Chancen für eine tragfähige – von westlichen Regierungen bis heute verfochtene – Zwei-Staaten-Lösung dauerhaft verhindert hat, erweist sich seit dem Hamas-Massaker am 7. Oktober 2023 zusehends als hypothetische Frage.
Angesichts des herrschenden Szenarios von Gewalt, Zerstörung und Tod kommt ein ehedem kaum bekanntes Projekt in den Sinn, das während der ersten Amtszeit Donald Trumps dessen Schwiegersohn Jared Kushner ersonnen hatte. Es sah einen entmilitarisierten Palästinenserstaat vor, der aus dem – durch leicht veränderten - Territorium der Westbank und dem mit einer exterritorialen Brücke (oder einem Tunnel) verbundenen Gazastreifen entstehen sollte. Kushners Idee mag schon damals realitätsfern gewesen sein, aber war sie „rechts“ oder „links“?
Welcher westliche Linke verfügte je über ein vernünftiges und praktikables Konzept zur Befriedung der Konfliktregion? Stattdessen erlebt im Zeichen der linksprogressiven BDS-Boykott-Bewegung gegen den „Apartheid-Staat“ Israel und der decolonialist theory die alte neulinke, Befreiungsideologie eine Neuauflage. Die Kampfrufe „Free Palestine“, zugespitzt in „From the River to the Sea“, zielen auf die Beseitigung des jüdischen Staates. Damit zerfließt aber die von westlichen Linken behaupteten Scheidelinie zwischen Antizionismus und Antisemitismus.
Parolen, Psychologie und politische Gegenwart
Mit der Parole „Free Palestine from German guilt!“ bringen die palästinensischen Organisatoren der Demonstrationen provokativ ein – auch auf der sich als antifaschistisch und historisch unbefleckt Antifaschisten verstehenden Linken wirksames - psychologisches Motiv ins Spiel. Es handelt sich um nichts anderes als die propagandistische Anverwandlung des im rechten Umfeld der AfD geläufigen Kampfbegriffs des „deutschen Schuldkults“. Die Korrelation ist eindeutig.
Viel weniger eindeutig ist die bei - zielgerichteten – Umfragen diagnostizierte Verbreitung antisemitischer Sentiments in der autochthonen Bevölkerung. Politisch unerwünscht ist die offenkundige Tatsache, dass Jsraelhass und Judenfeindschaft heute in erster Linie in den muslimischen Einwanderungsgruppen anzutreffen ist. Nicht zufällig werden die entsprechenden Äußerungen aus dem Munde migrantischer role models wie Sawsan Chebli (ehedem stellvertretende Sprecherin im AA, sodann Staatssekretärin im Berliner Senat) nur in den sozialen Medien kolportiert.
Bezüglich der vielen Stationen des Nahostkonflikts taugt zu dessen Erklärung nur die resignative Formel „tempi passati“. Die Gegenwart steht im Zeichen von Kontroversen auf der politischen Bühne, die das bequeme Links-Rechts-Schema aufbrechen. Die progressive Linke übt sich in Solidarität mit Palästina und sieht sich dabei genötigt, "linke" Grenzüberschreitungen zu vermeiden. Die rechte - von Verfassungsschützern als "in Teilen rechtsextrem" klassifizierte - AfD kämpft - rhetorisch und/oder taktisch - mehrheitlich mit und für Israel.
Aus der „Mitte“ heraus, genauer: seitens der - die „demokratische Mitte der Gesellschaft“ repräsentierenden - Bundesregierung, proklamiert Bundeskanzler Merz, Israel erledige für uns alle „die Drecksarbeit“, verkündet sodann ein (partielles) Waffenembargo gegen Israel wegen dessen Vorgehen im Gazakrieg. Außenminister Wadephul will die deutsche Staatsräson in Bezug auf Israel von verordneter „Zwangssolidarität“ geschieden wissen. Aus den in derlei Worten und Taten enthaltenen Widersprüchen mögen – geeint in beidseitiger Aversion gegen Israels so glasklare wie risikoreiche Staatsräson - „Linke“ oder „Rechte“ Honig saugen.
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