I.
Der Deutsche Bundestag, sonst um große Gesten nicht verlegen, verzichtete gestern - aus offenkundig tagespolitischen Gründen - auf eine offizielle Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag des 22. Juni 1941. Es war das Datum, an dem Hitler den Krieg gegen die Sowjetunion unter seinem bisherigen Verbündeten Stalin eröffnete. In den Motiven des NS-Diktators vermengten sich die militärisch-strategischen Zielsetzungen - er steckte seit Mitte 1940 in der Napoleon-Falle - mit rassenideologischen Vorstellungen, die nicht erst uns Nachgeborenen nicht allein als zutiefst unmenschlich, sondern als wahnhaft erscheinen.
Wie von Hitler in einer Rede Ende März 1941 vor willfährigen Generälen der Wehrmacht angekündigt, wurde der Krieg von Anbeginn auf eine Weise geführt, die den von Clausewitz her bekannten Begriff des "Vernichtungskrieges" sprengt. Nach zuletzt unter Präsident Michail Gorbatschow in den 1980er Jahren fundiert geschätzten Zahlen kamen unter den Völkern der Sowjetunion im "Großen Vaterländischen Krieg" an die 27 Millionen Menschen ums Leben. War der deutsche nationalsozialistische Diktator der befehlsgebende Urheber des alsbald ungehemmten Tötens, Ausplündern und Mordens, so tragen die Deutschen als Volk und Nation die historische Verantwortung für jenes millionenfache Leiden und Sterben, das mit Hitlers "Rußlandfeldzug" über Stalins Sowjetunion hereinbrach.
Bereits in den 1950er Jahren fanden Szenen der Versöhnung zwischen den vermeintlich tödlich verfeindeten Völkern statt, so am 21. August 1955, als 80 000 Zuschauer im Moskauer Stadium bei einem Fußballspiel die westdeutsche Weltmeister-Elf bejubelten, sodann knapp drei Wochen später, als Bundeskanzler Adenauer bei seinem Besuch in Moskau 1955 auf dem Balkon des Bolschoi-Theaters den Ministerpräsidenten Nikolai Bulganin umarmte. Deutsche, die seither - noch Jahrzehnte vor dem Mauerfall - die Sowjetunion besuchten oder bereisten, zeigten sich immer wieder überrascht und beeindruckt, wie wenig Haß, sondern freundliche, ja herzliche Gefühle man ihnen bei ihren Begegnungen im Sowjetreich entgegenbrachte.
II.
Bundeskanzlerin Angela Merkel, bekannt als Moral- und Gedenkpolitikerin, fehlte bei den Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag des Angriffs auf die Sowjetunion. Immerhin hielt Bundestagspräsident Lammert im Rahmen einer vom Deutsch-Russischen Museum in Berlin Karlshorst angesetzten Gedenkfeier eine Rede im Innenhof des Deutschen Historischen Museums. Zur Erinnerung: Es handelt sich um den Ort, an dem anno 1943 einer der zahlreichen Attentatsversuche auf den Führer ins Verderben scheiterte.
Eine - cum grano salis, s.u. - eindrucksvolle Gedenkveranstaltung fand vor dem sowjetischen Ehrenmal auf der Straße des 17. Juni statt. Vor dem Ehrenmal mit dem siegreichen Sowjetsoldaten hatte sich eine Anzahl von Aktivisten der "neuen Friedensbewegung" mit Transparenten samt übergroßen Friedenstauben, die gegen die von der NATO ausgehenden Kriegsgefahr die deutsch-russische Friedensallianz beschworen, aufgestellt. Zu sehen waren auch zwei, drei rote Fahnen mit Hammer und Sichel sowie ein Endfünfziger mit einer großen Fahne des zum "Bund der AntifaschistInnen" erweiterten VVN. Ein Mittfünfziger dokumentierte antifaschistische Gesinnung auf seiner Lederjacke durch Zugehörigkeit zu dem mit Sowjetstern verzierten "Motorrad-Club Kuhle Wampe". Die Zahl der Teilnehmer, bis auf ein paar zufällig anwesende jugendliche Touristen (oder auch Neubürger?) allesamt bereits ergraut, war überschaubar, nach grober Schätzung max. 1500 bis 2000. Allein beim Anblick der Veteranenversammlung drängte sich die Frage auf, wie die postnationale Bundesrepublik als Einwanderungsland künftighin ihre spezifisch nationale Erinnerungskultur zu pflegen gedenkt. (S.dazu u.a. http://www.globkult.de/politik/deutschland/985-fragen-zu-deutschem-gedenken-unter-den-bedingungen-einer-neuen-gesellschaft ; http://herbert-ammon.blogspot.de/2015/10/zur-deutschen-jubelfeier-am-3-oktober.html )
Die Veranstaltung - mit dem sich auf der Fußball-"Fanmeile" unentwegt drehenden Riesenrad als alles überragender Kulisse - war offenbar einer SPD-Initiative zu verdanken, denn im Tribünenhintergrund standen auf rotem Grund unter dem Motto "Befreiung - Frieden - Versöhnung" die Parteiinitialen. Unter den Anwesenden befanden sich der frühere Regierende Bürgermeister Walter Momper sowie der Rußland-Experte Gernot Erler.
In ihrer Eröffnungsansprache begrüßte die einstige Grünen-Politikerin Antje Vollmer unter den Anwesenden die - offenbar spärlich erschienenen - Bundestagsabgeordneten (ohne Partei- und Namensnennung). Danach forderte Günter Morsch, Gedenkstellenleiter in Sachsenhausen-Oranienburg, zur Unterstützung einer Initiative auf, die sich die Errichtung eines im Gedenkensemble am Rande des Tiergartens noch ausstehenden deutschen Mahnmals zur Erinnerung an die sowjetischen Opfer des deutschen Vernichtungskrieges zum Ziel gesetzt hat.
III.
Was die Veranstaltung erinnernswert macht, war die Rede des fast neunzigjährigen Erhart Eppler. Er sah es als seine Pflicht zu sprechen, "nicht für seine Partei, nicht für die Kirche oder einen Verein", sondern für sich allein, als einer der letzten der Kriegsgeneration - und für seine Urenkel. In den letzten Kriegstagen erfuhr Eppler als siebzehnjähriger Flakhelfer aus dem Munde von älteren Obergefreiten, alles andere als fanatische Nazis, die grauenvolle Wirklichkeit des Rußlandkrieges. Im Winter 1941 hätten sie ein paar sowjetische Gefangene kurzerhand erschossen, um an deren wärmende Filzstiefel heranzukommen. Diese Erzählung habe ihn sein Leben lang verfolgt."Wer solche und allzu ähnliche Geschichten
mit sich herumträgt, kommt nie in die Versuchung, über Russen aus der
Position moralischer Überlegenheit zu reden. Aber genau dies ist wieder
Mode geworden."
Epplers politisches Ethos, sein friedenspolitischer Appell entsprang stets einer - von heutigen angegrünten Jüngeren als befremdlich befundene, wenn nicht degoutiert zurückgewiesene - patriotischen Leidenschaft, frei vom geringsten Anschein von Nationalismus. In seiner Rede warnte er vor einer Zukunft, in der Deutschland und die EU nichts anderes mehr darstellten als "einen amerikanischen Brückenkopf" im Konflikt mit einem russisch-chinesischen Zweckbündnis. Ungeachtet der russischen Völkerrechtsverletzung bei der Annexion der Krim müsse man endlich mit Putins Rußland, einem europäischen Land, das "gemeinsame Haus Europa" errichten und bewahren. Im übrigen habe auch Michail Gorbatschow, der "uns Deutschen die Einheit geschenkt hat", erklärt, er hätte in der Ukraine-Krise und in der Krimfrage nicht anders gehandelt als Putin. Nichts sei für uns Deutsche so dringlich wie eine - wenn auch in schwierigem Einklang mit Polen und der Ukraine anzustrebende - Politik des Friedens und der Freundschaft mit Rußland.
Wäre der physisch ungebrochen wirkende Eppler noch aktiv als Teilnehmer im Spiel der bundesrepublikanischen classe politique, er hätte an "wertorientierten" Feindinnen und Feinden keinen Mangel. Wer sich hierzulande besorgt an die Zukunft seiner Kinder, Enkel oder Urenkel - und an das eigene Land - denkt, hängt nach herrschender opinio "rechten" Vorstellungen nach.
IV.
Zum Abschluß der Gedenkveranstaltung hatte der Hanns-Eisler-Chor seinen Auftritt. Die gesanglichen Darbietungen sowie eine Brecht-Rezitation entstammten dem Repertoire des patentierten Antifaschismus der - dank Gorbatschow - historisch entschwundenen DDR. Die der Sakralmusik entlehnten politisch-religiösen Hymnen mögen für die eigenen Ohren feierlich, für andere antiquiert sentimental klingen. Weniger Nachsicht verdienen die alten, in stampfendem Marschrhythmus vorgetragenen Kampfgesänge. Deren Lautstärke nach zu urteilen, scheint die Frage, inwieweit Theorie und Praxis des revolutionären Klassenkampfes zu Weimarer Zeiten Aufstieg und Machtergreifung des NS-Faschismus beförderten, das gute (und bessere) Gewissen der - gleichfalls bereits grauhaarigen - Choristen nicht zu beunruhigen. Denkbar immerhin, dass einige der Sänger und -innen zuweilen der Frage nachhängen, warum die proletarischen Klassenkämpfer anno 1941 - mit geringen Ausnahmen - bereitwillig und/oder gehorsam in Hitlers Vernichtungskrieg gegen Rußland mitzogen.
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