Freitag, 5. Dezember 2014

Friedensbekundung deutscher Refuseniks

 Ich verweise das geneigte Publikum auf eine Anzeige in der Berliner Zeitung "Der Tagesspiegel".  Die Unterzeichnerliste ergibt  ein äußerst  buntes Bild von "Putinverstehern", das all jenen Exponenten "westlicher Werte",  die wegen der Ukraine-Krise auf eine Konfrontation mit Rußland zielen, Kopfschmerzen bereiten dürfte. Sie bringen zum Ausdruck,  was die Mehrheit der Deutschen denkt: In einen offenen Konflikt mit Rußland lassen wir uns nicht hineinziehen. 


DER TAGESSPIEGEL.DE   5.11.2014



Gerhard Schröder und Antje Vollmer, Lothar de Maizière und Roman Herzog, Wim Wenders und Jim Rakete: Sie und viele andere Prominente fordern "eine neue Entspannungspolitik in Europa". Wir dokumentieren den Text des Aufrufes.

Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!
Niemand will Krieg. Aber Nordamerika, die Europäische Union und Russland treiben unausweichlich auf ihn zu, wenn sie der unheilvollen Spirale aus Drohung und Gegendrohung nicht endlich Einhalt gebieten. Alle Europäer, Russland eingeschlossen,  tragen gemeinsam die Verantwortung für Frieden und Sicherheit. Nur wer dieses Ziel nicht aus den Augen verliert, vermeidet Irrwege.

Der Ukraine-Konflikt zeigt: Die Sucht nach Macht und Vorherrschaft ist nicht überwunden. 1990, am Ende des Kalten Krieges, durften wir alle darauf hoffen.

Aber die Erfolge der Entspannungspolitik und der friedlichen Revolutionen haben schläfrig und unvorsichtig gemacht. In Ost und West gleichermaßen. Bei Amerikanern, Europäern und Russen ist der Leitgedanke, Krieg aus ihrem Verhältnis dauerhaft zu verbannen, verloren gegangen. Anders ist die für Russland bedrohlich wirkende Ausdehnung des Westens nach Osten ohne gleichzeitige Vertiefung der Zusammenarbeit mit Moskau, wie auch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Putin, nicht zu erklären.

Deutschland trägt besondere Verantwortung

In diesem Moment großer Gefahr für den Kontinent trägt Deutschland besondere Verantwortung für die Bewahrung des Friedens. Ohne die Versöhnungsbereitschaft der Menschen Russlands, ohne die Weitsicht von Michael Gorbatschow, ohne die Unterstützung unserer westlichen Verbündeten und ohne das umsichtige Handeln der damaligen Bundesregierung wäre die Spaltung Europas nicht überwunden worden. Die deutsche Einheit friedlich zu ermöglichen, war eine große, von Vernunft geprägte Geste der Siegermächte. Eine Entscheidung von historischer Dimension. Aus der überwundenen Teilung sollte eine tragfähige europäische Friedens- und Sicherheitsordnung von Vancouver bis Wladiwostok erwachsen, wie sie von allen 35 Staats- und Regierungschefs der KSZE-Mitgliedsstaaten im November 1990 in der „Pariser Charta für ein neues Europa“  vereinbart worden war. Auf der Grundlage gemeinsam festgelegter Prinzipien und erster konkreter Maßnahmen sollte ein „Gemeinsames Europäisches Haus“ errichtet werden, in dem alle beteiligten Staaten gleiche Sicherheit erfahren sollten. Dieses Ziel der Nachkriegspolitik ist bis heute nicht eingelöst. Die Menschen in Europa müssen wieder Angst haben.

 Deutschland muss zum Dialog mit Russland aufrufen

Wir, die Unterzeichner, appellieren an die Bundesregierung,
 -         ihrer Verantwortung für den Frieden in Europa gerecht zu werden. Wir brauchen
eine neue Entspannungspolitik für Europa. Das geht nur auf der Grundlage gleicher Sicherheit für alle und mit gleichberechtigten, gegenseitig geachteten Partnern.  Die deutsche Regierung geht keinen Sonderweg, wenn sie in dieser verfahrenen Situation auch weiterhin zur Besonnenheit und zum Dialog mit Russland aufruft. Das Sicherheitsbedürfnis der Russen ist so legitim und ausgeprägt wie das der Deutschen, der Polen, der Balten  und der Ukrainer. Wir dürfen Russland nicht aus Europa hinausdrängen. Das wäre unhistorisch, unvernünftig und gefährlich für den Frieden. Seit dem Wiener Kongress 1814 gehört Russland zu den anerkannten Gestaltungsmächten Europas. Alle, die versucht haben, das gewaltsam zu ändern, sind blutig gescheitert – zuletzt das größenwahnsinnige Hitler-Deutschland, das 1941 mordend auszog, auch Russland zu unterwerfen.

 "Friedenspflicht der Bundesregierung"

Wir appellieren an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages,
-          als vom Volk beauftragte Politiker, dem Ernst der Situation gerecht zu werden und aufmerksam auch über die Friedenspflicht der Bundesregierung zu wachen. Wer nur Feindbilder aufbaut und mit einseitigen Schuldzuweisungen hantiert, verschärft die Spannungen in einer Zeit, in der die Signale auf Entspannung stehen müssten. Einbinden statt ausschließen muss das Leitmotiv deutscher Politiker sein.

 "Es geht nicht um Putin"

Wir appellieren an die Medien,
 -          ihrer Pflicht zur vorurteilsfreien Berichterstattung überzeugender nachzukommen als bisher. Leitartikler und Kommentatoren dämonisieren ganze Völker, ohne deren Geschichte ausreichend zu würdigen. Jeder außenpolitisch versierte Journalist wird die Furcht der Russen verstehen, seit NATO-Mitglieder 2008 Georgien und die Ukraine einluden, Mitglieder im Bündni
Mitglieder im Bündnis zu werden. Es geht nicht um Putin. Staatenlenker kommen und gehen. Es geht um Europa. Es geht darum, den Menschen wieder die Angst vor Krieg zu nehmen. Dazu kann eine verantwortungsvolle, auf soliden Recherchen basierende Berichterstattung eine Menge beitragen.

Am 3. Oktober 1990, am Tag der Deutschen Einheit, sagte Bundespräsident Richard von Weizsäcker: „Der Kalte Krieg ist überwunden. Freiheit und Demokratie haben sich bald in allen Staaten durchgesetzt. ... Nun können sie ihre Beziehungen so verdichten und institutionell absichern, dass daraus erstmals eine gemeinsame Lebens- und Friedensordnung werden kann. Für die Völker Europas beginnt damit ein grundlegend neues Kapitel in ihrer Geschichte. Sein Ziel ist eine gesamteuropäische  Einigung. Es ist ein gewaltiges Ziel. Wir können es erreichen, aber wir können es auch verfehlen. Wir stehen vor der klaren Alternative, Europa zu einigen  oder gemäß leidvollen historischen Beispielen wieder in nationalistische Gegensätze zurückzufallen.“
Bis zum Ukraine-Konflikt wähnten wir uns in Europa auf dem richtigen Weg. Richard von Weizsäckers Mahnung ist heute, ein Vierteljahrhundert später, aktueller denn je.

 Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner:

Mario Adorf, Schauspieler
Robert Antretter (Bundestagsabgeordneter a. D.)
Prof. Dr. Wilfried Bergmann (Vize - Präsident der Alma Mater Europaea)
Luitpold Prinz von Bayern (Königliche Holding und Lizenz KG)
Achim von Borries (Regisseur und Drehbuchautor)
Klaus Maria Brandauer (Schauspieler, Regisseur)
Dr. Eckhard Cordes (Vorsitzender Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft)
Prof. Dr. Herta Däubler-Gmelin (Bundesministerin der Justiz a.D.)
Eberhard Diepgen (ehemaliger Regierender Bürgermeister von Berlin)
Dr. Klaus von Dohnanyi (Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg)
Alexander von Dülmen (Vorstand A-Company Filmed Entertainment AG)
Stefan Dürr (Geschäftsführender Gesellschafter und CEO Ekosem-Agrar GmbH)
Dr. Erhard Eppler (Bundesminister für Entwicklung und Zusammenarbeit a.D.)
Prof. Dr. Dr. Heino Falcke (Propst i.R.)
Prof. Hans-Joachim Frey (Vorstandsvorsitzender Semper Opernball Dresden)
Pater Anselm Grün (Pater)
Sibylle Havemann (Berlin)
Dr. Roman Herzog (Bundespräsident a.D.)
Christoph Hein (Schriftsteller)
Dr. Dr. h.c. Burkhard Hirsch (Bundestagsvizepräsident a.D.)
Volker Hörner (Akademiedirektor i.R.)
Josef Jacobi (Biobauer)
Dr. Sigmund Jähn (ehemaliger Raumfahrer)
Prof. Dr. Dr. h.c. Margot Käßmann (ehemalige EKD Ratsvorsitzende und Bischöfin)
Dr. Andrea von Knoop (Moskau)
Prof. Dr. Gabriele Krone-Schmalz (ehemalige Korrespondentin der ARD in Moskau)
Friedrich Küppersbusch (Journalist)
Vera Gräfin von Lehndorff (Künstlerin)
Irina Liebmann (Schriftstellerin)
Dr. h.c. Lothar de Maizière (Ministerpräsident a.D.)
Stephan Märki (Intendant des Theaters Bern)
Prof. Dr. Klaus Mangold (Chairman Mangold Consultng GmbH)
Reinhard und Hella Mey (Liedermacher)
Ruth Misselwitz (evangelische Pfarrerin Pankow)
Klaus Prömpers (Journalist)
Prof. Dr. Konrad Raiser (eh. Generalsekretär des Ökumenischen Weltrates der Kirchen)
Jim Rakete (Fotograf)
Gerhard Rein (Journalist)
Michael Röskau (Ministerialdirigent a.D
Eugen Ruge (Schriftsteller)
Dr. h.c. Otto Schily (Bundesminister des Inneren a.D
Dr. h.c. Friedrich Schorlemmer (ev. Theologe, Bürgerrechtler)
Georg Schramm (Kabarettist)
Gerhard Schröder (Bundeskanzler a.D.)
Philipp von Schulthess (Schauspieler)
Ingo Schulze (Schriftsteller)
Hanna Schygulla (Schauspielerin, Sängerin)
Dr. Dieter Spöri (Wirtschaftsminister a.D.)
Prof. Dr. Fulbert Steffensky (kath. Theologe)
Dr. Wolf-D. Stelzner (geschäftsführender Gesellschafter: WDS-Institut für Analysen in Kulturen mbH)
Dr. Manfred Stolpe (Ministerpräsident a.D.)
Dr. Ernst-Jörg von Studnitz (Botschafter a.D.)
Prof. Dr. Walther Stützle (Staatssekretär der Verteidigung a.D.)
Prof. Dr. Christian R. Supthut (Vorstandsmitglied a.D. )
Prof. Dr. h.c. Horst Teltschik (ehemaliger Berater im Bundeskanzleramt für Sicherheit und Außenpolitik)
Andres Veiel (Regisseur)
Dr. Hans-Jochen Vogel (Bundesminister der Justiz a.D.)
Dr. Antje Vollmer (Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages a.D.)
Bärbel Wartenberg-Potter (Bischöfin Lübeck a.D.)
Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker (Wissenschaftler)
Wim Wenders (Regisseur)
Hans-Eckardt Wenzel (Liedermacher)
Gerhard Wolf (Schriftsteller, Verleger)

Zweiter Wahlgang, erste Wahl

Der Nikolaus kam heute morgen ohne Rute und überbrachte der "Linken" ihr Wahlgeschenk, indes erst im zweiten Wahlgang. Es ist müßig zu spekulieren, wer im ersten Wahlgang im Erfurter Landtag schön heimlich seinen Dissens mit der Parteiführung der SPD und/oder der sich als Erben der DDR-Bürgerrechtler verstehenden Grünen bekundete. Ebenso überflüssig sind Spekulationen darüber, wer denn im für Ramelow siegreichen Wahlgang sich seitens der Opposition der Stimme enthielt.

Die Art und Weise, wie in Thüringen die neue Regierung zustandegekommen ist, bedarf dessen ungeachtet eines Kommentars. Zum ersten: Dass nach 14 Jahren CDU-Regierung (mit SPD-Koalitionssukkurs) das Wahlvolk den "Wechsel" will, klingt auf den ersten Blick demokratisch plausibel. Doch dass nur  52 % der Wahlberechtigten noch an der parlamentarisch-demokratisch verfassten Politik, d.h. am Wechselspiel, Interesse zeigten, passt schon weniger zum Selbstbild der Demokratie. Es bleibt festzuhalten, dass angesichts der neuen parlamentarisch erzeugten Machtverhältnisse in Thüringen in den Medien kein Lamento über die in der Wahlbeteiligung manifest gewordene "Politikverdrossenheit" angestimmt wurde.

Zweitens: Ach, alle Appelle der einstigen Aktivisten gegen den - mittlerweile von Ramelow koalitionstechnisch konzedierten - Unrechtsstaat DDR und dessen politische Nachlaßverwalter blieben vergebens. Wolf Biermanns Brief an den zum letzten Protest rufenden Bürgerrrechtler Matthias Büchner- erst heute in Auszügen in der FAZ zu lesen war in den Wind geschrieben. Warum wohl?

Die Antwort ist am wenigsten in den alle  Ramelow-Wähler überzeugenden Inhalten des Koalitionsvertrages - wann wurde eigentlich derlei befristete Ersatzverfassung  in die politische Praxis des bundesrepublikanischen Parlamentarismus eingeführt? - zu suchen, sofern es sich nicht um irgendwelche Versprechen fürs umworbene Wahlvolk handeln sollte. Die Antwort, warum die rot-rot-grünen Abgeordneten ihrem koalitionären Gewissen folgten,  ist weit simpler (wenngleich hypothetisch): Im Falle der Nichtwahl Ramelows wäre es im Lande des "düringischen Uffruhrs"  zu Neuwahlen gekommen. Den Grünen und den Sozialdemokraten wären womöglich noch weitere Sitze abhanden gekommen. Das wollte  denn doch keiner der Volksvertreter(-innen) riskieren, am wenigsten die auf den hinteren Listenplätzen. Das Gewissen unterlag dem Wissen um die Ungewissheit der eigenen Zukunft, die Sorge um die allseits gefährdeten  demokratischen Werte verschmolz mit dem schnöden materiellen Kalkül.

Der zweite Wahlgang war, so betrachtet, für die Vertreter der im September 2014 dezimierten Minderheitsparteien die erste Wahl.

Mittwoch, 26. November 2014

I. Weltkrieg: Logik des Absoluten und des Zufalls

In der "Gedenkbibliothek zu Ehren der Opfer des Stalinismus" gegenüber der Berliner Nikolaikirche referierte der Historiker Jörg Friedrich über sein neuestes mehr als 1000seitiges Buch "14/18. Der Weg nach Versailles" (Propyläen Verlag, Berlin 2014. Anders als ein Rezensent (Christoph Cornelissen, in FAZ v. 28-07-2014 http://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/joerg-friedrich-14-18-der-weg-nach-versailles-wenn-sich-der-qualmvorhang-langsam-hebt-13068854/deutsche-soldatengraeber-auf-13072580.html.) dem ob seiner provokativen Bücher in der Zunft und in den Feuilletons gemiedenen Erfolgsautor vorwarf, ging es Friedrich nicht um ein "Aufrechnen", auch nicht um  eine neuerliche Revision der nur noch in deutschen "Sonderweg"-Zirkeln gehegten Fischer-Thesen, sondern um die Aufhebung der politischen Vernunft und den Verlust aller Menschlichkeit durch die mörderische Logik des Großen Krieges.

In einem anscheinend launig unterhaltsamen Ton verflocht er die uns gegenwärtig faszinierenden blutigen TV-Szenen  in der Ukraine und in Nahost mit dem 1951 vermiedenen dritten Weltkrieg in Korea (J.F.: Yalu. An den Ufern des dritten Weltkriegs, Propyläen Verlag, Berlin 2007, 624 Seiten) und mit dem das Gedenkjahr 2014 beherrschenden Thema. Friedrich ging es ausdrücklich nicht um eine "revisionistische" Rekonstruktion der Julikrise, wohl aber um die Frage, warum die Großmächte in den Wochen nach dem Attentat von Sarajewo den Bündnisfall als gegeben erachteten und den Krieg in Kauf nahmen, warum spätestens nach dem Kriegseintritt Großbritanniens am 4.August 1914 die Logik des Krieges das Geschehen diktierte und die alte Clausewitzsche Doktrin vom Primat der Politik - und dem Krieg als dem politischen Zwecken  dienenden Instrument der Politik - versagte. Der einstige - dem vermeintlich marxistisch widerspruchsfreien Trotzkismus zugetane - "Linke" Friedrich  verzichtete auf den Begriff "Imperialismus". Er eröffnete ein Geschichtsbild, in dem die Linien der Kausalität in einem Gewirr zahlloser großer und kleiner, oft nachträglich ad hoc hinzugefügter Striche verschwinden.

1914 und 1919 versagte jene Ratio, die seit dem Wiener Kongreß Europa eine halbwegs stabile Friedensordnung gesichert hatte. Die einzige Logik, die  nach Kriegsbeginn die jeweiligen Akteure laut Friedrich verfolgten, war im Ersten Weltkrieg die des totalen Sieges über den Gegner, der Verfolg der "unverzichtbaren" - historisch-politisch, geostrategisch und kriegsökonomisch begründeten - Ziele bis zum Ende, im Falle der USA die moralisch absolute Überhöhung des eigenen interessegebundenen Handelns gegenüber dem - seit den deutschen Zerstörungen und Gewaltakten in Belgien im August 1914 - verteufelten Erzfeind der Menschheit. Die jeglichen Kompromiß  ausschließenden, jedem  Verzicht auf die jeweiligen - nicht allein im deutschen Fall  nach Kriegsausbruch ins Uferlose gesteigerten -  Kriegsziele absagenden Bewegungen der Akteure, diktiert von Machtinteressen, von Fehlkalkulationen, von militärischen "Zwängen" und  Zufällen, von persönlichen Rivalitäten - die wechselseitige Animosität der Generäle Rennenkampf und Samsonow verhinderte beispielsweise im August 1914 den womöglich kriegsentscheidenden russischen Sieg in Ostpreußen -, die Eigendynamik der im Weltkrieg potenzierten Kriegstechnik - all das hielt an bis zum endgültig  kriegsentscheidenden Durchbruch der Engländer bei Amiens (8.8.1918). Aus der Logik des Krieges und des  Sieges resultierte der Diktatfrieden von Versailles (sowie die anderen Pariser Vorortverträge), aus der Katastrophe des Ersten Weltkriegs die - so Friedrich - von Hitler und Stalin gemeinsam inszenierte Ouvertüre des Zweiten Weltkriegs.

Friedrich betont die - im Sinne humaner Vernunft -  irrationalen Aspekte des in die Gegenwart hineinwirkenden Dramas des Großen Krieges. Er vertritt die These, für das Deutsche Reich hätte nach dem Frieden von Brest-Litowsk mit dem bolschewistischen Rußland (3.3.1918) der Sieg in Reichweite gelegen. Die Chance dafür habe nicht in dem von Ludendorff politisch ziellos angestrebten letzten "Sieg" ("ein Loch hineinhauen")  im Westen gelegen, sondern im Angebot der Reichsführung an Frankreich eines Verzichts auf Elsaß-Lothringen. Selbst der "Tiger" Clemenceau hätte sich vor seinem kriegsmüden Volk einem solchen Friedensangebot nicht veweigern können.  Die bereits mit einem Millionenheer in der Normandie präsenten USA hätten  aus dem solcherart neutralen Frankreich nur wieder abziehen müssen...

Ohne Spekulation, ohne Betrachtung des Kontrafaktischen,  ist Geschichtsschreibung - aller vermeintlich objektiven Fundierung der historischen Wirklichkeit  in den Akten - nicht zu denken. Auf die Folgen des Ersten Weltkriegs - den Aufstieg Hitlers und die Logik des Zweiten Weltkriegs (dazu J.F.: "Der Brand", Propyläen Verlag, München 2002, 592 Seiten) sowie auf die Gegenwart bezogen - zum einen die Rolle der geschwächten Großmacht Rußland unter dem kalkulierenden Machtpolitiker Putin, zum anderen der Umgang mit der potentiellen Atommacht Iran -, drehte sich die Diskussion um die Frage des Nutzens oder Schadens des "appeasement".

Als distanzierter Historiker entzieht sich Friedrich der moralischen Verdammnis des "appeasement". Sowohl das auf Beschwichtigung (und Ablenkung) des Aggressors zielende Kalkül der "Appeaser"  kann gutgehen - in diesem Sinne würdigte Friedrich den Erfolg der "Neuen Ostpolitik" - oder aber den Aggressor zu weiteren Provokationen ermutigen, bis... Umgekehrt kann das Ziehen der "roten Linie" den Zweck verfehlen: Wer die rote Linie benennt, muss seinen Worten Taten folgen lassen. Eben dies  mag der derart in die vermeintliche Defensive gezwungene Gegner erstmal auf die Probe stellen. Das Kalkül ging im Falle der sowjetischen Raketenstationierung auf Cuba anno 1962 auf. Ob sich indes Feinde des gottlosen Westens wie ISIS davon beeindrucken ließen?

Der Historiker Friedrich kam zu einem Resümee, das der insbesondere hierzulande vorherrschenden Neigung zu "grüner" Moralpolitik entgegensteht: Im Hinblick auf einen unberechenbaren Herausforderer, der die Gesetze der politischen  ratio geringschätzt, bewege sich der - oft nur vermeintlich selbst - Friedfertige zwischen Skylla und Charybdis. Fazit: Über der Geschichte, über unserer unerquicklichen, von nahegelegenen Kriegen beeindruckten und gefährdeten Gegenwart, liegt ein Hauch von Dezisionismus. Was nicht bedeutet, dass allein Carl Schmitt als  Denker des Politischen zu gelten hat. Ebensowenig  wie dessen schlichtes, wenngleich eingängiges  Kriterium gilt das aus amerikanischen Western bekannte Schema bad guys-good guys.




Freitag, 21. November 2014

Thüringen wartet auf den Nikolaus


I.
Drei strahlende Gesichter auf der Titelseite: die rot-rot-grüne Troika, vertreten durch eine bis dato unbekannte  Dame ("Die Linke") und zwei gleichfalls unbekannte Männer (für die SPD und die Grünen). Sie freuen sich wie dereinst die  Kinderlein am Abend des 6. Dezember, wenn endlich nach allerlei peinlichen Fragen und Ermahnungen  der Nikolaus die heiß erwarteten Geschenke hervorholte. Die prospektiven Koalitionspartner, die nach langen Jahren Großer Koalition unter der Pastorin Lieberknecht (CDU) einen "Politikwechsel" zustandebringen wollen, freuen sich über ihren Koalitionsvertrag, den sie mit Bedacht  als Geschenk fürs Thüringer Wahlvolk (Wahlbeteiligung am 20.September ca. 52%) verpackt haben. Damit das 108 (?) Seiten starke Geschenk zumindest mediengerecht gut ankommt, hat die Führungsriege der "Linken" eines ihrer heiligsten Güter geopfert, i.e. die Überzeugung, die DDR sei kein Unrechtsstaat gewesen, sondern ein Staat,  dessen Organe oft und bedauerlicherweise wider seine sozialistische Gesetzlichkeit verstieß.

Wem stockte nicht der Atem, als  der prospektive Ministerpräsident Bodo Ramelow, aus Hessen stammend, aufrechter protestantischer Christ und standfester Gewerkschafter, aus Versehen  die rote Linie überschritten und die Stasi mit der Gestapo verglichen, ja in eins gesetzt hatte? Zum Glück konnte er sich am Tag danach   interpretatorisch aus der Geschichtsfalle wieder herauswinden. Aber damit war die neue Linie immerhin vorgezeichnet. Jetzt  müssen die altgedienten Genossen aus Suhl, Gera und Mühlhausen sowie die kämpferischen Junggenossen, vielfach von westlich der Werra herübergekommen,  vor den Medien eingestehen, die DDR sei eben doch ein Unrechtsstaat gewesen - ein Begriff, mit dem die CDU das indifferente Volk noch einmal aufschrecken, die Genossen der Linken in die Defensive zwingen wollte.

Irrtum, man denke an Henri IV. Für die "Linke" ist Erfurt eine Kröte wert. Sodann: Die SPD hat es im Koalitionsbett endlich wieder  mit einem historisch sauberen Lebenspartner zu tun. Und die Grünen, Monopolisten der reinen Gesinnung,  feiern als moralischen  Sieg, wo es um Ministerposten  und die Sanktionierung des naturgemäß ökogerechten KoalitionsFairtrags geht. Das Ministerium für grüne Kühe, genauer: für die subventionsgesättigte, in GmbHs umgewandelte Landwirtschaft "im grünen Herzen Deutschlands" geht an die "Linke". Für die Grünen bleibt die Umwelt,  da es in Thüringen  um den Kickelhahn herum hinreichend windige Wipfel für naturgeschützte Windparks gibt, und zum Glück keine gewissensgefährdende Braunkohle. Für jeden der numerisch schwachbrüstigen Koalitionspartnerinnen fallen vertragsgemäß hinreichend Minister- und Staatssekretärsposten ab.

II.
So wird im einstigen Herzland des Sozialismus (und Nazismus) mutmaßlich alles gut gehen. Über Fragen der kapitalistischen Ökonomie zerbrechen sich die Linken (im weitesten Sinne) längst nicht mehr die Köpfe, höchstens noch  über Fragen der richtigen ("gerechten")  Umverteilung sowie der Allokation der Budgetposten. Was alle vereint, ist die Sorge um die allgemeine Bildung und/oder die Erziehung des Volkes, insbesondere die Sexualerziehung. Wie sie zu bewerkstelligen sei - beispielsweise anhand von mit ökologischem Gütesiegel bedruckten Utensilien für h/h/t/b/q-Users -,  zeigt derzeit die grün-rote Regierung in Stuttgart unter dem  grünen und katholisch-bürgerlichen Ministerpräsidenten Kretschmann (Mitglied im ZK der Katholen) im sexualfeindlichen, pietistischen Musterländle. Wenn die Koalition in Erfurt bis 2017 halten sollte, könnte man auch  Martin Luther als sprachkräftigen deutschen  Sexualerzieher historisch mit einbeziehen.

III.
Ob der rot-grün-rote Nikolaus am Nikolaustag tatsächlich  nach Thüringen kommt, entscheidet sich am Tag zuvor,  am 5. Dezember. An diesem Tag wird im Landesparlament über Ramelow, den Linke-Kandidaten  fürs Amt des Ministerpräsidenten abgestimmt, geheim. Selbst die prospektiven, vertragsgemäß gebundenen Koalitionäre rechnen mit drei Wahlgängen, denn die Sache ist bei 1 (in Worten: einer) Stimme Mehrheit denkbar knapp. Dabei wird offenbar, ob sich alle koalierenden Volksvertreterinnen (sc. V-, Nullsuffix) an  ihr durch Probeabstimmung eingeübtes Verhalten halten oder nicht. Erst beim dritten Wahlgang, immer noch geheim , wenn die relative Mehrheit  - im Extremfall bei Abwesenheit eines Gegenkandidaten eine einzige  Stimme gegenüber dem Rest - genügt, würde laut Thüringer Landesverfassung Ramelow in die Rolle des Landesvaters gelangen. Wenn sich im letzten Augenblick Lieberknecht ("die schwarze Mamba") oder irgendein(e) andere(r) CDU-Kämpfer(in) zur Gegenkandidatur entschließen sollte, würde es richtig spannend.   Es wäre immerhin denkbar-  vestigia Chattiae terrent -, dass der eine oder die eine Abgeordnete im letzten Augenblick sich an die Maxime des Grundgesetzes erinnert, wonach er/sie nur seinem/ihrem Gewissen - mithin  weder dem Koalitionsvertrag noch der Parteiräson - verpflichtet ist/sein sollte. Was dann?

Es wäre für die Sigmar Gabriel und seine SPD entsetzlich, weniger für die Grünen. Doch es besteht Hoffnung für Ramelow und seine Koalitionäre. Denn es gibt keinen Weg zurück in die alten,  deutsch-deutschen Zustände der frühen 1970er Jahre. Damals halfen die Stasi und "Onkel Herbert" bei den schicksalsschweren Abstimmungen im Bundestag dem schwachen Gewissen der Zweifler mit kleinen Geschenken (in DM) auf..

Mittwoch, 19. November 2014

X-mas in November

In Kalifornien, mutmaßlich auch in  anderen politisch hyperkorrekten Bundesstaaten der USA, hat man öffentliche Bezüge auf das in entferntem Sinne noch christlich begründete Weihnachtsfest aus Gründen multi-/interkultureller Egalität abgeschafft. Vor allem soll das Akronym X-mas  nicht mehr verwendet werden. Warum nicht auch gleich das an jedem letzten Donnerstag im November zelebrierte "Thanksgiving"  -  einst von den  puritanischen Pilgervätern als Danksagung an ihren strengen Gott fürs Überleben im unwirtlichen Massachusetts in den Kalender eingeführt - für interkulturell unverträglich erklärt wurde, entzieht sich der Kenntnis des Bloggers. Ohne Rücksicht auf buddhistische Mitbürger, auf empfindsam veganische Seelen - man denke an die mit Mutterglück gesegnete, mutmaßlich mit Sojamilch stillende Chelsea Clinton - oder auf Gleichstellungsforderungen, wird Barack Obama, der Mann  im Weißen Haus, sich  am 27. November mutmaßlich vor aller Welt mit scharfem Messer und großer Gabel über den Truthahn hermachen.  Womöglich ist erst anno 2017 die Methodistin Hillary Clinton als Erste Frau im Weißen Haus dran.

In Deutschland, wo derzeit eine von der (den?)  ARD (Allgemeine Rundfunkanstalten Deutschlands, nicht zu verwechseln mit AfD) angesetzte "Toleranz"-Woche abläuft,  ist man im Sinne interkultureller Sensibilisierung noch nicht so weit wie in Kalifornien. Zwar sollen die bei Vorschulkindern beliebten St-Martins-Umzüge in "Sonne-Mond-und-Sterne-Fest" umbenannt werden. Dessen ungeachtet weihnachtet es längst und überall. Die ersten Nürnberger Lebkuchen und Dresdner Christstollen (!) beginnen bereits im Oktober die Regale zu füllen, ab Mitte November marschieren massenweise die Schokolade-Nikoläuse auf. Sodann: Wie alljährlch hat ein unbekannter Stifter in der Bundes-, ehedem Reichshauptstadt Berlin eine riesige Fichte (oder Tanne?) gestiftet, die, bekrönt mit großem Stern, den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz, rund um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, zieren wird. Kleinere Exemplare werden die sonstigen Weihnachtsmärkte, maßgeblich auf dem Alex und auf dem Gendarmenmarkt, begrünen.

Daß das christliche Friedensfest naht, merkt der Blogger nicht zuletzt an den tagtäglich eintreffenden Briefen aller möglichen Hilfsorganisationen, die in dieser trüben Jahreszeit an sein Mitgefühl und soziales Gewissen appellieren. Die Frage, wie sie alle, alle trotz des von bürgerrechtlich besorgten NGOs, ganz zu schweigen von der trotz medial-künstlicher Beatmung dahinsiechenden Bürgerrechtspartei FDP, beschworenen Datenschutzes an meine Adresse gelangt sind, stellt sich nicht. Ein Klick ins Internet genügte.

Was den von allen Seiten - um die Jahreszeit nehmen auch die um Almosen bittenden vornehmlich rumänischen Migranten - und M-innen vor Reichelt, Kaiser´s (=A & P) sowie vor der Post   zu - umworbenen Blogger und seine  Herzenshärtigkeit betrifft, so erinnere ich an meinen Eintrag vom Vorjahr:
http://herbert-ammon.blogspot.de/2013/11/caritas-oder-junk-mail.html







Dienstag, 11. November 2014

Leseempfehlung: Am 10. November ´89 im "Christlichen Hospiz"

Gleichsam als dokumentarischen Nachtrag zu dem von mir in Globkult "Zum Jubiläum des Mauerfalls: Drei Sozialdemokraten über die ungeraden Wege zur deutschen Einheit" besprochenen Buch druckte die FAZ ( v. 10. Nov. 2014, S. 3) die Aufzeichung eines Gesprächs ab, das am Abend des 10. November 1989 im "Christlichen Hospiz" in der Albrechtstraße in Ost-Berlin( heute: "Hotel Albrechtshof"  stattfand.

Nach der großen Kundgebung am Schöneberger Rathaus am frühen Abend des 10.11.1989 waren Willy Brandt und Hans-Jochen Vogel nach Ost-Berlin gefahren, um Vertreter der vier Wochen vor dem Mauerfall gegründeten SDP näher kennenzulernen. Das Gespräch mit den Pfarrern Martin Gutzeit (Sprachenkonvikt Berlin), Peter Hilsberg (Golgatha- und S. Philippus-Apostelkirche), Hans Simon (Zionskirche)  sowie Ibrahim Böhme  fand unter Medienpräsenz - ein ZDF-Fernsehteam und eine FAZ-Fotografin - statt.

Im Rückblick - genauer:  im Hinblick auf die Rolle des "Geschäftsführers" Ibrahim Böhme als Stasi-Emissär - wirkt das Gespräch sehr erhellend.  Ibrahim (eigentlich: Manfred) Böhme (1944-1999)  eröffnet die Runde mit der Anrede: "Lieber Genosse Brandt!", was unter den Oppositionellen von damals eigentlich verpönt war. Willy Brandt fand hingegen, "Freund zu sein und sich auch so anzureden, ist nicht weniger als den traditionellen Begriff  ´Genosse´zu verwenden". Er fügte hinzu, "dass bei  mir die Freundinnen mit gemeint seien, wenn ich ´Freunde´sage." - Unter heutigen GenossInnen würde er für derlei ungegenderte Sprache Empörung ernten...

Aufschlussreich sind andere Passagen des Gesprächs: Böhme präsentiert sich als Sprecher der breiteren Opposition, nicht allein der SDP. Vor dem Hintergrund der in Scharen nach Western "wegmachenden" Bevölkerung, nicht zuletzt der Facharbeiter, klingen die von Gutzeit und Böhme geäußerten Besorgnisse über den Zusammenbruch des DDR-Staates plausibel. Vogel teilt die Besorgnis, verweist aber auf das - von den DDR-"Ausreisern" laut Grundgesetz (n.b.: als Inhaber der deutsche Staatsbürgerschaft laut Reichsgesetz von 1913) in Anspruch genommene - Grundrecht der Freizügigkeit.

Das Gespräch dreht sich sodann um Runde Tische und freie Wahlen. Böhme liegt sichtlich der Fortbestand der DDR am Herzen. Er glaubt, dass  "dieses kleine Land mit seinen vielleicht noch 15,5 Millionen Einwohnern die Chance hat, einen wirklich echten Parlamentarismus zu trainieren." Er sollte sich offenbar um ein Dauertraining handeln, bei dem auch die SED mitmachen sollte. Damit nicht die Gefahr eines "Machtvakuums" aufkomme, und dann keiner wisse, "wo es hingeht",  interpretiert Böhme die Position der SDP so, "dass - wir beide (?) haben heute darüber diskutiert - wir favorisieren würden (sic) sogar die Teilhabe der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands an der Macht (sic!) in dem Maße, wie es (!) in einer Übergangssitutation aufgrund stabiler Bevölkerungsbefragungen (!), repräsentativer Bevölkerungsbefragungen, beteiligt sein muss."

Das Thema "deutsche Einheit" wird von Brandt und Vogel forciert. Brandt warnt vor dem Zeitverlust, der durch eine Verfassunggebende Versammlung in der DDR entstehen würde. Brandt: "Wir haben doch jetzt Einheit erlebt, gestern und heute. Das ist auch ´ne Form von Einheit, dass die Menschen zusammenströmen." Vogel, der zuvor gesagte hatte: "Hergott nochmal, ihr habt doch dasselbe in den Köppen wie wir", brachte die Formel von  Hoffmann von Fallersleben" ins Spiel, "dass für diese Zeit Recht und Freiheit und Einigkeit wichtig ist".


Samstag, 8. November 2014

Zum Jubiläum des Mauerfalls

Reflektionen zum 25jährigen Jubiläum des Mauerfalls sind angebracht. Ich muss das Publikum leider vertrösten. Immerhin bot die gestrige Gedenkstunde im blau bestuhlten Bundestag  Gelegenheit zu einigen Beobachtungen:

Der Plenarsaal war bestenfalls zu drei Vierteln besetzt. Dem Rest der Abgeordneten (w/m) schienen andere Termine offenbar wichtiger.

Wolf Biermann spielte nicht nur bemerkenswert gut Gitarre, ehe er zur Rede - und danach erst zum Singen -anhob, sondern brachte es fertig, die "Linken"-Bänke für deren BenutzerInnen sichtlich unbequem zu machen. Die meisten rutschten hin und her, pflegten mit Hinter- und Nebenmännern/-frauen kurze Konversation oder  feixten (wenn ich den bärtigen Dieter Dehn, einst Biermann-Manager im Westen und Stasi-Konfident in der westdeutschen Musik- und Politszene, richtig erkannt habe). Einzig Petra Sitte, in der ersten Reihe neben Gregor Gysi, hielt unbewegt die Stellung. Sie saß da, angetan mit buntem Hemd (Bluse?) und ärmellosem Pulli, wie in Ufa-Filmen  der Klassenstreber in der ersten Bank.

Um den richtigen Eindruck von Biermanns Auftritt - als ironisch souveräner "Drachtentöter" - zu vermitteln, zitiere ich die nachfolgenden Google-Überschriften aus unseren bundesrepublikanischen  Qualitätsorganen:

Mauerfall-Gedenken Bundestag: Biermann beschimpft ...
www.zeit.de › Politik › Deutschland
vor 1 Tag - Mauerfall-Gedenken: Biermann attackiert Linke im Bundestag scharf ... "Sobald Sie für den Bundestag kandidieren und gewählt werden, ...




  • Mauerfall-Gedenken: Eklat im Bundestag - Biermann nennt ...

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    vor 1 Tag - Der Liedermacher Wolf Biermann teilt im Bundestag kräftig gegen die Linke aus. Bei der Feierstunde zum Mauerfall bezeichnet er die Partei ...
  • Mauerfall-Gedenken: Biermann-Auftritt im Bundestag nervt

    www.spiegel.de › Politik › Deutschland › 25 Jahre Mauerfall
    vor 2 Tagen - Der Liedermacher und DDR-Kritiker Wolf Biermann soll beim Mauerfall-Gedenken im Bundestag singen. Die Linke sieht die Einladung kritisch .

  • Gerda Hasselfeldt (CSU) verkündete, die "Union" habe als einzige Kraft in der alten Bundesrepublik stets   die Fahne der nationalen Einheit hochgehalten. Der Blogger erinnert sich an so aufrichtige Patrioten wie   Heiner Geißler, Rita Süßmuth oder Dorothea Wilms (zur Erinnerung: Gesamtdeutsche Ministerin) et  al., denen alles Mögliche am Herzen lag, nur nicht die deutsche Einheit.

    Katrin Göring-Eckardt unterließ es -  gleichsam dem Fraktionszwang genügend - zu erwähnen, dass anno 1989 unter den westdeutschen Grünen kaum mehr Einheitsbefürworter zu finden waren. Im Bundestag waren sie  grade noch mit  zwei, maximal drei Leuten vertreten, die unter den für ihren Humor bekannten
    Grünen nichts zu lachen hatten. . Die Grünen fanden seinerzeit nichts dabei,  den - damals  als solchen noch nicht identifizierten - Stasi-Mann Dirk Schneider zum "Deutschlandpolitischen Sprecher" zu erheben, selbst wenn sie über ihn zugleich als "Ständige Vertretung  der DDR bei den Grünen" ihre Witzchen machten.

    Göring-Eckardt absolvierte ihre grün-demokratische Pflichtlektion, indem sie behauptete, der Fall der Mauer sei  "keine schwarz-rot-goldene Revolution gewesen". Dann habe ich als Fernsehpatriot damals beim Eintreffen der  DDR-"Ausreiser" in Passau (im September 1989 aus Ungarn) sowie  in Hof (im Oktober  aus Prag), sodann  ad oculos beim Sturz der Mauer, danach  in Leipzig am 11. Dezember ("Deutschland einig Vaterland!") wohl die falschen Fahnen gesehen.

    Gysi musste bestrebt sein,  sich und seiner Partei mit einem pari-pari-Katalog, die Treue der Anhänger im Osten (Weise und Text: "Nicht alles war schlecht") zu erhalten, den Beitritt der DDR als "Beitritt" zu kritisieren  und zugleich dem Rechtsstaat Wertschätzung entgegenzubringen. Das dürfte gelungen sein, egal was die FAZ - in krauser Sprache - heute daran zu mäkeln hatte.

    Und wer möchte seinem Satz, die EU dürfe an ihren Meeresgrenzen im Mittelmeer  keine Mauern errichten, nicht von Herzen zustimmen? Ach, es geht nicht mehr darum, Motive und Zielrichtung der Flüchtlinge von   damals und heute abzuwägen. Gysi hat ja recht: Wir müssen die Ursachen der Flucht  - aus  Nahost, aus Afghanistan, Pakistan, aus Afrika, aus aller Welt  ins Paradies EU - beseitigen. Wir möchten nur gerne wissen: Wie? - Vielleicht hat die "Linken"-Verwandte Tante Antifa die Antwort: "Keiner ist illegal". Seid willkommen, Millionen!

    Am überzeugendsten und bewegendsten waren die Reden von Iris Gleicke (SPD) und Arnold Vaatz (CDU). Beide kannten die Mauer von der östlichen Seite und die  DDR von innen. Vaatz lernte die soziale Sicherheit der DDR sogar im Knast kennen.

    P.S. Ich darf das Publikum auf meine Besprechung des - im Herder-Verlag, nicht bei Dietz Nachf. - erschienenen Buches  von Hans-Jochen Vogel, Erhard Eppler und Wolfgang Thierse hinweisen. Soeben - eingestellt unter:
    http://www.globkult.de/geschichte/rezensionen/946-zum-jubilaeum-des-mauerfalls-drei-sozialdemokraten-ueber-die-ungeraden-wege-zur-deutschen-einheit.



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    Dienstag, 28. Oktober 2014

    Stabilisierte Begriffskoordinaten

    In einer hochkomplexen Welt, in der laut dem bundesrepublikanischen Staatsphilosophen J.H. seit längerem eine "neue Unübersichtlichkeit" herrscht, sich geistig zurechtzufinden, bedarf einiger Anstrengung. Um einfache Gemüter intellektuell nicht zu überfordern, um uns im tautologischen Raum der "globalisierten Welt" die Orientierung zu erleichtern, stellt der herrschende Diskurs ein schlichtes Begriffspaar zur Verfügung: links - rechts.

    Dass bei mancherlei  Phänomenen -warum sind die radikalsten Nationalisten (n.b.: Nationalismus = rechts) in Katalonien ausgerechnet  bei der Esquerra Republicana zu finden ? -  das begriffliche Scheidemesser kaum taugt, die Wirklichkeit klar zu durchtrennen,  tut dem Gebrauch der einfachen Formel keinen Abbruch. Wer sich im Besitz der Wahrheit und der höheren Moral weiß, braucht sich um Logik nicht zu scheren. Was kümmert es die "Linke" - gemeint ist die Schar um Ulla Jelpke, M. Riexinger e tutti quanti -, wenn sie, die Protagonisten (sc.-Innen)  atheistischer Aufklärung, des radikal "linkesten" europäischen Traditionsstranges, sich um die Religion, das Opium des Volkes (Marx: gen. poss.; Lenin: gen. obj.) besorgte Schutzherren (sc. -Herrinnen) des Islam, selbst in seinen "rechtesten" Spielarten des "Islamismus", empfehlen? Zugleich versteht sich die "Linke" als Sachwalterin der linksnationalistischen PKK. Allein Allah mag an derlei  begriffsstarker Ideologieakrobatik Gefallen finden.

    Zuweilen gerät das Begriffsgerüst angesichts der Wirklichkeit für einen Augenblick ins Wanken, so beim Aufmarsch der Hooligans - es handelt sich um gewöhnlich verfeindete, prügelstarke Fangemeinden in der Nord- oder Südkurve unserer säkularen Fußballstadien - unter dem abendländischer Werbesprache angelehnten Kampfnamen HoGeSa (= Hooligans gegen Salafismus) im heiligen Cöln. (In Kölle residierte vor Jahren schon mal ein "Kalif von Köln", der - damals noch - nach langem Hin und Herr aus der Domstadt und der Bundesrepublik ausgewiesen wurde.) Ehe die auf 4800 Mann (!) bezifferten Hooligans, versammelt  aus ganz Deutschland und verstärkt durch namentlich bekannte Neonazis (u.a. "SS-Siggi"), gegen die Polizei sowie gegen die in sicherer Distanz versammelte, von der "Linken" und "Verdi" aufgerufenen Truppe der "Antifa" in Aktion trat, hatten sich den Hooligan-"Antisalafisten" auch eine Gruppe Kurden beigesellt. Von den durch den drohenden Fall von Kobane gegen das IS-Salafisten-Kalifat mobilisierten Kurden war in der Berichterstattung indes kaum irgendwo die Rede.

    Von Interesse scheint daher folgender, unter dem direkten Eindruck der Ereignisse entstandener  online- Bericht in  Süddeutsche.de v. 26. Oktober 2014, 17.11 h, der nachfolgend auszugsweise zitiert sei:

    "Wir stehen nicht hier, weil wir Sympathien für die Frauen- und Demokratiefeindlichkeit von Salafisten hätten", sagt Heidrun Abel von Verdi. Man sei hier, um gegen die "Rattenfänger" von der anderen Seite zu demonstrieren, die gegen alle Andersdenkenden und Ausländer seien.

    Auf der anderen Seite stehen mitten unter den Hooligans auch Kurden mit ihrer Flagge, die sie fröhlich schwenken. Zumindest zu Beginn, vor den Krawallen. Es ist eine seltsame Gemengelage in Köln, weil Hooligans auf einmal so tun, als würden sie das Abendland verteidigen. "Hooligans gegen Salafisten" (HoGeSa) nennt sich die Gruppierung, die zu der Kundgebung aufgerufen hat.
    Die meisten Hooligans sind bisher nicht durch politische Beiträge aufgefallen. Die Szene definierte Freund und Feind streng entlang der Anhängerschaft zu einem Fußballverein. Das hat sich mit dem Feindbild des Salafismus nun geändert. Nach Köln kamen Anhänger aus Dortmund und Schalke. Ein Leitspruch der HoGeSa ist: "Unsere Fahne, unser Land, maximaler Widerstand." Es stehen Mitglieder der rechtsextremen Rockband Kategorie C auf der Bühne, die schon mehrmals Auftrittsverbot erhielten. Es ist eine Art Unplugged-Konzert, "Hooligans gegen Salafisten, sonst wird Deutschland ein Massengrab", heißt es in einem Lied. Dazu wird viel Dosenbier getrunken.
    Die Hooligans sagen selbst oft, sie würden Distanz zu rechten Parteien und Organisationen wahren. In Köln wurde die Demo am Sonntag ursprünglich aber von Dominik Roeseler angemeldet, einem Mitglied der rechtsextremen Partei Pro-NRW. Später hat er sich von der Veranstaltungsleitung zurückgezogen.
    Am Sonntag sieht man aber auch viele Leute, die nicht sehr rechts aussehen, eher wie Autonome mit Palästinenser-Tüchern. Dazu Rocker und Kurden. Von einem klassischen Links-rechts-Schema könne nicht mehr die Rede sein, hatte die Polizei vorher gesagt. Eines war dann aber doch wie immer: Es hat sich keine neue Bewegung formiert in Köln, wie manche glaubten. Es waren rechte Hooligans, die Biersaufen und Prügeln als Werte sehen, die es zu verteidigen gilt."

    Die Szenerie auf dem Kölner Bahnhofsplatz wird in dem Bericht sehr anschaulich. Auch scheint der Reporter angesichts der bunten Versammlung ("Leute, die nicht sehr rechts aussehen")  in seinem Begriffssystem vorübergehend unsicher geworden zu sein. Durch den Verweis  auf die "Werte" der "rechten Hooligans"  wurden die Koordinaten  wieder stabilisiert. Wohin aber gehörten die - nur anfangs? - mit ihrer Fahne inmitten der Hooligans fröhlich  präsenten Kurden?  






    Samstag, 25. Oktober 2014

    Neu im Kino: Homogene Vielfalt

    Der Blogger empfiehlt dem Publikum (w/m/t/xyz) die Rubrik "Neu im Kino" in der  FAZ (nr. 246 v. 23. 10. 2014, S. 11). In den Kurzkommentaren zu den fünf "neuen" Filmen tritt die lebendige Vielfalt (diversity) unserer Gegenwartskultur in beeindruckender Homogenität  hervor. Sie können also bei der Auswahl für anspruchsvolle Freizeitgestaltung am Wochenende nichts falsch machen.

    Mittwoch, 22. Oktober 2014

    Verursacherprinzip für Nahost

    Henry M. Broder ist ein Autor, der sich  die Freiheit nimmt, mit Ironie, meist  zugespitzt zu satirischer Schärfe, sich zu unbequemen Themen zu äußern wie im  Lande des hermetischen Konformismus  kaum jemand sonst. Mit Vorliebe macht er sich über die herrschende Hypermoral lustig.

    In einem Essay (in: Die Welt v. 21.10.2014) unter dem Titel "Nicht jedes Elend ist unsere Schuld" über das durch das mörderische Chaos ("Bürgerkrieg") in Nahost verursachte Flüchtlingselend verzichtet er weithin auf den ironischen Gestus. Er nennt die Dinge, die sich anscheinend jeglicher Analyse, geschweige denn Lösung, entziehen, beim Namen: An die 10 Millionen Menschen befinden sich laut UNHCR im Raum Syrien, Irak, Jordanien, Libanon, Türkei auf der Flucht. Broder: "Es ist eine Jahrhundertkatastrophe, ein Völkermord."

    Broder mokiert sich diesmal nicht, wenn er den Schauspieler Benno Fürmann  zitiert,  der nach Lampedusa reiste, um einer Aktion von Amnesty International "ein Gesicht" zu geben. Fürmann: "Als Deutsche und als Europäer sind wir in der Schuld." Broder widerlegt den Satz, indem er die - aus seiner Sicht wesentlichen - Ursachen des Horrors benennt. Schuld seien nicht die Europäer und deren kolonialistische Expansion, sondern der ewige, auf Gewalt gegründete Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten. Versagt hätten "wir" - die Europäer, die Nato, die USA, die Uno - allenfalls insofern, als sie das blutige Drama nach Ausbruch nicht unverzüglich durch militärische Intervention beendet hätten.

    Es sei dahingestellt, ob damit das ganze Ursachengeflecht des Dramas erfaßt ist und ob eine Intervention -
    etwa zugunsten der sog. FSA oder zugunsten der einen oder anderen Partei im Irak? - die Gewaltzustände in Nahost unter Kontrolle gebracht hätten. Recht hat Broder, wenn er den diversen islamischen Organisationen, von der Arabischen Liga bis zur Organisation der Islamischen Konferenzen (OIC) vorhält, nicht das mindeste zur Verhinderung oder Linderung der Katastrophen getan zu haben oder zu tun.  Ihr politischer Beitrag bestehe darin, auf "pompösen Konferenzen...zum Widerstand gegen die um sich greifende Islamophobie in Eruopa" aufzurufen.

    Er hätte hinsichtlich der hunderte von  migrantischen und biodeutschen (taz-speak) Bundesbürgern, die zum Dschihad nach Nahost aufgebrochen sind - deutsche Politiker denken derzeit noch laut über "Ausreiseverbote" nach - hinzufügen sollen, dass der Nährboden - und die Finanzquelle - des derzeitigen Dschihadismus vornehmlich  im wahabitischen Saudi-Arabien zu finden ist. Er hätte auch erwähnen können, dass eine Debatte über das Verhältnis zur Gewalt in der islamischen Friedensbotschaft, wie sie vor Jahren noch der evangelische Bischof Wolfgang Huber sowie Papst Benedikt führen wollten, von wohlmeinend pseudoliberalen Universalisten abgewürgt wurde.

    Broder plädiert - entgegen dem von der Meinungsindustrie  ins Normative erhobenen Faktischen  - für die Aufnahme und Integration der Flüchtingsmassen in der nahöstlichen Region, womöglich als "Zwischenlösung". Sodann schreibt er Sätze, die den Moral- und Diskursfürsten  in den Ohren dröhnen müssten: "Sie (die Flüchtlinge) allen Schwierigkeiten zum Trotz in Europa anzusiedeln, wäre nicht nur ein kulturell und klimatisch riskantes Vorhaben, das allein der boomenden Helferindustrie zugute käme."

    Als Realitätsverweigerung  erklärt Broder die Idee von "Brüsseler Bürokraten wie Martin Schulz, der glaubt, das Problem durch eine ´Reform unserer Einwanderungsgesetze´ lösen zu können." Zum Schluß wiederholt er seine - leider auch vergebliche - Forderung, des Problems solle man sich dort annehmen, "wo es generiert wurde." Und er kehrt zu seinem bekannten Stil zurück: "Wer meint, das sei nicht geng, der möge sein Häuschen in Bogenhausen oder im Grunewald einer Flüchtlingsfamilie zur Verfügung stellen.Und garantieren, dass er sich die nächsten zehn Jahre um sie kümmern wird."




    Mittwoch, 8. Oktober 2014

    Zur Selbstbespiegelung eines russischen "Intelligent"

    Als vor  Jahren in der FAZ in Fortsetzungen ein Roman über russische Zustände aus der Feder von Viktor Jerofejew erschien, kamen mir  bei der Lektüre  Zweifel an Intention und Verfahren des Autors. Jerofejew, selbst der Nomenklatura enstammend, machte sich daran, die in der eigenen, im engeren Kreis der  Macht angesiedelten Familie praktizierten kommunistisch-poststalinistischen Denk- und Verhaltensweisen zu ironisieren ("dekonstruieren"). Da dem Roman jeglicher Tiefgang - Reflektionen über die leidvolle Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert, über die zweifelhafte Rolle der von der Macht Privilegierten, nicht zuletzt über die eigene Rolle - fehlte, wurde mir die biographische Selbstbespiegelung bald langweilig.

    Als ich  am 2. Oktober auf einen Artikel von Jerofejew unter dem Titel "Amnesie als Rettungsfallschirm" stieß, indem er  den  Opportunismus der Putin anhängenden Russen anprangerte, kam bei der Lektüre Ärger hoch: Hier redete   - gleichsam als nachgeborener radikaler "Westler" - ein Vertreter der russischen Intelligentsija  in überheblichem Ton von dem ihm fernen Volk. Von einer kritisch-abwägenden Analyse der russischen Zustände keine Spur...

    Da man nicht an  jedem Tag und zu jeder Stunde in der Lage ist, zu jedem Thema seinem kritischen Impetus unverzüglich nachzugeben, zitiere ich nachfolgend den Leserbrief des GlobKult-Autors Arno Klönne in der heutigen FAZ (v. 8.10.2014, S.18):

    "Den begabten [ein immerhin fragwürdiges Attribut; H.A.] russischen Romancier lässt die F.A.Z. mit einem Beitrag im Feuilleton zu Wort kommen, der offenbar den Anspruch enthält, historische und aktuelle Grundmuster der Politik Russlands zu beschreiben und zu erklären. Die russische "Volksseele", ein "Organismus", so der Autor, ist demnach von einem bösartigen "Virus" befallen - Jerofejew hätte sich ein anderes, das heilsame europäische, Russland gewünscht. Und so ist weiteres russisches "Monstertum" zu befürchten. Bemerkenswert ist an dem Artikel, welcher ja nicht dem Genre Roman zugeordnet ist, der entschlossene Verzicht auf eine empirisch-analytische Betrachtung politischer Verhältnisse, auch deren mentaler Seiten. Jerofejew denkt und schreibt in einer Manier, die methodisch der des russischen Publizisten Alexander Dugin entspricht, bei gegensätzlichen politischen Standpunkten. Von solcherart Politikberatung, aus welcher weltanschaulichen Richtung auch immer, ist abzuraten. Sie hatte stets fatale Folgen."

    Montag, 6. Oktober 2014

    Ein weiterer Beitrag zum Revisionismus im Gedenkjahr

    I.
    Im Zuge der von Christopher Clarks Bestseller "Die Schlafwandler"  (The Sleepwalkers, 2011) ausgelösten Revisionismus-Debatte zu den Ursachen des I. Weltkrieges ist - zum Ärger der letzten Vertreter des deutschen "Sonderwegs" - von den lange vorherrschenden Thesen Fritz Fischers vom deutschen "Griff nach der Weltmacht" kaum mehr  übriggeblieben als das sträfliche Versagen der Reichsführung in der von allen Seiten -  Österreich, Frankreich, Rußland, Serbien - zugespitzten Julikrise. Die Debatte hat starken Widerhall außerhalb Deutschlands gefunden, vor allem in England und in den  USA, wo  in den 1960er Jahren Fischer bei seinen akademischen Auftritten ein Publikum vorfand, das teilweise bereits durch ältere Werke - namentlich die Bücher des im II. Weltkrieg und danach als Deutschlandexperten fungierenden amerikanischen Historikers Bernadotte E. Schmitt (The Coming of the War 1914, 2 Bde., 1930) und des italienischen Journalisten Luigi Albertini  (It. Orig.1942-43, engl. Origins of the War of 1914, 3 Bde.1953) auf die deutsche Kriegsschuld eingestimmt war.

    Außer Clark und  Herfried Münkler (Der Goße Krieg. die Welt 1914-1918, 2013)  haben der Amerikaner Sean McMeekin (The Russian Origins of the First World War, 2011; July 1914. Countdown to War, 2013) sowie die Briten Gerry Docherty und Jim MacGregor (Hidden History. The Secret Origins of the First World War, 2013) das von den  Fischer-Thesen dominierte Geschichtsbild zum Einsturz gebracht.

    Auch die englische Politik anno 1914 geriet  spätestens durch Clarks Buch ins Licht der Revision. Seit langem, d.h. seit 1906, existierte in London eine aus Militärs und Politikern zusammengesetzte Führungsgruppe, die - im Gegensatz zu der bis zum Abschluß der Entente Cordiale 1904 distanziert wohlwollend pro-deutschen Linie - den Aufstieg des Deutschen Reiches mit Ablehnung verfolgte und im militärischen Bündnis mit Frankreich die deutsche  Hegemonialmacht  auf dem Kontinent verhindern wollte. Exponent der in der Julikrise im  Kabinett Asquith als  Kriegspartei agierenden Gruppe war Außenminister Edward Grey. Der liberale Imperialist Grey  war -  wie seine Kollegen in dem von Sidney und Beatrice Webb gegründeten  "Coefficients Club", darunter Kriegsminister Richard Haldane, Alfred Lord Milner, Arthur Balfour sowie der Schriftsteller H.G. Wells  - von den Ideen des Geopolitikers Halford Mackinder, Mitglied der "Coefficients",  inspiriert.

    Von  Grey  werden hauptsächlich seine Worte am Abend des 3. August, dem Tag der britischen Kriegserklärung an Berlin zitiert, wonach "the lamps are going out all over Europe. We shall not see them lit again in our lifetime." Die resignativ klingenden Worte entsprachen durchaus nicht seiner eigenen Rolle bei der  Eröffnung der Tragödie.

    II.
    Ein weiterer Beitrag zur kritischen Revision der britischen Politik vor 1914 liegt nun aus der Feder von David Owen vor, dem früheren britischen Außenminister (1976-77 im Labour-Kabinett unter James Callagahan) und pro-europäischen Gründers der kurzlebigen Social Democratic Party:
    David Owen: The Hidden Perspective. The Military Conversations 1906-1914, Haus Publ. Ltd. 2014.

    Siehe dazu die Rezensionen von
    Andrew Roberts: "The Hidden Perspective",
    http://online.wsj.com/articles/book-review-the-hidden-perspective-by-david-owen-1412356055

    Charles Crawford: "Diplomacy´s Hidden Perspectives",
    http://www.diplomatmagazine.com/issues/2014/february-march/950-may-june/851-diplomacy-s-hidden-perspectives.html

    III.
     Ich verweise auf meine bisherigen Kommentare zum Thema im Blog:

    - "Nichts als Überfälle" (04.08.2014)
    - "Kriegsschulddebatte (Forts).." (05.07.2014)
    - "Zur Neuverteilung der Kriegsschuldanteile" (02.06.2014)
    - "Herfried Münkler zum großen Gedenkjahr des Großen Krieges" (03.01.2014)
    - "Revisionismus: Chr. Clark, Fritz Fischer, Egmont Zechlin" (17.12.2013)



    Freitag, 3. Oktober 2014

    Unzensierte Gedanken zum 3.Oktober

    I.
    Wenn  der 3. Oktober sich in  frühherbstlicher Farbenpracht darbietet, kommen selbst in Deutschland freudige Gedanken auf.  Sogar der "Tag der deutschen Einheit" gewinnt - fern der in einem der alten oder neuen Bundesländer  anberaumten, mit weihevollen politischen Bekenntnissen garnierten  Festveranstaltung -  an freudigem Glanz. Die Freude gilt nicht in erster Linie der am  3.Oktober 1990 vollzogenen staatlichen Neuvereinigung - in Bewusstsein und Wortwahl der meisten Deutschen, mehr in der DDR als in der damaligen Bundesrepublik,  war es die  "Wiedervereinigung"  -, sondern der Erinnerung an die Perzeptionen und Empfindungen in den drei Monaten  vom August 1989 über den 9. Oktober bis zum 9. November 1989. An jenem Abend, da ich, erschöpft von eines langen Tages Arbeit, in den  Fernsehnachrichten jene Schlußszene aus Günter Schabowskis  Pressekonferenz sah und hörte,   in der er - "meines Wissens  gilt das ab sofort"-  Reisefreiheit für alle ankündigte, entging mir die reale Bedeutung des Augenblicks und des Datums. Erst am frühen Morgen  nach dem ersten Telefonanruf,  an dem neblig sonnigroten Vormittag des 10. November, sodann beim Tanz auf der Mauer, drang der von den Deutschen in der DDR erzwungene Mauerfall, die welthistorische Zäsur am 9. November 1989, ins volle Bewußtsein: "...und wir können sagen, wir sind dabeigewesen".

    Die historische Assoziationsfülle des Datums für "uns Deutsche" wurde  erst am Abend des 10. ins Gedächtnis zurückgerufen, als wir   in einer Kreuzberger Kneipe die Ostberliner Mitstreiter, die realen Mauer-Subversanten - darunter  m.W. kaum irgendwelche  idealistischen DDR-Bewahrer um jeden Preis -   trafen.  Es war die Frau von Ludwig Mehlhorn (1950 -2011) die an den unheilvollen 9. November 1938 erinnerte. Ich begegnete ihr zuletzt bei Ludwig Mehlhorns Beerdigung auf dem Friedhof Friedrichshain im Mai 2011.    -  Zur Biographie des "Dissidenten" Ludwig Mehlhorn siehe: http://www.havemann-gesellschaft.de/fileadmin/Redaktion/Aktuelles_und_Diskussion/Maerz-Dezember_2011/Ludwig_Mehlhorn_Biographie_.pdf.

    Dass die staatliche Einheit der aus der Nazi-Katastrophe und dem Kalten Krieg hervorgegangenen Staatsgebilde zwischen Rhein und Oder in absehbarer Zeit eine historisch reale Chance haben könnte, schien vor dem 9. November 1989 den wenigsten Deutschen  noch plausibel, ungeachtet der - von immer weniger westdeutschen Politikern gepflegten - Rede von der "offenen deutschen Frage", selbst ungeachtet wiederholter Äußerungen Michail Gorbatschows, die immerhin Verständnis für die deutsche Problematik anklingen ließen. Selbst in Kohls CDU glaubten nur wenige noch daran, und Leuten wie Heiner Geißler - dem als "Mittler" in der absurden Stuttgart 21-Affäre wiederbelebten Bundespolitiker - war sie zu keiner Zeit  ein Herzensbedürfnis. Dass sie 1989/90 in weniger als einem Jahr realisiert wurde, könnte man diesbezüglich zu den historischen Mirakeln zählen. Voraus ging das eigentliche Wunder,  der von der sowjetischen Führung unter Gorbatschow und  - dank  fortschreitender Systemparalyse - von der SED hingenommene Machtverfall in der DDR bis hin zum Mauerfall.

    II.
    Die deutsche Einheit - die staatliche Einheit der  Deutschen in Gestalt der Bundesrepublik Deutschland - erscheint heute - 24 Jahre danach - wie selbstverständlich. Selbst unter den Genossen der "Linken" sehnt sich kaum  irgendwer nach dem Status quo ante murum fractum zurück, allenfalls ein paar Sektierer oder Bekloppte aus der Fraktion der "Antideutschen" (im Bundestag immerhin präsent in Person von Ulla Jelpke)  möchten die Teilstaaten wiederherstellen.

    Ob die staatliche Einheit sowie die  Eigenstaatlichkeit  eines Volkes  historisch sinnvoll und - im Sinne des  kodifizierten, zugleich  "umstrittenen" Völkerrechtsprinzips der "Selbstbestimmung" - politisch geboten ist, scheint einerseits - im Hinblick auf die historisch zufällig wiedergewonnene deutsche Einheit - eine müßige und abstrakte Frage, andererseits angesichts der politisch höchst realen, wenngleich gewöhnlich für anachronistisch erklärten Sezessionsbewegungen in Europa - und in Quebec, Taiwan, Kurdistan etc. - eine akute Frage.

    Die Frage zerfällt in Einzelfragen: a) Wer ist das "Volk" ("we the people"), wer gehört dazu? b) Bedarf das "Volk" eines  nationalen staatlichen Rahmens, in dem es sich politisch "selbst bestimmt"? c) Was heißt "Volk" und/oder Nation  angesichts der historisch  relativ kurzen Zeit der europäischen Nationalstaatlichkeit (als "demokratisches" Geburtsdatum sei hier an die kurzlebige  Republik Korsika 1755-1769 erinnert)? d) Welche theoretische und politisch-reale Qualität kommt dem ahistorisch gedachten Begriff der "Gesellschaft" zu? Selbst Rousseau und den amerikanischen "Verfassungsvätern" standen in ihrem Konzept des "Gesellschaftsvertrages" historisch reale Gesellschaften - in concreto: die griechische Polis, die Römische Republik, die Stadtrepublik Genf, nicht zuletzt die von  Pasquale Paoli proklamierte Republik Korsika - vor Augen. Sämtliche erfolgreichen oder mißglückten Versuche "demokratischer" Loslösung von Imperien oder von bestehenden Staaten gründeten nicht allein auf realer oder als real empfundener Unterdrückung, sondern auf Selbstbildern einer "historischen Nation", sei es in Polen  1831-1918, sei es in Finnland 1918, in den baltischen Staaten, in der Ukraine und im Kaukasus 1918 sowie erneut  1991, sei es beim Zerfall Jugoslawiens ab 1991 oder bei den mit unterschiedlicher Intensität verfolgten gegenwärtigen Sezessionsbestrebungen.

    III.
    Als politisch fragwürdig, in der Realität weithin unbrauchbar erweist sich der im Zuge der Entkolonialisierung proklamierte Begriff der" nationalen Selbstbestimmung" für die Mehrheit der in der UNO versammelten  "nations". Die Konflikte  in zahlreichen bestehenden Staaten (oder in "failing states") entspringen einem Ursachengeflecht, das im weitesten Sinne in der europäischen machtpolitischen und kulturellen Expansion vor - sowie  im Hinblick auf die Auflösung des Osmanischen Reiches nach - dem I. Weltkrieg und den weithin  mißglückten "Modernisierungsprozessen" verwurzelt ist. Die blutigen Konflikte entzünden sich innerhalb der von den europäischen Kolonialmächten einst willkürlich gezogenen Grenzen. Nicht zufällig mündete der "arabische Frühling" in Libyen, Syrien und Irak - von Ägypten abgesehen -  in einem blutigen Fiasko. Nur aus einer "westlichen" Fehlwahrnehmung heraus konnte man den diversen  Bewegungen einen freiheitlich-friedlichen Charakter und das Recht auf "Selbstbestimmung" ansinnen.

     Die seit den 1970er Jahren aufgebrochenen radikal-islamischen Bewegungen - mit der schiitisch-persischen  "Islamischen Revolution" im Iran als historischem Sonderfall - werfen, von ihrem mörderisch-blutigen Charakter abgesehen, als anscheinend "irrationale" Eruptionen das im Westen etablierte politologische und ideologische Kategoriensystem über den Haufen. Warum scheitert(e) die "westlich-demokratische" FSA in Syrien, warum verbreiten die Mordbrigaden des von einem sunnitisch-islamischen Theologen ausgerufenen Kalifats blankes Entsetzen, warum  konnte sich/kann sich  andererseits  - entgegen den eigentlichen Absichten der westlichen "Ordnungsmächte" - im nördlichen Iraq ein relativ stabiler Kurdenstaat mit anscheinend gesicherter Rechtsordnung etablieren?

    Eine widerspruchsfreie Analyse  des blutigen Konfliktensembles in Nahost scheint schier unmöglich. Als historisch-politisch wirksame Faktoren seien stichwortartig genannt: Urbane Lebensweisen neben traditionalen, archaischen Strukturen,  ethnische, religiöse und kulturelle Antagonismen, Traditionen der Gewalt,   Modernisierungsbestrebungen unter (halb-)säkularen Vorzeichen seitens diktatorischer Regimes, als "fundamentalistisch" deklarierte religiös-kulturelle Reaktionen auf das Vordringen westlich-liberaler Denk- und Verhaltensmuster, sodann die geopolitischen Ambitionen der Großmächte im nahöstlichen Krisenbogen,  last but not least der offenbar unlösbare Israel-Palästina-Konflikt. Wann immer die genannten Konfliktmomente eklatieren, kommt es zu Flüchtlingsströmen in und aus der Region. Drängen die von Krieg und Verfolgung Bedrohten als Asylsuchende nach Europa, so verstärken sie nur den Strom derjenigen, die aus materiellen Gründen  ihr Glück  in den westlichen Wohlstandsgesellschaften suchen.

    Über die Folgen der anhaltenden, von unterschiedlichen Interessengruppen geförderten Migrationsbewegungen für die europäischen Gesellschaften findet keine ernsthafte Auseinandersetzung statt. Bestenfalls fordert die "Aufnahmegesellschaft" unter dem   Schlagwort  "Willkommenskultur"  die Anpassung an die hiesige Gesetzesordnung, ansonsten werden  die in den "Parallelgesellschaften" etablierten archaischen Strukturen politisch  hingenommen, sofern sie nicht in grotesker Verkehrung der Fakten als kulturelle "Bereicherung" der Mehrheitsgesellschaft deklariert werden.

    Wie angesichts dieser Tendenzen  die europäischen Nationen - laut Lissabon-Vertrag die Bausteine Europas - ihr von der Geschichte Europas geprägtes Selbstverständnis erhalten und  kontinuieren können, erscheint in hohem Maße fragwürdig.  In der Konsequenz berührt die Frage den Sinn von Nationalfeiertagen, des weiteren Symbolik und Inhalte der Zivilreligion.

    IV.
    Der 3. Oktober wurde dank der  weltpolitischen Bedingungen der deutschen Einigung ("Zeitfenster" für den 2+4-Vertrag) sowie der spezifischen Verhältnisse der seit dem Mauerfall in Auflösung begriffenen DDR durch Beitritt des zweiten deutschen Nachkriegsstaates zur westdeutschen Bundesrepublik Deutschland zum "Tag der deutschen Einheit". Einer derjenigen Politiker, dem in all den Jahren der Teilung die deutsche Einheit noch am Herzen lag, war der damalige SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel. In einem soeben erschienenen Buch  (Hans-Jochen Vogel - Erhard Eppler - Wolfgang Thierse: Was zusammengehört. Die SPD und die deutsche Einheit,  Freiburg i.B.: Herder Verlag 2014) - in einer Art Verteidigungsschrift den "Anteil der SPD am deutschen Einigungsprozess" dar. Er schreibt unter der Zwischenüberschrift "Der 3. Oktober wird Nationalfeiertag" folgendes:

    "Auf der staatlichen Ebene wurde die Einheit am 3. Oktober 1990 wirksam. Zu Recht ist dieser Tag auch zum nationalen Feiertag geworden. vorübergehende Überlegungen in unseren Reihen, stattdessen den 9. November zu wählen, wurden nicht weiter verfolgt. die Zahl der schon vor dem Mauerfall historisch bedeutsamer (sic) Ereignisse an diesem Tag - von der Erschießung des Paulskirchen-Abgeordneten Robert Blum im Jahre 1848 über die Revolution im Jahre 1918, den Hitler-Putsch im Jahre 1923 bis zur Reichspogromnacht im Jahre 1938 und dem Attentat Georg Elsers auf Hitler im Jahre wäre zu groß und der Interpretationsbedarf zu mannigfach gewesen." (S. 139).

    Man mag diesen Sätzen zustimmen - insbesondere, wenn man an a) die genannten historischen Unglücksdaten (aus historisch unvermeidlichen sowie politisch korrekten Gründen sei der 9. November 1918 von der Kennzeichnung ausgenommen) im Gedächtnis hat  b) die österreichischen Sensibilitäten bei der Interpretation der genannten Daten mitbedenkt und c) die geographisch-klimabedingt grauen deutschen Novembertage vor Augen hat. Ja, wir dürfen uns über den in Herbstfarben strahlenden 3. Oktober freuen.

    V.
    In die  Freude über einen Glückstag der deutschen Geschichte drängt sich die unsichere Frage nach der Zukunft Deutschlands und Europas auf. Eine Frage gilt der politischen Zukunft des 1990 wiedergewonnenen Nationalstaats und dessen Aufhebung in der ab 1992 sukzessiv in Richtung Bundesstaat ausgebauten Europäischen Union, deren bürokratisch-zentralistischer Charakter vielfach Anlaß zu Ärgernis gibt, deren machtpolitische Konstruktion und politische Zielsetzung Fragen aufwirft, die im herrschenden politisch-medialen Diskurs in Deutschland und anderswo tunlich gemieden werden.

    Die andere Frage gilt der Zukunft der Deutschen als historische Nation. Im ideologischen - einheitsgrünen -Selbstbild der bundesrepublikanischen Gesellschaft existiert die Frage nicht, sofern sie nicht vom Phrasenkatalog der mal multikulturell, mal nur pluralistisch, mal sich sonstwie konstituierenden "Zivilgesellschaft" zugeschüttet wird. Der  faktisch unbeschränkte Zugang zum "Einwanderungsland" Bundesrepublik verändert die historische Gesellschaft - oder  historische Nation - in Deutschland von Grund auf. Nach wie vor definiert sich diese Gesellschaft über die deutsche Geschichte, in erster Linie durch die Invokation der unsagbaren Verbrechen in der Ära des Nationalsozialismus.

    VI.
    Im vergangenen September war eine - von einer für Berliner Protestverhältnisse bescheidenen Anzahl von max. 6000 Teilnehmern frequentierte - Demonstration vor dem Brandenburger Tor angesetzt, die als Manifestation gegen "Antisemitismus" in Deutschland deklariert war. Der aktuelle Hintergrund  waren Haß- und Gewaltausbrüche bei Demonstrationen anläßlich des letzten Gaza-Krieges in mehreren Städten. Für jeden Beobachter unübersehbar, stammten die Akteure der judenfeindlichen Manifestationen aus dem nahöstlichen Migrantenmilieu. Die offenkundige Realität hinderte den als Redner auftretenden Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Nikolaus Schneider nicht, die unheilige  Trinität von "Antisemitismus, Islamophobie und Fremdenfeindlichkeit"  in Deutschland zu invozieren. Die Einsicht in das  factum brutum, dass ein erheblicher Teil der Migranten aus dem Morgenland allenfalls für die beiden letzteren Elemente der zivilreligiösen Trinitätsformel empfänglich ist, lag dem Protestanten-Chef als einem Interpreten deutscher Geschichte und Gegenwart fern.

    Zur Debatte steht die historische Zukunft der Deutschen, genauer: der politischen Integrationskraft der von Geschichtslast bedrückten historischen Nation der Deutschen in einer - von nicht wenigen  Protagonisten angestrebten - Postnation oder namenlosen political society. Was letztere betrifft, ist ein gravierender gesellschaftlicher Wandel im Gange, der über Herkunft, Kultur und Religion eine "neue Gesellschaft" hervorbringen könnte, für die der 3. Oktober als "Tag der deutschen Einheit" Hekuba ist, so belanglos wie alle anderen bedrückenden oder hell beglückenden Daten deutscher Geschichte.

    Vor Jahren erklärte der ZMD ("Zentralrat der Muslime in Deutschland") den 3. Oktober zum "Tag der offenen Moschee". Ein Schelm, wer denkt, der Initiator Nadeem Elyas, heute Ehrenmitglied des ZMD, ehedem Vorsitzender des Islamischen Zentrums Aachen, einer Unterorganisation der Muslimbruderschaft, hätte sich bei seiner der interkulturellen Begegnung dienenden Initiative nichts gedacht.

    VII.
    Wir aber denken am Ende dieses strahlenden 3. Oktober 2014 an die faszinierenden, glücklichen Tage im deutschen Herbst 1989 zurück.