In der "Gedenkbibliothek zu Ehren der Opfer des Stalinismus" gegenüber der Berliner Nikolaikirche referierte der Historiker Jörg Friedrich über sein neuestes mehr als 1000seitiges Buch "14/18. Der Weg nach Versailles" (Propyläen Verlag, Berlin 2014. Anders als ein Rezensent (Christoph Cornelissen, in FAZ v. 28-07-2014 http://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/joerg-friedrich-14-18-der-weg-nach-versailles-wenn-sich-der-qualmvorhang-langsam-hebt-13068854/deutsche-soldatengraeber-auf-13072580.html.) dem ob seiner provokativen Bücher in der Zunft und in den Feuilletons gemiedenen Erfolgsautor vorwarf, ging es Friedrich nicht um ein "Aufrechnen", auch nicht um eine neuerliche Revision der nur noch in deutschen "Sonderweg"-Zirkeln gehegten Fischer-Thesen, sondern um die Aufhebung der politischen Vernunft und den Verlust aller Menschlichkeit durch die mörderische Logik des Großen Krieges.
In einem anscheinend launig unterhaltsamen Ton verflocht er die uns gegenwärtig faszinierenden blutigen TV-Szenen in der Ukraine und in Nahost mit dem 1951 vermiedenen dritten Weltkrieg in Korea (J.F.: Yalu. An den Ufern des dritten Weltkriegs, Propyläen Verlag, Berlin 2007, 624 Seiten) und mit dem das Gedenkjahr 2014 beherrschenden Thema. Friedrich ging es ausdrücklich nicht um eine "revisionistische" Rekonstruktion der Julikrise, wohl aber um die Frage, warum die Großmächte in den Wochen nach dem Attentat von Sarajewo den Bündnisfall als gegeben erachteten und den Krieg in Kauf nahmen, warum spätestens nach dem Kriegseintritt Großbritanniens am 4.August 1914 die Logik des Krieges das Geschehen diktierte und die alte Clausewitzsche Doktrin vom Primat der Politik - und dem Krieg als dem politischen Zwecken dienenden Instrument der Politik - versagte. Der einstige - dem vermeintlich marxistisch widerspruchsfreien Trotzkismus zugetane - "Linke" Friedrich verzichtete auf den Begriff "Imperialismus". Er eröffnete ein Geschichtsbild, in dem die Linien der Kausalität in einem Gewirr zahlloser großer und kleiner, oft nachträglich ad hoc hinzugefügter Striche verschwinden.
1914 und 1919 versagte jene Ratio, die seit dem Wiener Kongreß Europa eine halbwegs stabile Friedensordnung gesichert hatte. Die einzige Logik, die nach Kriegsbeginn die jeweiligen Akteure laut Friedrich verfolgten, war im Ersten Weltkrieg die des totalen Sieges über den Gegner, der Verfolg der "unverzichtbaren" - historisch-politisch, geostrategisch und kriegsökonomisch begründeten - Ziele bis zum Ende, im Falle der USA die moralisch absolute Überhöhung des eigenen interessegebundenen Handelns gegenüber dem - seit den deutschen Zerstörungen und Gewaltakten in Belgien im August 1914 - verteufelten Erzfeind der Menschheit. Die jeglichen Kompromiß ausschließenden, jedem Verzicht auf die jeweiligen - nicht allein im deutschen Fall nach Kriegsausbruch ins Uferlose gesteigerten - Kriegsziele absagenden Bewegungen der Akteure, diktiert von Machtinteressen, von Fehlkalkulationen, von militärischen "Zwängen" und Zufällen, von persönlichen Rivalitäten - die wechselseitige Animosität der Generäle Rennenkampf und Samsonow verhinderte beispielsweise im August 1914 den womöglich kriegsentscheidenden russischen Sieg in Ostpreußen -, die Eigendynamik der im Weltkrieg potenzierten Kriegstechnik - all das hielt an bis zum endgültig kriegsentscheidenden Durchbruch der Engländer bei Amiens (8.8.1918). Aus der Logik des Krieges und des Sieges resultierte der Diktatfrieden von Versailles (sowie die anderen Pariser Vorortverträge), aus der Katastrophe des Ersten Weltkriegs die - so Friedrich - von Hitler und Stalin gemeinsam inszenierte Ouvertüre des Zweiten Weltkriegs.
Friedrich betont die - im Sinne humaner Vernunft - irrationalen Aspekte des in die Gegenwart hineinwirkenden Dramas des Großen Krieges. Er vertritt die These, für das Deutsche Reich hätte nach dem Frieden von Brest-Litowsk mit dem bolschewistischen Rußland (3.3.1918) der Sieg in Reichweite gelegen. Die Chance dafür habe nicht in dem von Ludendorff politisch ziellos angestrebten letzten "Sieg" ("ein Loch hineinhauen") im Westen gelegen, sondern im Angebot der Reichsführung an Frankreich eines Verzichts auf Elsaß-Lothringen. Selbst der "Tiger" Clemenceau hätte sich vor seinem kriegsmüden Volk einem solchen Friedensangebot nicht veweigern können. Die bereits mit einem Millionenheer in der Normandie präsenten USA hätten aus dem solcherart neutralen Frankreich nur wieder abziehen müssen...
Ohne Spekulation, ohne Betrachtung des Kontrafaktischen, ist Geschichtsschreibung - aller vermeintlich objektiven Fundierung der historischen Wirklichkeit in den Akten - nicht zu denken. Auf die Folgen des Ersten Weltkriegs - den Aufstieg Hitlers und die Logik des Zweiten Weltkriegs (dazu J.F.: "Der Brand", Propyläen Verlag, München 2002, 592 Seiten) sowie auf die Gegenwart bezogen - zum einen die Rolle der geschwächten Großmacht Rußland unter dem kalkulierenden Machtpolitiker Putin, zum anderen der Umgang mit der potentiellen Atommacht Iran -, drehte sich die Diskussion um die Frage des Nutzens oder Schadens des "appeasement".
Als distanzierter Historiker entzieht sich Friedrich der moralischen Verdammnis des "appeasement". Sowohl das auf Beschwichtigung (und Ablenkung) des Aggressors zielende Kalkül der "Appeaser" kann gutgehen - in diesem Sinne würdigte Friedrich den Erfolg der "Neuen Ostpolitik" - oder aber den Aggressor zu weiteren Provokationen ermutigen, bis... Umgekehrt kann das Ziehen der "roten Linie" den Zweck verfehlen: Wer die rote Linie benennt, muss seinen Worten Taten folgen lassen. Eben dies mag der derart in die vermeintliche Defensive gezwungene Gegner erstmal auf die Probe stellen. Das Kalkül ging im Falle der sowjetischen Raketenstationierung auf Cuba anno 1962 auf. Ob sich indes Feinde des gottlosen Westens wie ISIS davon beeindrucken ließen?
Der Historiker Friedrich kam zu einem Resümee, das der insbesondere hierzulande vorherrschenden Neigung zu "grüner" Moralpolitik entgegensteht: Im Hinblick auf einen unberechenbaren Herausforderer, der die Gesetze der politischen ratio geringschätzt, bewege sich der - oft nur vermeintlich selbst - Friedfertige zwischen Skylla und Charybdis. Fazit: Über der Geschichte, über unserer unerquicklichen, von nahegelegenen Kriegen beeindruckten und gefährdeten Gegenwart, liegt ein Hauch von Dezisionismus. Was nicht bedeutet, dass allein Carl Schmitt als Denker des Politischen zu gelten hat. Ebensowenig wie dessen schlichtes, wenngleich eingängiges Kriterium gilt das aus amerikanischen Western bekannte Schema bad guys-good guys.
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