Freitag, 3. Oktober 2014

Unzensierte Gedanken zum 3.Oktober

I.
Wenn  der 3. Oktober sich in  frühherbstlicher Farbenpracht darbietet, kommen selbst in Deutschland freudige Gedanken auf.  Sogar der "Tag der deutschen Einheit" gewinnt - fern der in einem der alten oder neuen Bundesländer  anberaumten, mit weihevollen politischen Bekenntnissen garnierten  Festveranstaltung -  an freudigem Glanz. Die Freude gilt nicht in erster Linie der am  3.Oktober 1990 vollzogenen staatlichen Neuvereinigung - in Bewusstsein und Wortwahl der meisten Deutschen, mehr in der DDR als in der damaligen Bundesrepublik,  war es die  "Wiedervereinigung"  -, sondern der Erinnerung an die Perzeptionen und Empfindungen in den drei Monaten  vom August 1989 über den 9. Oktober bis zum 9. November 1989. An jenem Abend, da ich, erschöpft von eines langen Tages Arbeit, in den  Fernsehnachrichten jene Schlußszene aus Günter Schabowskis  Pressekonferenz sah und hörte,   in der er - "meines Wissens  gilt das ab sofort"-  Reisefreiheit für alle ankündigte, entging mir die reale Bedeutung des Augenblicks und des Datums. Erst am frühen Morgen  nach dem ersten Telefonanruf,  an dem neblig sonnigroten Vormittag des 10. November, sodann beim Tanz auf der Mauer, drang der von den Deutschen in der DDR erzwungene Mauerfall, die welthistorische Zäsur am 9. November 1989, ins volle Bewußtsein: "...und wir können sagen, wir sind dabeigewesen".

Die historische Assoziationsfülle des Datums für "uns Deutsche" wurde  erst am Abend des 10. ins Gedächtnis zurückgerufen, als wir   in einer Kreuzberger Kneipe die Ostberliner Mitstreiter, die realen Mauer-Subversanten - darunter  m.W. kaum irgendwelche  idealistischen DDR-Bewahrer um jeden Preis -   trafen.  Es war die Frau von Ludwig Mehlhorn (1950 -2011) die an den unheilvollen 9. November 1938 erinnerte. Ich begegnete ihr zuletzt bei Ludwig Mehlhorns Beerdigung auf dem Friedhof Friedrichshain im Mai 2011.    -  Zur Biographie des "Dissidenten" Ludwig Mehlhorn siehe: http://www.havemann-gesellschaft.de/fileadmin/Redaktion/Aktuelles_und_Diskussion/Maerz-Dezember_2011/Ludwig_Mehlhorn_Biographie_.pdf.

Dass die staatliche Einheit der aus der Nazi-Katastrophe und dem Kalten Krieg hervorgegangenen Staatsgebilde zwischen Rhein und Oder in absehbarer Zeit eine historisch reale Chance haben könnte, schien vor dem 9. November 1989 den wenigsten Deutschen  noch plausibel, ungeachtet der - von immer weniger westdeutschen Politikern gepflegten - Rede von der "offenen deutschen Frage", selbst ungeachtet wiederholter Äußerungen Michail Gorbatschows, die immerhin Verständnis für die deutsche Problematik anklingen ließen. Selbst in Kohls CDU glaubten nur wenige noch daran, und Leuten wie Heiner Geißler - dem als "Mittler" in der absurden Stuttgart 21-Affäre wiederbelebten Bundespolitiker - war sie zu keiner Zeit  ein Herzensbedürfnis. Dass sie 1989/90 in weniger als einem Jahr realisiert wurde, könnte man diesbezüglich zu den historischen Mirakeln zählen. Voraus ging das eigentliche Wunder,  der von der sowjetischen Führung unter Gorbatschow und  - dank  fortschreitender Systemparalyse - von der SED hingenommene Machtverfall in der DDR bis hin zum Mauerfall.

II.
Die deutsche Einheit - die staatliche Einheit der  Deutschen in Gestalt der Bundesrepublik Deutschland - erscheint heute - 24 Jahre danach - wie selbstverständlich. Selbst unter den Genossen der "Linken" sehnt sich kaum  irgendwer nach dem Status quo ante murum fractum zurück, allenfalls ein paar Sektierer oder Bekloppte aus der Fraktion der "Antideutschen" (im Bundestag immerhin präsent in Person von Ulla Jelpke)  möchten die Teilstaaten wiederherstellen.

Ob die staatliche Einheit sowie die  Eigenstaatlichkeit  eines Volkes  historisch sinnvoll und - im Sinne des  kodifizierten, zugleich  "umstrittenen" Völkerrechtsprinzips der "Selbstbestimmung" - politisch geboten ist, scheint einerseits - im Hinblick auf die historisch zufällig wiedergewonnene deutsche Einheit - eine müßige und abstrakte Frage, andererseits angesichts der politisch höchst realen, wenngleich gewöhnlich für anachronistisch erklärten Sezessionsbewegungen in Europa - und in Quebec, Taiwan, Kurdistan etc. - eine akute Frage.

Die Frage zerfällt in Einzelfragen: a) Wer ist das "Volk" ("we the people"), wer gehört dazu? b) Bedarf das "Volk" eines  nationalen staatlichen Rahmens, in dem es sich politisch "selbst bestimmt"? c) Was heißt "Volk" und/oder Nation  angesichts der historisch  relativ kurzen Zeit der europäischen Nationalstaatlichkeit (als "demokratisches" Geburtsdatum sei hier an die kurzlebige  Republik Korsika 1755-1769 erinnert)? d) Welche theoretische und politisch-reale Qualität kommt dem ahistorisch gedachten Begriff der "Gesellschaft" zu? Selbst Rousseau und den amerikanischen "Verfassungsvätern" standen in ihrem Konzept des "Gesellschaftsvertrages" historisch reale Gesellschaften - in concreto: die griechische Polis, die Römische Republik, die Stadtrepublik Genf, nicht zuletzt die von  Pasquale Paoli proklamierte Republik Korsika - vor Augen. Sämtliche erfolgreichen oder mißglückten Versuche "demokratischer" Loslösung von Imperien oder von bestehenden Staaten gründeten nicht allein auf realer oder als real empfundener Unterdrückung, sondern auf Selbstbildern einer "historischen Nation", sei es in Polen  1831-1918, sei es in Finnland 1918, in den baltischen Staaten, in der Ukraine und im Kaukasus 1918 sowie erneut  1991, sei es beim Zerfall Jugoslawiens ab 1991 oder bei den mit unterschiedlicher Intensität verfolgten gegenwärtigen Sezessionsbestrebungen.

III.
Als politisch fragwürdig, in der Realität weithin unbrauchbar erweist sich der im Zuge der Entkolonialisierung proklamierte Begriff der" nationalen Selbstbestimmung" für die Mehrheit der in der UNO versammelten  "nations". Die Konflikte  in zahlreichen bestehenden Staaten (oder in "failing states") entspringen einem Ursachengeflecht, das im weitesten Sinne in der europäischen machtpolitischen und kulturellen Expansion vor - sowie  im Hinblick auf die Auflösung des Osmanischen Reiches nach - dem I. Weltkrieg und den weithin  mißglückten "Modernisierungsprozessen" verwurzelt ist. Die blutigen Konflikte entzünden sich innerhalb der von den europäischen Kolonialmächten einst willkürlich gezogenen Grenzen. Nicht zufällig mündete der "arabische Frühling" in Libyen, Syrien und Irak - von Ägypten abgesehen -  in einem blutigen Fiasko. Nur aus einer "westlichen" Fehlwahrnehmung heraus konnte man den diversen  Bewegungen einen freiheitlich-friedlichen Charakter und das Recht auf "Selbstbestimmung" ansinnen.

 Die seit den 1970er Jahren aufgebrochenen radikal-islamischen Bewegungen - mit der schiitisch-persischen  "Islamischen Revolution" im Iran als historischem Sonderfall - werfen, von ihrem mörderisch-blutigen Charakter abgesehen, als anscheinend "irrationale" Eruptionen das im Westen etablierte politologische und ideologische Kategoriensystem über den Haufen. Warum scheitert(e) die "westlich-demokratische" FSA in Syrien, warum verbreiten die Mordbrigaden des von einem sunnitisch-islamischen Theologen ausgerufenen Kalifats blankes Entsetzen, warum  konnte sich/kann sich  andererseits  - entgegen den eigentlichen Absichten der westlichen "Ordnungsmächte" - im nördlichen Iraq ein relativ stabiler Kurdenstaat mit anscheinend gesicherter Rechtsordnung etablieren?

Eine widerspruchsfreie Analyse  des blutigen Konfliktensembles in Nahost scheint schier unmöglich. Als historisch-politisch wirksame Faktoren seien stichwortartig genannt: Urbane Lebensweisen neben traditionalen, archaischen Strukturen,  ethnische, religiöse und kulturelle Antagonismen, Traditionen der Gewalt,   Modernisierungsbestrebungen unter (halb-)säkularen Vorzeichen seitens diktatorischer Regimes, als "fundamentalistisch" deklarierte religiös-kulturelle Reaktionen auf das Vordringen westlich-liberaler Denk- und Verhaltensmuster, sodann die geopolitischen Ambitionen der Großmächte im nahöstlichen Krisenbogen,  last but not least der offenbar unlösbare Israel-Palästina-Konflikt. Wann immer die genannten Konfliktmomente eklatieren, kommt es zu Flüchtlingsströmen in und aus der Region. Drängen die von Krieg und Verfolgung Bedrohten als Asylsuchende nach Europa, so verstärken sie nur den Strom derjenigen, die aus materiellen Gründen  ihr Glück  in den westlichen Wohlstandsgesellschaften suchen.

Über die Folgen der anhaltenden, von unterschiedlichen Interessengruppen geförderten Migrationsbewegungen für die europäischen Gesellschaften findet keine ernsthafte Auseinandersetzung statt. Bestenfalls fordert die "Aufnahmegesellschaft" unter dem   Schlagwort  "Willkommenskultur"  die Anpassung an die hiesige Gesetzesordnung, ansonsten werden  die in den "Parallelgesellschaften" etablierten archaischen Strukturen politisch  hingenommen, sofern sie nicht in grotesker Verkehrung der Fakten als kulturelle "Bereicherung" der Mehrheitsgesellschaft deklariert werden.

Wie angesichts dieser Tendenzen  die europäischen Nationen - laut Lissabon-Vertrag die Bausteine Europas - ihr von der Geschichte Europas geprägtes Selbstverständnis erhalten und  kontinuieren können, erscheint in hohem Maße fragwürdig.  In der Konsequenz berührt die Frage den Sinn von Nationalfeiertagen, des weiteren Symbolik und Inhalte der Zivilreligion.

IV.
Der 3. Oktober wurde dank der  weltpolitischen Bedingungen der deutschen Einigung ("Zeitfenster" für den 2+4-Vertrag) sowie der spezifischen Verhältnisse der seit dem Mauerfall in Auflösung begriffenen DDR durch Beitritt des zweiten deutschen Nachkriegsstaates zur westdeutschen Bundesrepublik Deutschland zum "Tag der deutschen Einheit". Einer derjenigen Politiker, dem in all den Jahren der Teilung die deutsche Einheit noch am Herzen lag, war der damalige SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel. In einem soeben erschienenen Buch  (Hans-Jochen Vogel - Erhard Eppler - Wolfgang Thierse: Was zusammengehört. Die SPD und die deutsche Einheit,  Freiburg i.B.: Herder Verlag 2014) - in einer Art Verteidigungsschrift den "Anteil der SPD am deutschen Einigungsprozess" dar. Er schreibt unter der Zwischenüberschrift "Der 3. Oktober wird Nationalfeiertag" folgendes:

"Auf der staatlichen Ebene wurde die Einheit am 3. Oktober 1990 wirksam. Zu Recht ist dieser Tag auch zum nationalen Feiertag geworden. vorübergehende Überlegungen in unseren Reihen, stattdessen den 9. November zu wählen, wurden nicht weiter verfolgt. die Zahl der schon vor dem Mauerfall historisch bedeutsamer (sic) Ereignisse an diesem Tag - von der Erschießung des Paulskirchen-Abgeordneten Robert Blum im Jahre 1848 über die Revolution im Jahre 1918, den Hitler-Putsch im Jahre 1923 bis zur Reichspogromnacht im Jahre 1938 und dem Attentat Georg Elsers auf Hitler im Jahre wäre zu groß und der Interpretationsbedarf zu mannigfach gewesen." (S. 139).

Man mag diesen Sätzen zustimmen - insbesondere, wenn man an a) die genannten historischen Unglücksdaten (aus historisch unvermeidlichen sowie politisch korrekten Gründen sei der 9. November 1918 von der Kennzeichnung ausgenommen) im Gedächtnis hat  b) die österreichischen Sensibilitäten bei der Interpretation der genannten Daten mitbedenkt und c) die geographisch-klimabedingt grauen deutschen Novembertage vor Augen hat. Ja, wir dürfen uns über den in Herbstfarben strahlenden 3. Oktober freuen.

V.
In die  Freude über einen Glückstag der deutschen Geschichte drängt sich die unsichere Frage nach der Zukunft Deutschlands und Europas auf. Eine Frage gilt der politischen Zukunft des 1990 wiedergewonnenen Nationalstaats und dessen Aufhebung in der ab 1992 sukzessiv in Richtung Bundesstaat ausgebauten Europäischen Union, deren bürokratisch-zentralistischer Charakter vielfach Anlaß zu Ärgernis gibt, deren machtpolitische Konstruktion und politische Zielsetzung Fragen aufwirft, die im herrschenden politisch-medialen Diskurs in Deutschland und anderswo tunlich gemieden werden.

Die andere Frage gilt der Zukunft der Deutschen als historische Nation. Im ideologischen - einheitsgrünen -Selbstbild der bundesrepublikanischen Gesellschaft existiert die Frage nicht, sofern sie nicht vom Phrasenkatalog der mal multikulturell, mal nur pluralistisch, mal sich sonstwie konstituierenden "Zivilgesellschaft" zugeschüttet wird. Der  faktisch unbeschränkte Zugang zum "Einwanderungsland" Bundesrepublik verändert die historische Gesellschaft - oder  historische Nation - in Deutschland von Grund auf. Nach wie vor definiert sich diese Gesellschaft über die deutsche Geschichte, in erster Linie durch die Invokation der unsagbaren Verbrechen in der Ära des Nationalsozialismus.

VI.
Im vergangenen September war eine - von einer für Berliner Protestverhältnisse bescheidenen Anzahl von max. 6000 Teilnehmern frequentierte - Demonstration vor dem Brandenburger Tor angesetzt, die als Manifestation gegen "Antisemitismus" in Deutschland deklariert war. Der aktuelle Hintergrund  waren Haß- und Gewaltausbrüche bei Demonstrationen anläßlich des letzten Gaza-Krieges in mehreren Städten. Für jeden Beobachter unübersehbar, stammten die Akteure der judenfeindlichen Manifestationen aus dem nahöstlichen Migrantenmilieu. Die offenkundige Realität hinderte den als Redner auftretenden Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Nikolaus Schneider nicht, die unheilige  Trinität von "Antisemitismus, Islamophobie und Fremdenfeindlichkeit"  in Deutschland zu invozieren. Die Einsicht in das  factum brutum, dass ein erheblicher Teil der Migranten aus dem Morgenland allenfalls für die beiden letzteren Elemente der zivilreligiösen Trinitätsformel empfänglich ist, lag dem Protestanten-Chef als einem Interpreten deutscher Geschichte und Gegenwart fern.

Zur Debatte steht die historische Zukunft der Deutschen, genauer: der politischen Integrationskraft der von Geschichtslast bedrückten historischen Nation der Deutschen in einer - von nicht wenigen  Protagonisten angestrebten - Postnation oder namenlosen political society. Was letztere betrifft, ist ein gravierender gesellschaftlicher Wandel im Gange, der über Herkunft, Kultur und Religion eine "neue Gesellschaft" hervorbringen könnte, für die der 3. Oktober als "Tag der deutschen Einheit" Hekuba ist, so belanglos wie alle anderen bedrückenden oder hell beglückenden Daten deutscher Geschichte.

Vor Jahren erklärte der ZMD ("Zentralrat der Muslime in Deutschland") den 3. Oktober zum "Tag der offenen Moschee". Ein Schelm, wer denkt, der Initiator Nadeem Elyas, heute Ehrenmitglied des ZMD, ehedem Vorsitzender des Islamischen Zentrums Aachen, einer Unterorganisation der Muslimbruderschaft, hätte sich bei seiner der interkulturellen Begegnung dienenden Initiative nichts gedacht.

VII.
Wir aber denken am Ende dieses strahlenden 3. Oktober 2014 an die faszinierenden, glücklichen Tage im deutschen Herbst 1989 zurück.


Montag, 15. September 2014

Kritik am Ausschluss Russlands aus Europa

I.
Kritik an der vom "Westen" gegenüber Russland verfolgten Politik war seit dem Eklat der Ukraine-Krise (datierbar auf den 23.11.2013), erst recht  seit Ausbruch des Krieges im Donbass  kaum irgendwo zu finden, am ehesten noch in den Leserbriefen, die auf blinde Flecken in der in den deutschen "Leitmedien" vermittelten Wahrnehmung hinwiesen. Durchwegs ging es im Politikteil, in den Korrespondentenberichten aus der Krisenregion, in den Leitartikeln sowie in den Feuilletons um die Verteidigung demokratischer Grundwerte auf dem Majdan, um die Erhebung des Volkes gegen den korrupten Janukowitsch und seine Oligarchen, um das Recht der Ukraine auf  "Selbstbestimmung" gegenüber dem neo-imperial agierenden Russland unter dem autoritären, eurasisch inspirierten, aggressionslüsternen Putin.

Aus derlei Perspektive konnte man über die weniger erfreulichen Phänomene des auf dem Majdan versam-melten Protests hinwegsehen, die Hintergründe des Kriegsszenarios im Industrierevier am Don ausblenden, den gegen die "Separatisten" angerückten Bataillone des "Rechten Sektors" aus der Westukraine zumindest kämpferische Qualitäten zubilligen (wenn schon keine lupenreine demokratische Gesinnung). Nach dem Absturz - oder Abschuss? -des Flugzeugs MH17 der Malaysian Airlines über der Ost-Ukraine mit 298 Toten (s. dazu: spiegel-online vom 24.08.2014,  http://www.spiegel.de/panorama/flug-mh17-was-das-schweigen-der-ermittler-ueber-den-abschuss-bedeutet-a-987100.html.) war die Sache für die Kommentatoren endgültig klar: In der Ukraine steht demokratische Freiheit gegen großrussisch gesteuerten Terror.

Schon vorher waren Zweifel an der offiziellen Doktrin verstummt, die da  lautet:  Russland,  unter Putin in seine alte Tradition der Autokratie zurückgefallen, gehört nicht zu Europa. Entsprechend verkündete die neue EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini - bei ihrer Berufung durch Jean-Claude Juncker wurde ihr noch eine verständnisvolle Haltung gegenüber Putin nachgesagt - nach dem NATO-Gipfel in Wales (04.09.2014), was  eben dort nicht zufällig der polnische Verteidigungsminister als erster erklärt hatte: Russland sei für Europa kein strategischer Partner mehr.

II.
NATO dixit. Der Ausschluss Russlands aus dem "gemeinsamen Haus Europa" scheint beschlossene Sache.

Mit Erstaunen  liest man daher den mit  "Lesen Sie Putins Stellenbeschreibung" übertitelten Artikel  (in: FAZ v. 12.09.2014, S. 11) der langjährigen Russland-Korrespondentin der FAZ Kerstin Holm, aus deren  Feder bis dato nichts anderes denn moralisch aufgebrachte Anklagen gegen die in Putins Reich herrschende Unfreiheit, Willkür, Schwulen- und Intellektuellenfeindschaft zu lesen waren. Die Journalistin scheint eine conversio erlebt zu haben. Denn Russland ist für sie untrennbarer Teil der  "okzidentalen Kultur", die sie als einen großen Organismus begreift, der  von den USA (als Kopf) über Europa (ein "formenreichen Körper", zugleich "Brutstätte und Paradiesgarten künstlerischer Ideen") bis nach Russland reicht, dem sie die Funktion der "tragenden Füße" zuweist. Weiter unten  - nach Nennung der großen Namen der russischen Literatur und Musik - wird das Bild abgewandelt: "Ohne die russische Erfahrung würde die europäische Kultur vollends wattig und kastriert."

Nach all dem metaphorischem Überschwang  kommt die Autorin zum Politischen, und zwar zu ihrer "Stellenbeschreibung des russischen Präsidenten". Gemeint sind die geopolitischen  Handlungsbedingungen Putins in seinem unsicheren, geschwächten Riesenreich ("ein überdehntes, untervölkertes, rauhes Land"). Dieses sehe sich den politischen Konzepten der NATO unter Führung der USA ("das oberste Nervenzentrum in seiner geostrategisch exzeptionell begünstigten Lage") ausgesetzt..  "Im entwickelteren Westen" (?), will heißen im östlichen Mitteleuropa, habe die NATO das gesamte von Gorbatschow freigegebene Terrain besetzt und rücke immer näher an die russischen Grenzen heran. Die Analyse  im Donbass der in Krieg ausgeuferten Konflikte zwischen Washington, Kiew und Moskau fällt für Putin bemerkenswert verständnisvoll aus: "Wie sollte da ein russisches Staatsoberhaupt den Gorbatschow-Jelzin-Kurs nicht bitter bereuen...?"

Die Autorin bemüht das Bild des russischen Bären, den man in seiner Höhle nicht reizen dürfe. Die am bösen Spiel mit dem Bären beteiligten Staaten werden mit Ausnahme der Amerikaner, deren "Spieltrieb so viel Spaß daran findet,diese [Putins] Schwäche auszunutzen und Russland zu reizen und zu destabilisieren", nicht genannt. Der bloße "Spieltrieb" mag dem Stil des Feuilletons entsprechen, nicht dem Wesen der Politik, gleichviel: Die Akteure in Kiew verlieren  an demokratischem Glanz, nicht allein, weil sie - hier verfällt die Autorin in den üblichen Politjargon - ihre "allerersten Hausaufgaben" noch zu erledigen hätten. "Bisher haben sich die Regierenden, die den internen Konflikt zur Kraftprobe zwischen den Bevölkerungsgruppen eskalieren ließen, noch ihre westlichen Berater, ein Reifezeugnis ausgestellt." Dass es den "westlichen Beratern" nicht um ein Reifezeugnis geht, sondern um die geopolitische Besetzung einer Schlüsselregion, käme dem Kern der Sache analytisch näher. Immerhin warnt die  Autorin - im Hinblick auf die diffizile historische Geographie der Ukraine - auch davor, die Rebellen im Osten "pauschal als ´Separatisten´ darzustellen".

III.
Das von der Autorin empfohlene Konzept einer bundesstaatlichen Neugliederung  der Ukraine, eines  friedlichen Ausgleichs mit dem durch "Finnlandisierung", durch einen auf Rücksichtnahme und Kooperation gegründeten Status des Landes, ähnelt den in Globkult (24.08.2014) von Christian Wipperfürth ("Die Ukraine, der Westen und Russland") vorgestellten Lösungsvorschlägen. Ob sich  die Mächtigen ("Eliten", "decision-makers")  in Washington, Brüssel und Berlin - wo offenbar  selbst Außenminister Steinmeier auf einen harten Kurs eingeschwenkt ist - von derlei Überlegungen, die auf Frieden, Sicherheit und Kooperation "im  gemeinsamen Haus Europa" zielen, beeindrucken lassen, steht dahin.

Wahrscheinlicher ist, dass man nach Vollzug der EU-Assoziierung der  Ukraine großzügige Hilfe zukommen lässt. Materielle Unterstützung kann das Land immer gebrauchen, selbst wenn der - mit Einhilfe seitens Putin zustandegekommene - Waffenstillstand mit den Rebellen halten sollte. Wenn die Rundfunkmeldung der letzten Woche zutrifft, plant die Regierung in Kiew die Errichtung einer 2500 km langen Mauer zur Sicherung ihrer Grenze. Dafür benötigt sie gewiss mehr als nur Baumaterialien. Wir Mauergeprüften dürfen hoffen, dass es sich nur um eine Tatarenmeldung aus der östlichen Ukraijna handelt.

Mittwoch, 10. September 2014

Die Errungenschaften der neuen deutschen Rechtsordnung

Lesenswert in der "Qualitätszeitung" FAZ sind die Leserbriefe. In der  heutigen  Ausgabe (Nr.210  v. 09.09.2013, S. 6) bezieht der Frankfurter Professor Dr. Axel Schönberger Stellung gegen Bundesinnenminister Thomas de Maizière. Mit dem Satz, "die islamische Rechtsordnung der Scharia werde [Konjunktiv in der Zitation Schönbergers, apodiktischer Indikativ im Originalzitat] auf deutschem Boden nicht geduldet" hatte de Maizière auf den Auftritt einer mit uniformähnlichen Warnwesten ausgestatteten "Sharia Police" - selbst die wenngleich nicht unbedingt  im  Habermasschen  Sinne universalistisch orientierten Salafisten bedienen sich des Englischen als global Pidgin - in Wuppertal, dereinst eine kalvinistisch-pietistische Hochburg, reagiert hatte.

Dass derlei  Worte bestenfalls  als populistische Scharfmacherei zu werten sind, entnehmen wir dem Leserbrief des o.g. Professors. Er belehrt den Innenminister Dr.jur. de Maizière über die in der Bundesrepublik herrschende Rechtspraxis, wonach in Rechtsfällen von Muslimen, die aus Ländern mit der Scharia als Rechtsgrundlage, "deutsche Gerichte ihrer Rechtsprechung seit langem (?) auch die Scharia zugrunde[legen]." Im einzelnen betreffe die von "deutschen Gerichten" - der indefinite Artikel lässt auf  juristische Beliebigkeit schließen - geübte Praxis  "Ehescheidungen, Unterhaltszahlungen an Zweit-, Dritt-, oder Viertfrauen, Aufteilungen von Witwenrenten einer polygamen muslimischen Ehe oder auch erbrechtliche Fälle, in denen Söhnen gemäß der Scharia ein größerer Anteil am Erbe als Töchtern zusteht."

Die Begründung von derlei "seit langem" - denkt der Jurist Schönberger an eine als Entgegenkommen an den samt Anhang ab 1941  in Berlin residierenden Großmufti von Jerusalem von NS-Juristen ersonnene Rechtsauslegung? - praktizierten Rechtsordnung zielt ins Universalistische und lautet wie folgt: "Selbstverständlich wendet die deutsche Justiz in Zeiten der Globalisierung auch islamisches Recht an, sofern es nicht zu den Grundrechten und unserer öffentlichen Ordnung in Widerspruch steht." Nur derjenige Leser (sc. dem Gleichheitsprinzip und der Gleichstellungspraxis gemäß auch diejenige Leserin), dem/der Art. 3, (2) GG und Art. 6 GG (im Grundrechtskatalog)  nach all den Debatten über die - in der Scharia m.W. nicht vorgesehene - Homo-Ehe noch immer nicht geläufig sind, wird an der Formulierung "selbstverständlich" Anstoß nehmen. Bekanntermaßen duldet die metaphysisch gemeinte Formel "selbstverständlich" keinen Widerspruch, was schon die amerikanischen Revolutionäre um Thomas Jefferson wussten.

Der Jura-Professor räumt ein, dass es "durchaus Staaten [gibt], welche ausländisches Recht und damit auch die Scharia grundsätzlich nicht dulden." Doch in Deutschland sei dies nicht der Fall, "entgegen der Äußerung des Bundesinnenministers [wird] die islamische Rechtsordnung der Scharia  in weiten Teilen auf deutschem Boden nicht nur geduldet, sondern ständig angewandt." Dass derlei Rechtspraxis die staatliche Rechtseinheit untergräbt, scheint den Rechtsprofessor nicht zu irritieren, im Gegenteil, er rechtfertigt sie mit dem Gleichheitsgrundsatz: "Eine [sic!] Verbot der Anwendung der Scharia etwa bei der Bemessung  von Witwenrenten polygamer Ehen hätte beispielsweise die Benachteiligung von Zwei-, Dritt- oder Viertfrauen zur Folge." Offenbar geht es dem Autor dieses Satzes auch um mehr Gerechtigkeit in der globalisierten Welt.

Dass der Frankfurter Rechtsprofessor die in Ländern wie Saudi-Arabien geübte, das Vier-Frauen-Limit transzendierende Ehe- und Familienpraxis in seiner Argumentation nicht erwähnt, sei ihm nachgesehen. Schließlich geht es ihm um die höheren Werte unserer neuen deutschen Rechtskultur. Vor dem Hintergrund unserer Vergangenheit und gemäß dem Diktum unseres Gauck-Vorgängers Wulff haben wir die neue interkulturelle Rechtsordnung als "Bereicherung" zu verstehen. Wer dagegen Zweifel anmeldet, da ihm - ganz anders als dem Geschichtsdenker vor 100 Jahren - der reale Untergang des Abendlandes vor Augen steht, wer wie de Maizière "auf deutschem Boden" keine andere Rechtsordnung dulden will, wird nicht nur von Schönberger zurechtgewiesen. Für die nächsten Tage haben die Islamverbände (Plural) Demonstrationen gegen den in Nazistan obwaltenden  "Rassismus" angekündigt. Die Demos werden sich vermutlich bis zum 3. Oktober 2014 hinziehen. Sie erinnern daran, dass die neue Rechtsordnung  der Pflege unserer Willkommenskultur dient.




























Dienstag, 2. September 2014

Volkes Widerspruch zur Predigt

Ich schicke meinem letzten Kommentar zu den Weltläuften, genauer: zur politischen Zwecknutzung des Weltkriegsgedenkens,  einen Leserkommentar hinterher, den ich soeben beim "Browsen" auf Welt-online  fand: http://www.welt.de/politik/deutschland/article131811689/Gauck-droht-in-Polen-dem-Aggressor-Putin.html




"Für mich, für uns, für alle Nachgeborenen in Deutschland, erwächst aus der Schuld von gestern eine besondere Verantwortung für heute und morgen."
NEIN, Herr Gauck!
Ich habe keine Schuld, meine Eltern nicht und meine Kinder auch nicht. Es erwächst auch keine besondere Verantwortung für mich und meine Kinder.

Der Leser Gerd H. zieht es angesichts der denkbaren Reaktionen auf seinen politisch unerwünschten Widerspruch zur letzten  Gauck-Rede vor, sich als Anonymus vorzustellen. Dessen ungeachtet spricht er vielen Deutschen aus dem Herzen, die frei von familiären Nazi-Belastungen, den Mut aufbringen, die permanente Invokation und Instrumentalisierung eines kollektiven Schuldbegriffes für sich und ihre Kinder zurückzuweisen. Besäße Gauck  oder sein Redenschreiber (hier auch: - e Redenschreiberin) den Mut, die Fähigkeit und die Größe, das Schuldthema historisch,  historisch-ethisch, individualethisch - meinethalben seiner  einstigen Profession gemäß in Abgrenzung vom protestantischen Ersatz-Credo auch theologisch -  zu explizieren und zu differenzieren,  und sodann - unbeschadet von dem zur rhetorischen Standardfloskel verkommenen "Schuld"-Begriff -  von politischer Verantwortung zu sprechen, fände er kaum Widerspruch. Anstelle politischer Predigten leistete er einen historisch  verdienstvollen Beitrag zur Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer komplexen, vom Nazi-Unheil überschatteten Geschichte und zum verantwortungsvollen Umgang mit der komplexen politischen Gegenwart. 

Reden und Realitäten im Gedenkjahr 2014, zum 1. September

Von einem wohlwollenden Leser des Blogs ermahnt, aus dem Ferienaugust in den gedenktagsreichen September, will heißen, in die unerfreuliche und unfriedliche Wirklichkeit zurückzukehren, fühle ich mich in die Pflicht genommen. Die gestrigen (1.September 2014) von Kerzenlicht erwärmten Feierlichkeiten und historischen Gedenkreden  auf der Danziger Westerplatte sowie die medialen Beschwörungen - es geht um demokratische "preparedness to preserve peace and freedom by military means" - der vom sinistren großrussischen Aggressor Putin ausgehenden Kriegsgefahren sind geeignet, das TV-Publikum in seiner demokratischen Friedensliebe zu erschüttern. Die bis dato  friedliebenden Deutschen sollen unter Anleitung des einstigen Friedenspastors Joachim Gauck auf mehr Kampfmoral, wenn schon nicht  auf Kriegsbereitschaft eingestimmt werden. Dabei geht es längst nicht nur um Waffenlieferungen an die Kurden und um weitere "robuste" friedenssichernde Einsätze der zur globalen Berufsfeuerwehr umfunktionierten Bundeswehr, sondern um die richtige Rekonstruktion des Feindbildes im Osten,  um den Ausschluss Russlands aus dem "gemeinsamen Haus Europa". Resigniert erinnerte Michail Gorbatschow, der Erfinder der einst segensreichen Formel, an das Verblassen seiner - aus politischem Interesse geborenen -Friedensvision.

Ich wage die - von Wunschdenken hoffentlich ungetrübte - Prognose, dass es wegen des kleinen Krieges in der Ost-Ukraine, dessen Ursprünge in die west-östlichen Machtspiele vor dem 23.November 2013, in ihren tieferen Tiefen bis in den I. Weltkrieg   zurückreichen,   letztlich doch nicht zum großen Krieg des "Westens" mit der unter Putin wiedererstarkten Großmacht Russland kommen wird. Soviel Vernunft ist bei den meisten der am blutigen Kriegsspiel um das Donezk-Becken Interessierten, selbst bei der derzeitigen ukrainischen Führungsriege, erst recht bei dem kühlen Rechner Putin, vorauszusetzen. Dessen ungeachtet werden die Spielsteine in dem bereits in den 1990er Jahren, in der Ära des überforderten Jelzin, wieder eröffneten Great Game derzeit weiter verschoben. Die NATO plant  die Errichtung von  Stützpunkten im Raum zwischen Ostsee und Schwarzem Meer. Parallel dazu erscheint die NATO-Mitgliedschaft samt EU-Assoziation der Ukraine und Georgiens aus "westlicher" Perspektive erneut als eine  "realistische" Option, geboten zuvörderst und unzweifelhaft aus den lautersten Gründen politischer Moral, als Reaktion auf Putins großrussisch-eurasisches Machtstreben.

Dass sich die deutschen Politik in diesem von mehreren Spielern aus  unterschiedlichen Interessen  und Motiven betriebenen Machtspiel in eine unbequeme Position gedrängt sieht, wird angesichts des  Rückzugs des Außenministers Steinmeier von seiner bisherigen Vermittlerrolle evident. Den Ton der deutschen Außenpolitik bestimmen die Gedenkreden unseres Bundespräsidenten Gauck zum 1. August 1914 sowie zum 1. September 1939.

Ich darf meine "unz(w)eitgemäße" Betrachtung zu den Reden im Gedenkjahr 2014 mit einem erneuten Hinweis auf meinen bereits 2009  in Iablis erschienenen Aufsatz schließen:
H.A.: Geopolitik – Zur Wiederkehr eines verloren geglaubten Begriffs im 21. Jahrhundert, in: 
http://www.iablis.de/iablis_t/2009/ammon09.html



Dienstag, 5. August 2014

Nachtrag zum letzten "Überfall"

Dem Blogger war beim Hören der RBB-Nachrichten - mit halbem Ohr um ca. 9.00h - noch nicht klar, dass die Nachrichtenredaktion offenbar bereits die Rede unseres Bundespräsidenten Gauck übermittelt bekommen hatte und sogleich für ihren Nachrichtentext, der die Gedenkfeier in Lüttich ankündigte,  verwendete.

Am Informationsfluß von Schloß Bellevue in die Sendezentrale Masurenallee gibt es nichts zu mäkeln. Daß sich die Redaktion sogleich der Diktion der Gauck-Rede anpaßte, ist im Hinblick auf die demokratische Symbiose von Politik und  Medien nicht weiter verwunderlich.

Die gestern geäußerte Irritation über die Semantik des "Überfalls auf Belgien"  gilt folglich dem allenthalben in der FAZ, der "Welt"  und anderswo als vorbildlich gerühmten Auftritt unseres Bundespräsidenten, genauer: seinem Redenschreiber. Die von Clark, Münkler und anderen aufgeworfenen historischen -"revisionistischen" -Fragen passen offenbar nicht in die politischen Gedenkreden.

Montag, 4. August 2014

Nichts als Überfälle

Der Blogger meldet sich mit einer kurzen Notiz zum Weltkriegsgedenken zurück. Die von Staatspräsident Hollande und Bundespräsident Gauck  unternommene Gedenkveranstaltung auf dem Hartmannsweilerkopf verdient als große Geste der Versöhnung Anerkennung. Hollandes Satz über das "Universelle" im Patriotismus entspricht dem französischem Selbstverständnis. Der selbst in Frankreich von der politisch-sozialen Wirklichkeit zusehends entwertete  republikanische Begriff ist leider auf die postnationale deutsche Gegenwart schwer übertragbar. Selbst Gustav Heinemanns Bekenntnis zu einem "schwierigen Vaterland" stieße heute in den  Medien  vermutlich auf mokante Ablehnung, im fußballberauschten "Volk" auf simples Unverständnis.

Zum medial vermittelten "richtigen" historischen  Selbstverständnis der  diesbezüglich ethnisch zu definierenden Deutschen (laut taz "Biodeutsche") gehört der Begriff des "deutschen Überfalls". Der Begriff des Überfalls setzt die Ahnungslosigkeit des Angegriffenen voraus. Die komplexe Vorgeschichte von Kriegen samt den - mit oder ohne vorherige Kriegserklärung - vorgetragenen kriegerischen Aktionen des Angreifers wird in der suggestiven Semantik des Wortes "Überfall" eskamotiert.

Heute, 4.August 2014, findet in Lüttich eine Gedenkveranstaltung anläßlich des deutschen Einmarsches 1914 in Belgien statt. Die militär-strategische Zwangslogik des Schlieffen-Planes, der die Verletzung der belgischen Neutralität voraussetzte, ohne die politischen  Konsequenzen ins Kalkül einzubeziehen, wird unter den Heutigen keinen einzigen Apologeten finden. Immerhin hat in der maßgeblich von ihm ausgelösten, anhaltenden Kriegsschulddebatte Christopher Clark  gleichlautende Konzepte der englischen wie der französischen Führung in Erinnerung gebracht. Demgegenüber betont Gerd Krumeich, dass die französische Planung aus politischen Erwägungen heraus vom Durchmarsch durch Belgien  letztlich Abstand nahm und seine Offensivverteidigung auf das Elsaß und auf Lothringen ausrichtete.

Dass die Deutschen mit ihrem von diplomatischen Faux-pas begleiteten,  mit dem - nach  Verweigerung des Durchmarsches - nach einer formellen Kriegserklärung eröffneten Einmarsch das Völkerrecht verletzten und somit im Kabinett Asquith bestehende  Zweifel  an Weisheit und Zweck eines englischen Kriegseintritts beseitigten, steht außer Frage. Bethmann-Hollwegs  halb deprimiert,  halb leichtfertig geäußertes Wort von "einem Fetzen Papier",  der einen Krieg nicht lohne, illustriert die politische Hilflosigkeit der  Reichsführung bei Kriegsausbruch.

Das Konzept des Schlieffen-Plans war allenthalben bekannt, auch der belgischen Regierung. Wie immer man die Verletzung der belgischen Neutralität, den als "Durchmarsch" geplanten Einmarsch  sowie das mit der Kriegserklärung einhergehende Angebot auf nachträgliche Kompensation der  Kriegsschäden beurteilen mag, es handelte sich nicht um einen gänzlich  unvorhersehbaren Angriff, mithin nicht um einen "Überfall".

Derlei historische Fakten spielen in der medialen Aufbereitung der Augusttage 1914 zum hundertjährigen Gedenken keine Rolle mehr. Für die Nachrichtenredaktion im RBB war heute morgen die
Sache klar: Die  Gedenkveranstaltung in Lüttich sollte an den "deutschen Überfall" auf Belgien erinnern.

Donnerstag, 17. Juli 2014

Notiz zum 20. Juli

Für die alljährlich  dem   20. Juli 1944 gewidmete Ausgabe der "Jungen Freiheit" (JF Nr.30/14) führte Moritz Schwarz  ein Interview mit der Dokumentarfilmerin Irmgard von zur Mühlen, die zusammen mit ihrem Ehemann Bengt von zur Mühlen über achtzig  Filme zur deutschen Geschichte geschaffen hat. Zu ihren wichtigsten Werken gehören die Dokumentarfilme zum 20. Juli, angefangen mit "Geheime Reichssache" (1979), ein Film, der erstmals die von Goebbbels unter Verschluß gehaltenen Szenen der Verschwörer-Prozesse  in Freislers "Volksgerichtshof" öffentlich machte.

Als Frau von zur Mühlen ein paar Jahre später den Fernsehanstalten ihren Film über "Die Frauen des 20. Juli" anbot, stieß sie auf Desinteresse. Daraufhin wurde die Dokumentation zuerst im DDR-Fernsehen ausgestrahlt, was in der FAZ höchste Entrüstung erregte. Der Film wurde dann 1985 von Guido Knopp im ZDF gezeigt. Ähnlich desinteressiert reagierte noch 2001  der RBB (Rundfunkanstalt Berlin-Brandenburg), als von zur Mühlen ihren Film über Harald Poelchau, der als Geistlicher und unerkannter Mitverschworener  viele Opfer der Nazi-Justiz auf ihrem letzten Weg zur Hinrichtung begleitete, präsentierte.  "Hätte ich was über Schweinezucht in der Niederlausitz gemacht, hätten sie es gleich genommen! Aber der 20. Juli...."

Ethos und Motive der Verschwörer skizziert Frau von zur Mühlen, 1936 in Berlin geboren, wie folgt:. "Meist waren es Menschen von besonderer Haltung, wie man sie heute nur noch selten findet. [...] Vaterlandsliebe, Verantwortungsbewußtsein - das waren die hervorstechendsten Eigenschaften." Sie zitiert die Worte, mit denen Fritz-Dietlof von der Schulenburgs  dem Präsidenten des "Volksgerichtshofs" Freisler entgegentrat:: "Wir haben diese Tat auf uns genommen, um Deutschland vor einem namenlosen Elend zu bewahren. Ich bin mir im klaren, daß ich dafür gehängt werde, aber ich bereue meine Tat nicht."

Was die ungeachtet der jährlichen Gedenkfeiern  medial  nach wie vor vorherrschende Geringschätzung des 20. Juli sowie die Wahrnehmung der Deutschen unter dem NS-Regime betrifft, so äußert Irmgard von zur Mühlen Widerspruch: "Es gab so viele Deutsche, die damals Zivilcourage beweisen haben, aber mir ist, als wolle das kein Mensch wissen."

Frau von zur Mühlen hat unter anderem einen Film über Fritz Lindemann, General der Artillerie, gemacht. Lindemann hatte als hochdekorierter Front- und Besatzungsoffizier in Polen im Umgang mit der leidenden Bevölkerung Zivilcourage - ein  anno 2014 zum billigen Klischee geronnener Begriff -  bewiesen. 1943 in den Führungsstab des OKH befördert, trat er in den Widerstand ein. Über Lindemann hat  Bengt von  zur Mühlen ein  Begleitbuch mit  dem Titel "Sie gaben ihr Leben. Unbekannte Opfer des 20. Juli. Fritz Lindemann und seine Fluchthelfer, Berlin-Kleinmachnow 1995, Der vergessene Verschwörer" herausgegeben, das auf den  Forschungsergebnissen des Dresdner Historikers Wolfgang Welkerling basiert. Der  "vergessene Verschwörer" Lindemann wurde nach einer vergeblichen Fluchtodyssee verraten und hingerichtet.

Siehe dazu meinen Aufsatz
"Ein Signal an Seydlitz über Madame Kollontai. Sperrige Fakten zur Geschichte des 20. Juli",  erstmals in: in  Geschichte-Erziehung-Politik (GEP) 7-8/1996, S. 401-403; auch in: GlobKult, http://www.globkult.de/herbert-ammon/592-ein-signal-an-seydlitz-ueber-madame-kollontai  sowie in:.
https://www.academia.edu/2928425/Helmut_Lindemann_-_ein_ungeruhmter_Mann_des_20._Juli_1944




Dienstag, 15. Juli 2014

Nach all dem Jubel in Rio und Berlin, Berlin

Das Positive zuerst: Über das Auftreten "unserer" Fußballtruppe in Brasilien, wo gemäß der von  Auguste Comte verkündeten historischen Gesetzlichkeit   ordem e progreso herrschen soll,  dürfen wir uns freuen. Unsere Mannschaft  - in Schwarz-Weiß-Rot (!!!???) - kämpfte durchwegs wacker, gegen Brasilien  fulminant und im Finale noch  siegreich, ganz ohne Elfmeterschießen. Dass allenthalben die Fairness der Deutschen gerühmt wird,  hört man gern. Jogi Löws Mannschaft  weckte Sympathien nicht nur auf dem Spielfeld (und auf der Reservebank),  sondern auch nach den Spielen in den von den Interviewern abgeforderten Kommentaren. Wer Mats Hummel in druckreifen Sätzen sprechen hörte, konnte nicht umhin, dessen Diktion mit dem vorgefertigten Phrasenkatalog zu vergleichen,  über den die Mehrheit unserer classe politica verfügt

Spätestens, wenn die Großen dieser Welt auf der Ehrentribüne Platz nehmen, ist es mit der Phrase, Sport sei die wichtigste Nebensache der Welt, vorbei. Ach, wie durften  wir uns mitfreuen, als Angela Merkel und Joachim Gauck in patriotischem Jubel die Arme hochwarfen! Warum Cristina Kirchner - angeblich krankheitshalber  - dem Endspiel fernblieb, entzieht sich unserer Kenntnis. Womöglich hatte sie eine Vorahnung. Dafür saß ihr jüngster Verbündeter Wladimir Putin direkt neben Angela Merkel, jedenfalls eine Zeitlang, als Dilma Rouseff (noch oder bereits wieder) abwesend war.  Sport verbindet, aber dass die beiden in  derlei kurzer Zeit zu einer diplomatischen Übereinkunft in der  Ukraine-Krise hätten gelangen können, war angesichts der macht- und geopolitisch hochkomplexen Konfliktlage - soeben erließ Putin Cuba zig Milliarden Schulden und sah sich nach Stützpunkten auf dem amerikanischen Subkontinent um - leider von vornherein auszuschließen. Zur Linken Merkels hatte der Bundespräsident Platz genommen, neben ihm der mit zahlreichen Frauen gesegnete, von barbusigen Femen unbehelligte Jacob Zuma. Gauck hätte den Kollegen aus Südafrika fragen können, ob die deutschen Investitionen in der RSA so sicher seien wie die in Putins Russischer Föderation.

Wie es heute mit dem nationalen Jubel in Berlin auf der "Fanmeile" weiterging, entnahm der Blogger bislang nur  den Morgennachrichten. Unser Regierender Bürgermeister Wowereit erklärte, dass auch er sich über den großen sportlichen Erfolg "riesig" freue, oder so ähnlich. Insgeheim freut er sich gewiss auch, dass er angesichts der Berliner Parteienlandschaft eine Abwahl  nicht zu befürchten hat. Mit ihm dürfen sich  oben auf dem Podest am Brandenburger Tor über den Massen vielleicht auch noch andere "Spitzenpolitiker" über den deutschen Endsieg in Rio freuen.

Bei all dem Jubel  nährt  der Blogger gegenüber dem patriotischen Juhu gewisse Zweifel. Die vielen Fahnen und sonstigen  schwarz-rot-goldenen Accessoires made in China werden alsbald wieder aus den Straßen, Tankstellen, Kneipen und  Edeka-Märkte verschwinden. Der politische Alltag hat mit der von den Sozialdemokraten europatriotisch mitgetragenen Wahl des christsozial-konservativen "Spitzenkanidaten" Jean-Claude Juncker bereits begonnen. Angesichts der nur verschleppten Schuldenkrise in den "Südstaaten" und der französischen Wirtschaftslage kann die Eurokrise jederzeit wieder hervorbrechen.

Was den inneren Zustand dieses unseres Landes  - die  Medien witzelten mal wieder über "-schland" - betrifft, so äußern sich alle befriedigt über die von Jogi Löws Team demonstrierten Fortschritte der Integration. Man mag von Nationalhymnen halten, was man will - immerhin sind die Verse der deutschen im Vergleich zu vielen anderen friedlich und unblutig. Ob jemand mitsingen will oder nicht, ist seine Sache. Dass der Oberschlesier Podolski - anders als Klose - ein gewisses Identitätsproblem hat, scheint verständlich. Hingegen illustriert die ostentative  emotionale Abstinenz von  in Deutschland geborenen WM-Siegern wie Khedira, Özil und Boateng die ideologischen Tiefenschichten der "Integration" - die  innere, bewusste Dazugehörigkeit zu dem mit seiner spezifischen Nationalgeschichte ausgestatteten "Einwanderungsland" Deutschland.

Spätestens wenn die islamistischen "Gotteskieger" (unlängst noch ein Unwort")  wieder in  ihr mitteleuropäisches  Geburtsland zurückreisen, stellt sich das Thema neu. Unterdesssen  protestieren arabische (sowie mutmaßlich noch andere muslimisch-migranitsche)  Jugendliche in Frankfurt und Berlin gewaltsam mit Steinen und Molotowcocktails gegen die Gewalt in Israel/Palästina...

Samstag, 5. Juli 2014

Kriegsschulddebatte (Forts).:Gerd Krumeich über Versailles

Im Blick auf die stets mit dem Schlußsatz eines Blogs endenden Google-Exzerpte beginne ich den folgenden Kommentar mit dem  Hinweis auf meine früheren Blog-Einträge zur "revisionistischen" Kriegsschulddebatte:  (30.6.2014; 02.06.2014; 03.1.2014;17.12.2013) sowie auf einen Aufsatz zu "Versailles": https://www.academia.edu/3195505/Versailles_Gedenkort_deutscher_Geschichte
                                             
                                                                 ***
Der Düsseldorfer Emeritus Gerd Krumeich, einer der besten Kenner der Geschichte des I. Weltkriegs, fügt im Interview mit Moritz Schwarz in  der "Jungen Freiheit" (Nr. 28/4.Juli 2014, S.3) der von Chr. Clark ausgelösten neuerlichen Kriegsschulddebatte einige bemerkenswerte Aussagen hinzu.

Einerseits wendet er sich gegen Clarks "absolute Reinwaschung der Deutschen" - eine m.E. überspitzte Lesart der "Schlafwandler" - und betont erneut "die deutsche Hauptverantwortung für die Auslösung des Krieges". Der Kaiser und die deutsche Reichsführung hätten Österreich zu einem schnellen, erfolgreichen Krieg mit Serbien ermuntert. Das von Österreich an Serbien gestellte Ultimatum (25.Juli 1914) sei von Wien in Abstimmung mit  Berlin in faktisch unannehmbaren Formulierungen verfasst worden. Ungeachtet dieser impliziten, auf Serbien gerichteten Kriegsabsicht sei man dabei allenfalls das Risiko der Ausweitung eingegangen - dies in deutlicher Distanz zu Fritz Fischer, der anhand der Julikrise  die seit 1912 verfolgte, zielstrebige deutsche Absicht zum großen Krieg, zum "Griff nach der Weltmacht" postulierte.

Mit der auch von anderen Fischer-Kritikern bekannten Argumentation bewegt sich Krumeich in gemäßigt revisionistischen Bahnen. Äußerst provokativ klingen hingegen andere Sätze des Interviews. Gegen John G.C. Röhl, der den Satz des Generalstabschefs Moltke, über "diesen Krieg, den ich geplant und begonnen habe", als "Beweis" für die Aggressivität des Deutschen Reiches zitiert, verweist Krumeich  auf die simple Tatsache, Kriegsplanung sei das Geschäft des Generalstabs. "Es ist beinahe ein Fetisch von Röhl, dieses Zitat in geradezu bösartiger Weise zu interpretierten."

Krumeich will nach eigenen Worten aus der von "Lagern" bestimmten Debatte über die moralische Kriegsschuld der beteiligten Mächte - mit Deutschland als des aus der Sicht der Fischer-Anhänger Allein- oder Hauptschuldigen - heraus.  Und so formuliert er am Ende  des Interviews, wo er Clarks historiographische Leistung - gerade im Hinblick auf die Kausalität des Zweiten Weltkriegs - würdigt,  einige frappierend "inkorrekte", geradezu unerhörte Sätze:

 "...Clarks Buch ist  in der Tat eine Absage an die Behauptung, wir Deutschen hätten eine Geschichte, die immer nur auf Hitler zugelaufen sei. Nach 1945 wurde Hitler mit Versailles erklärt und damit war keiner irgendwie schuld. Dann kam diese junge Historikergeneration, die diese Heuchelei zu Recht hinterfragt und die Strukturen recherchiert, hat. Doch hat das schließlich zu einer Konstruktion geführt - von Bismarck zu Hitler-, die auch nicht stimmte. Und ich meine, da müssen wir heute raus! Deshalb habe ich zum Beispiel auch wieder angefangen, vom Versailler Vertrag zu sprechen. Was mr prompt von halblinks bis halbrechts (!) den Vorwurf eingebracht hat, das möge ja alles historisch richtig sein, aber nationalpädagogisch sei es unverantwortlich! Dabei ist der Vertrag tatsächlich eine Katastrophe - ich hätte ihn übrigens auch nicht unterzeichnet. Und wenn heute so getan wird, als sei er doch eine ganz annehmbare Grundlage gewesen, dann lache ich mich kaputt! Nein, in dieser Hinsicht ist Clark wie ein Befreiungsschlag. Das erklärt auch den ungeheuren Erfolg seines Buches bei uns: Clark ist sozusagen der Medizinmann, der den Deutschen, die sich nach einer normalen Geschichte sehnen, Heilung bringt. Mit ihm haben wir es "amtlich".: wir sind auch nicht schlechter als die anderen.  Nun, das ist ja richtig, nur dürfen wir ob diese Glücksgefühls bitte nicht vergessen, wie es ansonsten historisch tatsächlich war."