Samstag, 5. Juli 2014

Kriegsschulddebatte (Forts).:Gerd Krumeich über Versailles

Im Blick auf die stets mit dem Schlußsatz eines Blogs endenden Google-Exzerpte beginne ich den folgenden Kommentar mit dem  Hinweis auf meine früheren Blog-Einträge zur "revisionistischen" Kriegsschulddebatte:  (30.6.2014; 02.06.2014; 03.1.2014;17.12.2013) sowie auf einen Aufsatz zu "Versailles": https://www.academia.edu/3195505/Versailles_Gedenkort_deutscher_Geschichte
                                             
                                                                 ***
Der Düsseldorfer Emeritus Gerd Krumeich, einer der besten Kenner der Geschichte des I. Weltkriegs, fügt im Interview mit Moritz Schwarz in  der "Jungen Freiheit" (Nr. 28/4.Juli 2014, S.3) der von Chr. Clark ausgelösten neuerlichen Kriegsschulddebatte einige bemerkenswerte Aussagen hinzu.

Einerseits wendet er sich gegen Clarks "absolute Reinwaschung der Deutschen" - eine m.E. überspitzte Lesart der "Schlafwandler" - und betont erneut "die deutsche Hauptverantwortung für die Auslösung des Krieges". Der Kaiser und die deutsche Reichsführung hätten Österreich zu einem schnellen, erfolgreichen Krieg mit Serbien ermuntert. Das von Österreich an Serbien gestellte Ultimatum (25.Juli 1914) sei von Wien in Abstimmung mit  Berlin in faktisch unannehmbaren Formulierungen verfasst worden. Ungeachtet dieser impliziten, auf Serbien gerichteten Kriegsabsicht sei man dabei allenfalls das Risiko der Ausweitung eingegangen - dies in deutlicher Distanz zu Fritz Fischer, der anhand der Julikrise  die seit 1912 verfolgte, zielstrebige deutsche Absicht zum großen Krieg, zum "Griff nach der Weltmacht" postulierte.

Mit der auch von anderen Fischer-Kritikern bekannten Argumentation bewegt sich Krumeich in gemäßigt revisionistischen Bahnen. Äußerst provokativ klingen hingegen andere Sätze des Interviews. Gegen John G.C. Röhl, der den Satz des Generalstabschefs Moltke, über "diesen Krieg, den ich geplant und begonnen habe", als "Beweis" für die Aggressivität des Deutschen Reiches zitiert, verweist Krumeich  auf die simple Tatsache, Kriegsplanung sei das Geschäft des Generalstabs. "Es ist beinahe ein Fetisch von Röhl, dieses Zitat in geradezu bösartiger Weise zu interpretierten."

Krumeich will nach eigenen Worten aus der von "Lagern" bestimmten Debatte über die moralische Kriegsschuld der beteiligten Mächte - mit Deutschland als des aus der Sicht der Fischer-Anhänger Allein- oder Hauptschuldigen - heraus.  Und so formuliert er am Ende  des Interviews, wo er Clarks historiographische Leistung - gerade im Hinblick auf die Kausalität des Zweiten Weltkriegs - würdigt,  einige frappierend "inkorrekte", geradezu unerhörte Sätze:

 "...Clarks Buch ist  in der Tat eine Absage an die Behauptung, wir Deutschen hätten eine Geschichte, die immer nur auf Hitler zugelaufen sei. Nach 1945 wurde Hitler mit Versailles erklärt und damit war keiner irgendwie schuld. Dann kam diese junge Historikergeneration, die diese Heuchelei zu Recht hinterfragt und die Strukturen recherchiert, hat. Doch hat das schließlich zu einer Konstruktion geführt - von Bismarck zu Hitler-, die auch nicht stimmte. Und ich meine, da müssen wir heute raus! Deshalb habe ich zum Beispiel auch wieder angefangen, vom Versailler Vertrag zu sprechen. Was mr prompt von halblinks bis halbrechts (!) den Vorwurf eingebracht hat, das möge ja alles historisch richtig sein, aber nationalpädagogisch sei es unverantwortlich! Dabei ist der Vertrag tatsächlich eine Katastrophe - ich hätte ihn übrigens auch nicht unterzeichnet. Und wenn heute so getan wird, als sei er doch eine ganz annehmbare Grundlage gewesen, dann lache ich mich kaputt! Nein, in dieser Hinsicht ist Clark wie ein Befreiungsschlag. Das erklärt auch den ungeheuren Erfolg seines Buches bei uns: Clark ist sozusagen der Medizinmann, der den Deutschen, die sich nach einer normalen Geschichte sehnen, Heilung bringt. Mit ihm haben wir es "amtlich".: wir sind auch nicht schlechter als die anderen.  Nun, das ist ja richtig, nur dürfen wir ob diese Glücksgefühls bitte nicht vergessen, wie es ansonsten historisch tatsächlich war."


Montag, 30. Juni 2014

1914: Von der Einfalt eines Akademiepräsidenten beim Erzählen vom Großen Krieg

I.
Die von Christopher Clark und  Herfried Münkler ausgelöste  Debatte über die Schuldanteile am Ausbruch des Großen Krieges hält an. Soeben (in der  FAZ v. 30.06. 2014, S. 6)  hat Peter Graf Kielmannsegg einen lesenswerten Beitrag beigesteuert, indem er unter dem Titel "Schuld und Halbschuld" die  Frage nach den (Schuld-)Verantwortlichkeiten der Mächte in dreifach differenzierende Perspektive rückt: a) Entscheidungs- und Handlungsablauf gemäß der Chronologie der Julikrise b) Entscheidungspielräume der Akteure c) systemische Entscheidungsbedingungen. Unter letzteren benennt er die  auf den Kontinent gerichtete Machträson Großbritanniens, das - durch Poincarés Staatsbesuch (20.-23.Juli 1914) befestigte - Bündnis Frankreichs mit dem Zarenreich sowie die deutsche Mittellage - ein jahrzehntelang verpönter, seit 1989 als historisch-politischer Faktor - wenn nicht als geopolitische Determinante - wieder hoch aktueller Begriff.

II.
Inmitten der in den Feuilletons mit Eifer geführten Debatte lud Bundespräsident Gauck am 26. Juni europäische Historiker und "Kulturschaffende" ins Schloss Bellevue zu einer Veranstaltung unter dem Thema "Geteilte Erinnerungen, gemeinsame Erfahrung?". Der Untertitel lautete, den historiographischen Modebegriff  "Erzählung" (oder "Narrativ") aufnehmend, "Europa erzählt vom Krieg". Dass die "Erzählungen"  wiederum unter nationalspezifischer Perspektive stehen, wird - entgegen dem Titel "Dieser Krieg hat viele Väter, aber keine Kinder" -  in  dem Tagungsbericht sichtbar. Der FAZ-Berichterstatter Lorenz Jäger vermerkt unter anderem, dass "in der ansonsten exzellenten Gruppe der Historiker" neben Christopher Clark und Herfried Münkler einer - als zusätzlicher "Revisonist" - fehlte: Jörg Friedrich. "Aber er hat sich mit seinem Buch ´14/18. Der Weg nach Versailles´ offenbar aus dem Konsens herausgeschrieben, wenn er die gespenstisch hohen Opfer der alliierten Hungerblockade in Deutschland thematisiert."

Was gewisse deutsche Deutungsweisen des großen Gemetzels betrifft,  so lieferte  Klaus Staeck, Präsident der Akademie der Künste, bekannt als "engagierter" Künstler und seine Plakate (ursprünglich Rechtsanwalt) einen bemerkenswerten Beitrag. Nachdem Gauck an Franz Marc ("Der Blaue Reiter") erinnert hatte, der zu den vielen gefallenen Kriegsfreiwilligen - aller Nationen - zählt, bekannte Staeck, er habe erst jetzt, auf der Tagung, etwas von der Kriegsbegeisterung unter Künstlern und Dichtern  erfahren.

Wer naive Malerei zu schätzen weiß, beneidet deren Schöpfer ob ihrer begnadeten Einfalt. Dass Vertreter dieser Kunst zu Berliner Akademiepräsidenten berufen werden, ist  trotz Quotenregelung kaum denkbar.

Mittwoch, 25. Juni 2014

Beichtspiegel und Burka

I.
Der Titel "Chrismon. Das evangelische Magazin" des Druckerzeugnisses, das laut Impressum  allmonatlich der "Welt", der "Zeit" der FAZ,  der "Leipziger Volkszeitung" und der SZ - beiliegt, entstammt als Urkundenannex  der mittelalterlichen Diplomatik. Womöglich aber  verdankt er seinen Namen - gedacht als PR-Gag - der Kontraktion des Adjektivs "christlich(e/r)" und des Nomens "Monat" - oder  eher der "Monatsbeilage"? Als Herausgeberin fungiert neuerdings  neben den hochrangigen bischöflichen Amtsträgern und der ex-bischöflichen Margot Käßmann die im November 2013 "überraschend" als "Kompromisskandidatin" (s. wikipedia) zur Präses (lat. =Vorsitzende, -r) der Synode der EKD gekürte Dr. Irmgard Schwaetzer.

Für die Wahl qualifizierte sich die protestantische Vorsitzende, von Haus aus Apothekerin,  durch eine säkulare Karriere als  FDP-Politikerin. Ab 1982 im Bundestag,  wurde sie  - als Nachfolgerin des beim Kanzlersturz Helmut Schmidts, inszeniert von Genscher,  zur SPD übergewechselten Günter Verheugen - unverzüglich  FDP-Generalsekretärin, im Zweifelsfall durch Protektion Hans-Dietrich Genschers. Sie saß dem Arbeitskreis für Gesundheit, Soziales, Familie, Frauen etc. vor und wurde anno 1987 zur Staatsministerin im Außenministerium berufen. 1991 wirkte sie als Bauministerin  im dritten Kabinett Kohl. Nach Genschers mysteriös gesundheitsbedingtem Rücktritt 1992 - vor ca. einem halben Jahr  sah der Blogger den einst des "Genscherismus" Verdächtigten bei offenbar guter Gesundheit lustwandelnd Unter den Linden  - blieb der Politikerin der Aufstieg zu Höherem verwehrt. Parteifreund Graf Lambsdorff verhinderte sowohl die Wahl zur Parteivorsitzenden als auch die Berufung zur Außenministerin.  Unvergesslich sind dem Blogger die bitteren Tränen der als "Frau" einst geförderten, sodann nach eigener Deutung als "Frau" gestürzten Politikerin sowie ihre christlichen Worte an den Parteifreund (der Adressat mag auch der 2003 durch Fallschirmsuizid geendete Jürgen Möllemann gewesen sein): "Du intrigantes Schwein."

Danach wandte sich Schwaetzer als Vorsitzende des "Deutschen Komitees Katastrophenvorsorge e.V." dem mehr Caritativen sowie als Vorsitzende des Domkirchenkollegiums am evangelischen Berliner Dom (2004-2013) dem Spirituellen zu. Die ergänzenden Daten zum  Privatleben der pensionierten Politikerin - einst apostrophierte sie Herbert Wehner unter Mißachtung ihres (ersten) Ehenamens Adam-Schwaetzer schlicht als "Frau Schwaetzer" - entnehmen wir der unfehlbaren Quelle  Wikipedia, weitere Klatsch-Details zum öffentlichen Privatleben ("Reif für die Ehe") sind über die dort angegebenen "Spiegel"-Links zu ermitteln.

II.
a) In der jüngsten Ausgabe von "Chrismon" findet das auf  Umweltsünde(n) reduzierte Sündenbewußtsein des Lesers  unter dem Titel "Ich brauche nun mal ein Auto!"   eine Art Beichtspiegel, der ihn zur Reue gemahnend auf acht Seiten  klarmacht,  dass er mit billigen Ausreden vor dem CO 2 -Weltgericht nicht davonkommt. Zugleich wird das gründeutsche, subventionierte Landschaftsverschönerungsprojekt nicht nur für sündenfrei erklärt, sondern, in den Worten eines Potsdamer Klimaforschers, zum deutschen (!) universalen Heilsversprechen erhoben: "...Wenn wir zum Beispiel Windkraftanlagen produzieren können, die so effizient und billig sind, dass China dafür auf die schmutzige Kohle verzichten kann und seinen Energiehunger auf erneuerbarem Wege stillen kann, dann hat Deutschland eine sehr, sehr große Rolle."  Da erhebt sich die nationale Seele, nur Antifa empört sich...

b) Angetan mit violettem Büßerschal stellt sich nun auch  Frau Schwaetzer  im "evangelischen Magazin"  mit einem eigenen Beitrag vor. Sie nimmt - mutmaßlich als "engagierte Christin" - Anstoß am Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, der den Ausschluss einer jungen Migrantin, die zu einen Berufsvorbereitungskurs (?) nur in keuscher Verhüllung  erscheinen wollte, für rechtens befand. Laut Schwaetzer wollte die Aspirantin ja nur ihren "Niqab, den Gesichtsschleier, der nur die Augen freilässt, tragen."

Die Argumente der Synodalpräses zugunsten des religiösen (& naturgemäß demokratischen) Rechts auf einen Gesichtsschleier - sowie  in Konsequenz auf eine blaue, graue oder schwarze Burka -  sind in ihrer Schlichtheit beeindruckend:  "Zweifellos wirken die schwarzen Schleier fremd. Aber ist das ein Argument? In unserem freien Land hat jeder das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, auf freie Religionsausübung." Wer meint, der verschleierten Jungfrau gehe es auf Befehl männlicher  Traditions- und Religionshüter nicht um die Entfaltung, sondern um die schwarzgewandete Verschließung ihrer Persönlichkeit, wird von der liberalen Ex-Politikerin eines anderen belehrt.  Es gehe um - zu ergänzen:das in Reformation und Aufklärung geborene (H.A.) -  Recht auf Selbstbestimmung.. "Jeder jungen Frau, die aus dem europäisch kulturellen Kontext stammt, trauen wir (sic!) diese Selbstbestimmung zu. Auch junge evangelische Christen [sic!-ungegendert] werden mit ihrer Konfirmation im Alter von 14 Jahren religionsmündig.[...] Warum trauen wir  einer jungen Frau, die in Deutschland aufgewachsen ist und einen Gesichtsschleier tragen möchte, diese Mündigkeit nicht zu?" - Ja, warum wohl nicht? Nachgedanke: Die Konfirmanden (sc. K-en u- K-innen) sind mit 14 etwa so religionsmündig wie die "Jugendweihlinge" (= Originalbezeichnung aus dem freidenkerischen Bildungsfundus Walter Ulbrichts)   in den ehedem evangelischen mittleren und östlichen Regionen des Landes.

Als nächstes kommt das numerische Argument: Es handle sich ja nur "um eine sehr kleine Minderheit von Frauen, die in Deutschland den Gesichtsschleier trägt." Irrtum. Es dürfte sich in den Städten mittlerweile um eine größere Minderheit handeln als bei dem Häuflein derjenigen, die, als Neonazis kostümiert und  tätowiert, uns tagtäglich mit Furcht vor dem Untergang der Demokratie erfüllen.

Zum Schluss gedenkt Frau Schwaetzer die Niquab-Frage durch protestantische Seelsorge zu lösen. Sie möchte "mit den verschleierten Frauen" über "religiöse Identität und den Wunsch nach Integration in die Gesellschaft " reden, "auch über ihre Ängste und Hoffnungen, ihre Lebensvorstellungen". Die geistliche Zurüstung für derlei Gespräche findet sie beim Apostel Paulus, Gal. 5, 22-23a.

Den Niqab-Trägerinnen wäre derlei interkulturelle Bibellektüre fraglos zu empfehlen. Hingegen empfindet nicht allein der  Blogger -  der als Kirchensteuerzahler derartigen gedruckten Irrsinn mitfinanzieren hilft -, sondern jeder noch  mit gesundem Menschenverstand ausgestattete Bundes- und Europabürger Frau Schwaetzers Chrismon-Bibelstunde als geistige Zumutung.







Sonntag, 15. Juni 2014

"Radikale Philosophie" und chinesische Praxis

I.
Die „Nacht der Philosophie“ am Institut Français im ehrwürdigen Maison de France beendete ich  um Mitternacht in der Pizzeria nebenan bei Bier und Gespräch mit Jürgen Tribowski, den ich in einem der proppenvollen Institutsräume entdeckt hatte. Zuvor hatte ich, bei überreichem Angebot zur Auswahl genötigt, einigen Vorträgen gelauscht, etwa über „Anfänge", über den Begriffswandel der „Gesellschaft“, über das Verhältnis von Politik und Ökonomie bei Hegel und Hannah Arendt. Sodann wollte ich mir noch anhören, was Frieder Otto Wolf, Honorarprofessor für Philosophie an der FU  Berlin sowie Präsident des Deutschen Humanistenverbandes,  zur "Aktualität radikaler Philosophie“ zu sagen hätte. Tribowski, einst Mitstreiter in „alternativen“ Bestrebungen zur realsozialistisch eingemauerten West-Berliner Wirklichkeit, hatte gleich abgewinkt.

Was Wolf, seinerzeit als Berliner Aktivist der „Alternativen Liste“ und „grüner“ Abgeordneter im gerade etablierten Europa-Parlament ein fleißig „konservative“ Gegenthesen produzierender Opponent unserer „radikalen“ Ideen zur Status-quo-Überwindung, in über 20 Minuten vorzutragen hatte, war alles andere als radikale Philosophie – verstanden als radikales Nachdenken über „die Lage“, über die Wirklichkeit anno 2014. Er traktierte das überwiegend jugendliche - erstaunlich geduldige - Publikum mit für aktuell erklärten Dogmen aus dem alten marxistischen Sammelkasten: Der Neoliberalismus sei erkennbar in seine Krise geraten, jetzt erweise sich erneut die Richtigkeit der Analyse der Produktionsverhältnisse. Gut so. Klassenbegriff und -kampf mied der einstige Mitherausgeber der „ProKla“ (= "Proklamationen des Klassenkampfs"), er hielt es mit dem Feminismus und den „neuen sozialen Bewegungen“, die, ausgestattet mit Erkenntnis der autoritären Strukturen und der kapitalistischen Wurzel aller Übel samt der ökologischen Krise, den Kampf um die die emanzipierte Zukunft der Menschheit aufgenommen hätten usw. usw. 

Dank derlei Rhetorik blieb die üble („unemanzipierte“) Realität außerhalb des Horizonts des ergraut-zerzaust in Hawaiihemd auftretenden Philosophen. Kein Wort über Putins Gas und die Ukraine, Energiefragen und Machtinteressen, über Geopolitik, über Gewalt  im Nahen Osten, über die gespaltene islamische Welt, über Orient und Okzident, Dschihadismus und Liberalismus („radikaler Humanismus“), über die kapitalistische Praxis der Kommunisten in China, über die Zukunft Afrikas – und die Zukunft Europas. Kein Wort über die Mediatisierung  des Bürgers durch die classe politica, kein Wort der Kritik an der alle Widersprüche und Machtverhältnisse überdeckenden Zivilreligion. 

II.
Als Kommentar zu derlei radikaler Realitätsferne kann ein Artikel von Thomas Scheen „Namibia will sich von Südafrika lösen“ in der FAZ (nr. 136, v. 14.06.2014, S. 20) dienen. Zwar wird der pointierte Titel bereits im zweiten Absatz relativiert: Die Abhängigkeit des politisch relativ stabilen, mit 2.2. Millionen Einwohnern bevölkerungsschwachen Landes vom großen, mächtigen – und zusehends krisenhaft korrupten – Nachbarland ist viel zu groß, als dass eine ökonomische Emanzipation in greifbarer Nähe schiene. Nichtsdestoweniger enthält der Bericht des Afrika-Korrespondenten  weltpolitsch erhellende harte Fakten. Sie illustrieren das ökonomische – und machtpolitische – Vordringen der neuen alten Weltmacht China auf dem afrikanischen Kontinent.

In der Nähe von Swakopmund baut China für 2 Milliarden Dollar ein neues Uranbergwerk. Zugleich versucht die namibische Regierung, die bescheidene heimische Produktion, beispielsweise in einem deutschen Zementwerk, vor chinesischen Billigimporten zu schützen. Durch den Ausbau des Hafens in Walvis Bay („Namport“) sollen vor allem die Transportwege für Rohstoffe aus dem südlichen Afrika (Öl aus Angola, Kupfer aus Sambia und Katanga, Steinkohle aus Botswana) verkürzt, die Kapazität der Exporte erweitert werden.

Die Steinkohle aus Botswana wird nach China verschifft. Der Energiehunger der – ungeachtet gewisser Krisensymptome - industriell  expandierenden Macht scheint unersättlich. Ein Reflex sind die anhaltenden, von militärischen Drohgesten - und Aufrüstung - begleiteten Spannungen im ostasiatischen Raum. Was schließlich den geopolitisch bedeutsamen Hafenausbau in Namibia betrifft, so bleibt zu fragen, welche EU-Nachbarländer – außer dem Hauptabnehmer China – als Importeure von Uranerz aus Namibia in Frage kommen. In grünen „Diskursen“ , nicht allein in der „radikalen“ Philosophie des erwähnten Denkers, kommen derlei Fragen nicht vor. 

Sonntag, 8. Juni 2014

Zum protestantischen Ablasshandel und zur protestantischen Geldver(sch)wendung

Pfingsten, das liebliche Fest war gekommen... Vor den ehedem christlichen Festtagen erhält der Blogger regelmäßig Post von „Brot für die Welt“, der allseits geschätzten Spendenaktion der EKD für die Eine, einst Dritte Welt. Sein Gewissen fühlt sich angesprochen, denn die Frage nach der auf Wertschöpfung beruhenden Grundlage, erst recht nach der Rechtfertigung seiner materiell relativ wohlsituierten Existenz „in unserem reichen Land“ will beantwortet werden. Die Betonung liegt auf „relativ“: man denke nicht bloß an die Millionengehälter der Spitzenmanager, sondern an die Einkünfte eines Vorder- oder Hinterbänklers im EU-Parlament oder im Bundestag, an die Pensionen (MdB, Umwelt- in Hessen, Außenminister in Berlin) samt Aufsichtsratstantiemen des Schulabbrechers Joschka Fischer, an die Gehälter der Medienfritzen und -miezen etc. Da sich die Ökonomen selbst nicht ganz einig sind, wo die Wertschöpfung stattfindet - jedenfalls nicht in der Finanzindustrie -, hält sich der Blogger, ehedem im Überbau tätig,  angesichts mancher mutmaßlich christlich genährten Zweifel an seiner privilegierten Existenz, an die Kosten-Nutzen-Formel: Wenn er spendet, fühlt sich des Bloggers sündige Seele wohl – jedenfalls so lange, wie ihn nicht andere Fragen umtreiben.

Dazu gehören, erstens: Wie lange wird unter den Bedingungen der Globalisierung – sowie des ungebremsten Anwachsens von „bildungsfernen Schichten“ - die Wirtschaftskraft Deutschlands ausreichen, um seine Rolle als ungeliebte Führungsmacht – und Hauptnettozahlerin in EU-Europa behaupten zu können? Zweitens: a) Was wird aus meinen eher maßvollen finanziellen Besitzständen angesichts der von der EZB soeben vermittels Negativ-Zinsen verstärkten Geldpumpe und angesichts der - ungeachtet der von Mario Draghi und anderen als „zu niedrig“ deklarierten Inflationsrate – bereits real stattfindenden Inflation? b) Wie lange halten die von der Troika ersonnenen Rettungsmechanismen vor, um die nächsten Finanz- und Staatskrisen abzuwehren? c) Wann kommt nach dem soeben von Finanzminister Schäuble angekündigten dritten Schuldenschnitt für Griechenland der vierte? d) Wann werden die Maastrichter Stabilitätskriterien endgültig makuliert, um  einen weicheren Euro zu bekommen und damit, vermeintlich gut keynesianisch, die maroden Bruderländer wieder in Schwung zu bringen? Drittens, last but not least: Reicht es - in ein paar Jährchen oder auch etwas später - zur Finanzierung der Kosten a) im halbwegs komfortablen Altersheim b) danach im weniger komfortablen Pflegeheim ?

Mit derlei Fragen im Hinterkopf stellt sich der Blogger die Frage nach Wert und Funktion des zeitgenössischen protestantischen Ablasshandels. Gewiss, bei der in solcherlei Praxis wesentlich länger - etwa seit dem Quatrocento - geübten katholischen Konkurrenz (mit bis dato ungebrochenem Monopolanspruch) gibt es als Pendant "Misereor", dazu vor Weihnachten noch „Adveniat“. Dort hat man z.Zt. leider noch ganz andere Geldsorgen....

Gleichwohl: Was ist mir mein Seelenfrieden unter den o.g. Bedingungen wert? Die Sache ist komplex, und ich würde sie mit den für Öffentlichkeitsarbeit zuständigen Gremien der Ev. Kirche gerne diskutieren oder, zeitgenössisch pastoral gesprochen, über das Thema einen Dialog führen..

Das Thema habe ich in meinem Blogeintrag Caritas oder Junkmail? vom 20.11.2013  bereits einmal angesprochen. Inzwischen ist gegen leichtfertige Spendenfreudigkeit ein neues Argument hinzugekommen: Vor ein paar Wochen richtete die EKD eine „wissenschaftliche“ Forschungsstelle für Gender Studies ein. Die dafür veranschlagte Summe soll € 217 000 (± x)) jährlich betragen. Der vom Blogger ob seiner Selbstgewissheit (s.a. Hochmut, lat.superbia, eine der sieben Todsünden) beneidete Nikolaus Schneider (s. http://www.globkult.de/gesellschaft/identitaeten/913-kritik-eines-protestantischen-sendschreibens-an-papst-franziskus) lieferte die Begründung für diesen jüngsten protestantischen Finanzposten: Seine Ehefrau habe ihn von der Notwendigkeit eines solchen Forschungsprojekts überzeugt.

Auf die Gefahr hin, der Gynäko-, Hetero-, Gamophobie oder sonstwas bezichtigt zu werden, gebe ich folgendes zu bedenken: Schlimm  und  beschämend für die deutsche Universität genug, dass es in diesem unseren Lande  inzwischen   mehr Lehrstühle für "Gender Studies" als für Slawistik gibt. Jetzt also eröffnet der deutsche Protestantismus eine zusätzliche Ideologie-Filiale. Solange die Evangelische Kirche die Proliferation von Gender-Ideologie als zeitgemäße Ausgießung des Heiligen Geistes erachtet und dafür Geld aus den zusehends spärlicher fließenden Kirchensteuermitteln ver(sch)wendet, fehlt ihrem Gewissensappell, „das Brot zu teilen“, die moralische Begründung. Der protestantische Ablasshandel kann den Blogger nicht mehr beeindrucken. Jedenfalls ist von ihm vor Heiligabend kein weiterer Groschen zu erwarten (sofern nicht ein Erdbeben in  Chili oder irgendeine andere der zahllosen "humanitären" Katastrophen dazwischenkommt).

Samstag, 7. Juni 2014

Gedanken zum Gedenken des D-Day

1. Heute versammelten sich die Mächtigen aus West und Ost in der Normandie zum Gedenken an den D-Day. Auch Merkel durfte dabei sein. In ihrer Gedenkrede im Ort Ranville, wo 322 deutsche Soldaten neben vielen britischen liegen,  traf sie den gewohnten Merkelschen Ton: Deutschland könne "dankbar" sein, "dass die Alliierten solche Opfer erbracht haben, um eines Tages die Befreiung vom Nationalsozialismus durchzusetzen". Andernorts traf sie sich zum distanziert wirkenden - so meine Information laut der  sexy-infantilen Infotainment-Internet-Berichterstattung in  yahoo! - Gespräch mit Putin. Auch Obama, der bei einer Gedenkveranstaltung seinen Nikotin-Kaugummi kaute, während die Marseillaise erklang, traf sich mit Putin. 

Selbst der neue ukrainische Präsident Poroschenko nutzte das Gedenken zu einem Gespräch mit Putin. Sie stimmten überein, dass dem Blutvergießen im Südosen der Ukraine [nicht in Novaja Rossija] "ein schnellstmögliches Ende" zu setzen sei. Wait and see. Wie das Spiel im Donbass weitergeht, steht noch offen.Wie Russland reagiert, wenn die USA Truppen demnächst in Polen - die Tschechen und Slowaken haben erstmal abgewinkt - stationiert, ist trotz aller Friedensbekundungen nicht abzusehen. Immerhin und Gottseidank: zum großen Krieg wird es nicht kommen. (Anm.: Die Deutschen würden auf keinen Fall mitmachen..)

2. Etwas verspätet schalteten wir eine Sendung auf Arte  zum Gedenken an den 6. Juni 1944 ein. Hochbetagte Veteranen, Überlebende  (und Angehörige der Gefallenen) der Schlacht auf beiden Seiten gaben ihren  Erinnerungen an die Schrecken des "längsten Tages" Ausdruck. Die Kämpfer von damals erinnerten sich in bewegenden Worten. Sie sprachen von Angst, Todesangst und verzweifeltem Überlebenswillen, vom Schmerz der Erinnerung an die neben ihnen getöteten Kameraden. Ein Engländer sprach, in bitterer, reuevoller Erinnerung, davon, dass auch sie, erbittert über den Tod der vielen an den Landungsstränden hingemähten Kameraden, .keine Gefangenen machten.  Ein  Deutscher sprach von den vielen, vielen Männern, die er, angsterfüllt hinter seinem MG knieend,  in Sekunden, Minuten zu Tode gebracht hatte.  Keine heroischen Reden, auch nicht, wo ein Mann aus einem Ort in Virginia vom notwendigen Opfer für die Befreiung von Hitler sprach. 

Die Sendung war eindrucksvoll, illusionslos und fair.  Im Nachspann wa rzu erfahren, dass die Sendung aus der unter dem Markenzeichen "History" firmierenden, spektakulär, oberflächlich aufgemachten - und nicht selten   fehlerbehafteten - histotainment-Werkstatt von Guido Knopp stammte. Doch für diese Dokumentation der Erinnerungen an den D-Day verdient der Fernsehprofessor ein Lob.

3. Bei einer Gedenkveranstaltung vor 7000 Gästen sprach der Sozialist Hollande bemerkenswerte Worte: «Ich möchte den Mut der Deutschen würdigen, die auch Opfer des Nazismus waren und in einen Krieg hineingezogen wurden, der nicht der ihre war und der nicht der ihre hätte sein sollen». Die Worte erinnern im Tenor an die versöhnliche Rede, die anno 1995 Francois Mitterand, kurz vor seinem Tode,  im Deutschen Bundestag hielt. Aus dem Munde der Feinde von gestern, die ihre spezifischen Geschichtsmythen pflegen, vernehmen wir Worte, die den Deutschen ("uns Deutschen") den Blick für die  Dialektik der Befreiung öffnen. Aus deutschem Politikermund  sind derlei Reflexionen kaum noch zu erwarten. Ebensowenig von unserer zeitgenössischen Intelligentsija.  

Montag, 2. Juni 2014

Zur Neuverteilung der Kriegsschuldanteile

Aufgrund der anhaltenden Diskussion erlaube ich  mir den Hinweis auf meinen  beim Publikum offensichtlich mit Interesse aufgenommenen Blogeintrag (vom 17.12./27.12.2013) zu der von Christopher Clarks Buch "Die Schlafwandler" ausgelösten neuerlichen "revisionistischen" Kriegsschuldthematik.

In der heutigen FAZ (02.06.2014, S. 6) hat sich  Heinrich August Winkler unter dem Titel "Die Oktoberreform" (vom 28.10.1918) des Themas angenommen, wobei er es gemäß seinem Credo vom "langen Weg nach Westen" mit der im konstitutionellen Kaiserreich nur unzureichend gelösten Demokratiefrage - gemeint ist die Parlamentarisierung der monarchischen Verfassung - verknüpft. Winkler konzediert den von Volker Ullrich (direkt) und von Hans-Ulrich Wehler (indirekt) ob ihres "Revisionismus" gescholtenen Autoren Clark und Herfried Münkler, ihre Bücher seien "von der Kritik in vieler Hinsicht mit Recht gelobt" worden, gibt aber dem von  Wehler als  "einsamer Spitzenreiter" in der "Literaturschwemme" zum Großen Krieg gerühmten Werk von Jörn Leonhard ("Die Büchse der Pandora") den Vorzug. Leonhards These, so Winkler, dass Deutschland "´ohne Zweifel eine besondere Verantwortung in der Julikrise´zukam, bedeutet keine Rückkehr zur längst widerlegten (sic !) Alleinschuldthese. Sie wirkt aber jenen nationalapologetischen Tendenzen in Deutschland entgegen, die durch die relativierenden Darstellungen der deutschen Politik in der Julikrise bei Clark und Münkler neuen Auftrieb erhalten haben."

In den Folgesätzen  bringt Winkler sein eigenes geschichtspolitisches Interesse zum Vorschein. Er wendet sich gegen Clarks Urteil, in allen fünf an dem sich in der Julikrise zuspitzenden Konflikt beteiligten Ländern sei "die militärische Planung letztlich den politischen und strategischen Zielen der zivilen Führungen untergeordnet" geblieben. Er weist diese These im Hinblick auf Berlin, Wien und St. Petersburg zurück und wendet sich insbesondere gegen Clarks These, in Berlin habe man Russlands Kriegsentschlossenheit vorerst nur zu sondieren gedacht. Es ist anzumerken, dass Winkler sodann nicht unbegründet die Idee des  "Testens" der russischen Bündnis- und Kriegsbereitschaft an der Seite Serbiens - samt Kriegsrisiko - den deutschen Militärs anlastet.Was den Druck der Militärs angeht, den er nicht nur in Wien - wo der Generalstabschef Conrad von Hötzendorf (von Winkler nicht ausdrücklich genannt)  seit langem den Präventivkrieg gegen Serbien (und folglich auch gegen Russland) propagierte  - und in Berlin, sondern immerhin auch am Zarenhof am Werk sah, so ist Winklers Argumentation plausibel.

Problematisch und kritikwürdig  ist  hingegen Winklers "antirevisionistische" - an Max Webers alte Kritik an der Reichsverfassung anschließende - Grundthese, die fehlende Parlamentarisierung, die allein dem Kaiser (als preußischem König) zugeordnete Position des Reichskanzlers und der zivilen Regierung, dazu die verfassungsrechtliche Sonderstellung des preußischen Militärs, habe in der Julikrise den Weg in den Krieg, den "Sprung ins Dunkle" vorgezeichnet.

Winkler hält Clark entgegen: "In Berlin wie in Wien waren in den Wochen nach dem Attentat keine ´Schlafwandler´, sondern Vabanquespieler am Werk. In St. Petersburg sah es nicht viel anders aus."
Immerhin. Um die seit Marx und Engels antizaristisch gesonnenen Sozialdemokraten für die  Zustimmung zu den Kriegskrediten (am 4. August 1914) historisch zu entlasten,  erinnert Winkler an die Chronologie in der Endphase der Julikrise. Auf die russische Generalmobilmachung - ein nach damaligen Maßstäben technisch- faktisch irreversibler Akt - erfolgte das deutsche  Ultimatum. Erst danach kam die Kriegserklärung aus Berlin. Der "Revisionist" Stefan Scheil hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es einer deutschen Kriegserklärung nicht bedurft hätte, das unbeantwortete Ultimatum hätte Russland, dessen Kriegsmaschine mit der Generalmobilmachung bereits angelaufen war,  zum Angreifer gemacht.

Die Debatte über die Zuteilung der Schuldanteile am Großen Krieg führt letztlich nicht weiter. Sie hängt ab von der Sichtweise der Historiker und ihrer jeweiligen Interpretation der Akten. Zum Stand des wiederaufgelegten Kriegsschuldthemas - oder  des jüngsten "Revisonismusstreits" seien einige wichtige "revisionistische" Aspekte hervorgehoben: Der erste betrifft die von Clark  präzise rekonstruierte Machtpolitik der Akteure und betrifft das Faktische: Erst als der französische Staatspräsident Poincaré am 15. Juli mit  Viviani nach Petersburg reiste, um die Verbundenheit der beiden Flügelmächte zu bekräftigen, weihte er  ihn, seinen neuen   friedfertig gesinnten Ministerpräsidenten und Außenminister, an Deck der France in die Details des seit 1892/1894 bestehenden  Militärbündnisses ein.

Zur  außen- und machtpolitischen Realität gehörte zudem seit 1904/1907 die Triple-Allianz mit England.
Am 13. Mai 2014 beschloss das britische Kabinett die Aufnahme von Geheimverhandlungen mit Russland über die vertiefte Kooperation in Marine- und Seekriegsfragen. Die Aufnahme der Verhandlungen wurden von dem als Spion zugunsten des Reiches agierenden Zweiten Sekretär an der russischen Botschaft, dem Baltendeutschen von Siebert,  nach Berlin übermittelt. Als die Sache  an die Öffentlichkeit drang, dementierte der britische Außenminister Lord Grey jegliche derartige - die deutschen Einkreisungsängste  verstärkende - diplomatische Aktivität. Dass derlei Umgang mit der Wahrheit in den entscheidenden Wochen der Julikrise nicht zur Beruhigung der deutschen Akteure beitrug, versteht sich von selbst.

Die von Christopher Clark dargestellte Episode, die einst der Historiker Erwin Hölzle gegen Fritz Fischer ins Spiel brachte, wird  in der heutigen FAZ  von Rainer Blasius  ("Der Zweite Sekretär", S. 8)  noch einmal ventiliert. Das diplomatische Ränkespiel mag wiederum der Interpretation offenstehen. Als schlichtes Faktum offenbart es die Bedeutung der anderen grundlegend "revisionistischen" Aspekte: Es geht zum einen um das Verhältnis von Staatsordnung und Außenpolitik, zum anderen um die von Winkler, Wehler unter anderen negierte außen- und machtpolitische Zwangslage, um die geopolitische Mittellage des zur europäischen Großmacht avancierten Deutschen Reiches. Anders als Winkler und manch andere (west-)deutsche Historiker meinen, sind parlamentarisch verantwortliche Regierungen weder gestern noch heute dagegen immun, von Eigeninteresse gesteuerte Machtpolitik zu betreiben. Die Vorstellung, dass westliche Demokratien von  Natur aus Kriegen abgeneigt seien, gehört zu ihrem ideologischen Überbau, zielt indes an der historischen Wirklichkeit vorbei. Die lange Reihe der vom "Westen" inszenierten  Kriege sind  Beleg genug.



Samstag, 24. Mai 2014

Werte bewegen Europa

Ganz Europa, besser die  Meinungsbildner in EU-Europa, sind in Aufregung,  aus  Gründen, die auch den Blogger, teilweise mit leichter Verspätung, zum Bloggen bewegen:

a) wegen des Sieges der global rekrutierten Bayern  von Bayern München über die internationalen Fußball-Preußen von Borussia Dortmund im DFB-Pokal in Berlin. Leider ist das große Ereignis von letzter Woche bereits wieder vergessen.

Heute geht´s in Lissabon um den Endsieg in der Champions´ League zwischen Atlético Madrid und Real Madrid. Der Schriftsteller Javier Marías bekennt sich im FAZ-Interview überraschend als Real-Anhänger. Dem Namen nach und seit Francos Zeiten historisch gesehen gilt Real als der Club der Bessergestellten, wäre also nicht nur aus der Linken-Perspektive einer Katja Kipping als "rechts" zu verorten. Marías  ordnet aber Atlético  als eher "links" ein , da seine Anhängerschaft hauptsächlich unter den  im Süden Madrids angesiedelten Postproletariern zu finden sei. Nichtsdestoweniger galt  Atlético in den Jahren  nach dem Bürgerkrieg als der "Luftwaffenclub", da zu seinen Förderern einige Generäle aus Francos putschistischer Luftwaffe gehörten. War/Ist  Atlético also nicht in Wirklichkeit "rechts"? Marías lässt den Leser im Unklaren, macht aber deutlich, dass in den Fankurven beider Vereine  Neonazis und linke Ultras zu den Fußballschlachten aufmarschieren. Etwas verwirrend das Ganze. Zum Glück handelt es sich in den Stadien nur um politisch übereifrige Randgruppen...


b) wegen des Sieges von Conchita Wurst  beim Eurovision Song Contest. Alle Europäerinnen und Europäer gratulieren dem/der siegreichen bärtigen Künstler/in Tom Neuwirth (aus Oberösterreich oder aus der Steiermark) zu ihrem/seinen  Endsieg in der großeuropäischen Schnulzenparade. Conchita /Thomas steht für ein Europa der Vielfalt, für ein Europa ohne Grenzen, für Selbstbestimmung, für wirkliche Toleranz, für ein echtes Miteinander usw. usw. oder so ähnlich. Wir durften in der "Tagesschau" - oder war´s im ZDF?, jedenfalls prime time TV - miterleben, wie Conchita/Tom den Millionen von  Europäerinnen und Europäern in derlei bewegenden Worten  die unveräußerlichen Werte Europas zu Bewusstsein brachte. Europa ist bis auf weiteres noch ganz  ergriffen.

Ganz Europa. Für die Organisatoren des Eurovision-Sängerinnnen- und Sängerkrieges reicht Europa nicht nur bis in die Türkei, bis Erzerum und Dyabakir,  sondern bis nach Aserbeidschan mit der Ölhauptstadt Baku (wo der Jodelwettbewerb auf Englisch anno 2012 ausgetragen wurde) und noch weiter gen Osten, mindestens bis nach Eriwan,  selbst wenn das nicht ganz zur armenischen Politik passt.

Auch Russland gehört beim eurovisionistischen Sängerinnen- und Sängerkrieg  noch zum Haus  Europa. Umso größer die Empörung, dass die  Russen mit dem  unmusikalischen Putin an der Spitze, an der Minnesängerin Conchita/Tom und ihrer Sangeskunst ("Like a phoenix") keinen Gefallen finden, beim nächsten Mal dem SängerInnenkrieg gar fernbleiben wollen. Der Russen Mangel an musikalischer Empfindsamkeit entspringt den unberechenbaren Tiefen ihrer halbasiatischen Seele - für wertebewusste westliche Friedensfreunde ein Grund zur Beunruhigung. Wie sagte doch - noch dazu in makellosem Englisch - der  russische Eisenbahnminister  Wladimir Jakunin beim letzten Deutsch-Russischem Forum in Berlin :   "Die antike Definition der Demokratie hatte nichts mit bärtigen Frauen zu tun, sondern die Demokratie ist die Herrschaft des Volkes"?  Solche Worte hören wir Europäerinnen und  Europäer nur mit historisch informierter Entrüstung. Obendrein wagte es Jakunin, uns EU-Bürger als "Ethno-Faschisten" zu bezeichnen. Wir sind empört. Ehe wir mit weiteren Sanktionen drohen, sollten wir von dem Putin-Intimus Jakunin eine Erklärung fordern, ob er angesichts unserer gesamteuropäischen Aversion gegen Separatisten aller Art etwa bloß die linken Nationalisten  in  Schottland oder in Katalonien gemeint hat. Julia Timoschenko, zur anstehenden Wahl wiederum mit dem züchtigen blonden Zopf bekränzt, kämen derartige  beleidigende Worte jedenfalls nicht über die Lippen.

c) wegen der bevorstehenden Wahlen zum EU-Parlament. Man ist doppelt besorgt, denn zum einen könnte eine womöglich noch schwächere Wahlbeteiligung  als beim letzten Mal (43 % der EU-Wahlvölker) Desinteresse,  fehlendes EU-Bürgerbewusstsein signalisieren.  Zum anderen herrscht mediale Besorgnis ob des befürchteten Vormarsches der diversen euro- und/oder europaskeptischen "Populisten". "Populisten" sind all jene, die meinen, am ordre établi in EU-Europa etwas auszusetzen zu haben und glauben, daran etwas ändern zu können.

 "Populisten" sind  überdies jene, die meinen, dem trotz aller Volkssouveränität in politischen Dingen unverständigen "Volk" (lat. populus --> auch  peuple, people)  nach dem Munde reden zu müssen. We, the people etc.  The voice of the people is the voice of God? - der mit Lateinkenntnissen ausgestattete Thomas Jefferson, wenngleich (sklavenhaltender) Urdemokrat, lag da einfach falsch. Nein, wir von demokratischen Werten bewegten Europäer halten uns an das Wort des alten Januschauers (auch wenn dessen Namen keiner mehr kennt/nennt): Vox populi, vox Rindvieh! Gott bewahre uns vor einer "Volksrepublik Europa" - die  unlängst proklamierten Volksrepubliken in der östlichen Ukraine sind abschreckend genug.

Freitag, 9. Mai 2014

Kriegsszenen - und ein bewegender Film zum Kriegsende

I. Am  heutigen 9. Mai beging Russland mit einer großen Militärparade in Moskau den Tag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg gegen Hitler-Deutschland.  Im Westen, nicht nur in der Ukraine, nimmt man Anstoß daran, dass  eine Truppenparade auch auf der von Russland reannektierten Krim stattfinden sollte (oder bereits stattgefunden hat). Hingegen verzichtete man  laut Radiobericht   außerhalb der sezessionistischen Donbass-Region in den  Städten der Ukraine, also auch in Kiew, auf die traditionellen Siegesfeiern.

In der Ukraine spielen sich im Gefolge der Kiewer "Majdan-Revolution" blutige Auseinandersetzungen ab, bei denen angesichts der komplexen politischen Szenerie die begriffliche Trennung von Volkserhebung, Nationalitätenkonflikt, Bürgerkrieg und gewaltsamer Sezession schwerfällt. Nur in einer aus jeweiligem Interesse vereinfachten Sichtweise, die von dem ost-westlichen oder west-östlichen Machtspiel abstrahiert,   scheint die Konfliktlage klar. Für die derzeitige ukrainische Führung und ihre westlichen Unterstützer geht es um die Verteidigung der "Majdan-Demokratie" sowie die Souveränität des Landes gegen Putins Expansionismus, für die prorussischen Kräfte  geht es um Selbstbestimmung und den Kampf gegen die ukrainischen "Faschisten" -  ein unzulässig pauschalisierender Begriff, der indes  zumindest hinsichtlich der gewalttätigen Truppe  mit der Selbstbezeichnung "Rechter Sektor" nicht gänzlich abwegig erscheint.

Über die Zukunft der Ukraine in dem größeren, als Neuauflage des Ost-West-Konflikts gedeuteten Kontext zu spekulieren, ist müßig.   Ungeachtet der  jüngsten als  konfliktmäßigend  zu wertenden  Worte Putins an die  prorussischen Aktivisten im Donbass wird das blutige Spiel zwischen Separatisten und von Kiew entsandten Truppen wohl noch für einige Zeit weitergehen. Was danach kommt?


II. Vor dem Hintergrund der realen Kriegsszenen in einem von der Geschichte,  nicht zuletzt von deutschen Truppen und Besatzern im II. Weltkrieg schwer geschundenen  Land erinnerte  man am vergangenen Montag (5.Mai 2014)  auf "Arte" mit zwei Filmen an das Kriegsende 1945. Zuerst wurde Bernhard Wickis Film "Die Brücke" aus dem Jahr 1959 gezeigt, der auf Generationen von Nachkriegsdeutschen prägend wirkte. Anschließend brachte man "4 Tage im Mai" - ein Film, der vor nicht mehr als drei Jahren 2011 als ukrainisch-russische-deutsche Koproduktion unter der Regie von Achim von Borries entstand.

Mir ist entfallen, ob das Kriegsdrama auf einer historisch verbürgten Episode beruht oder der Imagination des Autors zu verdanken ist. In allen Details - vornehmlich in der Schlußszene,  wo sowjetische und deutsche Soldaten gemeinsam gegen eine von einem auf Gewalt (und Vergewaltigung) gestimmten Major kommandierte Einheit kämpfen,  ist ersteres eher unwahrscheinlich. Doch in anderen Passagen wird die vielfältige, widersprüchliche historische Wirklichkeit bei Kriegsende fassbar. Als in der Eingangsszene vor einem  Waisenhaus unweit der Ostseeküste, wo eine  kriegsmüde deutsche Einheit auf Evakuierung nach Dänemark hofft,   sowjetische Truppen auftauchen, ist Schrecken zu befürchten. Doch die Gewalttaten bleiben aus. Ein von seiner kleinen Einheit verehrter russischer Hauptmann - er verlor im Krieg Frau und Sohn - bewahrt und beweist gegenüber den Feinden Menschlichkeit. Umgekehrt trifft er in der Leiterin des Waisenhauses,  einer aus Sankt Petersburg emigrierten deutschen Adligen, auf ein unvoreingenommes, über  Hassgefühle erhabenes Gegenüber.

Repräsentiert von überzeugenden Schauspielern,  bewegte die Friedensbotschaft  des Filmes dank differenzierender Betrachtung der Realität des Krieges. Selbst angesichts der jüngsten Kriegsszenen aus der Ukraine sollte der als Beitrag zur Versöhnung von Russen, Ukrainern und Deutschen geschaffene Film  aus dem Jahr 2011 nicht als Zeugnis der Vergeblichkeit gesehen werden.

Dienstag, 29. April 2014

Wissenschaft und Meinungsmacht im Kampf um "Zwischeneuropa"

Die im vorangegangenen Blog konstatierte Diskrepanz zwischen veröffentlichter Meinung und öffentlicher Meinung - letztere  von der classe politica sowie den ihr assistierenden  Meinungsbildnern meist als Nährboden des verächtlichen  Populismus  abgetan - sei an dieser Stelle noch einmal bekräftigt. Die "Leitmedien" sind sich hinsichtlich der Persönlichkeit des Ex-KGB-Mannes Putins, seiner entsprechend sinistren Herrrschaftspraxis - nach Bekunden von Russlandkennern hat sich   unter Putin trotz mancher schlimmen Taten  die Rechtsstaatlichkeit stetig gefestigt -    und seiner  neoimperialen Strategien  auf der Krim und im Donez-Becken einig: Das Böse lauert an  den östlichen Grenzen der westlichen Wertegemeinschaft. Und so zeigt sich nicht nur Richard Herzinger in der "Welt" empört darüber, dass Gerhard Schröder seinen 70. in St. Petersburg mit Putin und Freunden noch einmal nachgefeiert hat. Nicht nur, dass Schröder sich  mit seinem Freund Putin in den Armen liegt. "Erschreckend ist aber auch, dass wohl viele Deutsche dafür Verständnis haben."  Immerhin war außer dem deutschen Botschafter Freiherr von Fritsch auch der CDU-Außenpolitiker Philipp Mißfelder mit von der Partie, was ihn in die unmittelbare Verdachtzone der  "Rußland-Versteher" rückt.

Auch die FAZ-Redakteure entrüsten sich über Putin, der  als Drahtzieher hinter all den  Separatisten auf der Krim und in der Ost-Ukraine sowie ähnlichen Manifestationen in Odessa und Transnistrien stehe. Sie sehen nicht nur Gefahren für die baltischen Staaten, sie sehen die Gefahren des Krieges zwischen Putins Reich und dem Westen heraufziehen, wohl wissend, dass ein solcher nicht stattfinden wird.

Nun ist sich die FAZ ihrer Bedeutung als Leitorgan, verpflichtet zu anspruchsvoller Information sowie pluraler Meinungsbildung, bewusst. Gestern  (FAZ v. 28.04.2014, S. 4)  erschien ein Aufsatz des Leipziger Historikers Jan Zofka zur Krim-Thematik ("Zurück zum Mutterland"). Der Autor zeichnet  nicht nur detailgenau den Hintergrund der qua Referendum plus Annexion beendeten Krimkrise, sondern vermittelt in seiner Analyse ein völlig anderes Bild als die von der FAZ-Redaktion gepflegte Vorstellung von gezielter, ungezügelter Aggression. Wer im Westen erinnert sich schon an den Namen Jurij Meschkow, des kurzzeitigen Präsidenten der Krim (1994)? Zu Sowjetzeiten Bürgerrrechtler ("Memorial"), war Meschkow in den 1990er Jahre nicht nur führender "Separatist", sondern ein "lupenreiner" Liberaler.

Der von einem Wissenschaftler stammende Aufsatz - er bietet eine nüchterne Darstellung der von historischen sowie allen möglichen persönlichen, materiellen und machtpolitischen Interessen bewegten Konfliktmomente - steht in deutlichem Kontrast zu der in Politik und Feuilleton der FAZ vorgetragenen Meinung zu der am Schwarzen Meer stattfindenden Auseinandersetzung zwischen  USA samt EU und Russland um "Zwischeneuropa".

Addendum: Mit Genugtuung liest man heute (FAZ v. 29.04. 2014)  im Feuilleton-Teil den von der vorherrschenden Meinung abweichenden Artikel "Was sie in die Knie zwingt" von Klaus von
Dohnanyi. Er fragt: "Und geht es nicht auch um "Obama-Versteher", wenn man die Ukraine-Krise richtig beurteilt?" Man wird ja noch fragen dürfen.