Montag, 2. Juni 2014

Zur Neuverteilung der Kriegsschuldanteile

Aufgrund der anhaltenden Diskussion erlaube ich  mir den Hinweis auf meinen  beim Publikum offensichtlich mit Interesse aufgenommenen Blogeintrag (vom 17.12./27.12.2013) zu der von Christopher Clarks Buch "Die Schlafwandler" ausgelösten neuerlichen "revisionistischen" Kriegsschuldthematik.

In der heutigen FAZ (02.06.2014, S. 6) hat sich  Heinrich August Winkler unter dem Titel "Die Oktoberreform" (vom 28.10.1918) des Themas angenommen, wobei er es gemäß seinem Credo vom "langen Weg nach Westen" mit der im konstitutionellen Kaiserreich nur unzureichend gelösten Demokratiefrage - gemeint ist die Parlamentarisierung der monarchischen Verfassung - verknüpft. Winkler konzediert den von Volker Ullrich (direkt) und von Hans-Ulrich Wehler (indirekt) ob ihres "Revisionismus" gescholtenen Autoren Clark und Herfried Münkler, ihre Bücher seien "von der Kritik in vieler Hinsicht mit Recht gelobt" worden, gibt aber dem von  Wehler als  "einsamer Spitzenreiter" in der "Literaturschwemme" zum Großen Krieg gerühmten Werk von Jörn Leonhard ("Die Büchse der Pandora") den Vorzug. Leonhards These, so Winkler, dass Deutschland "´ohne Zweifel eine besondere Verantwortung in der Julikrise´zukam, bedeutet keine Rückkehr zur längst widerlegten (sic !) Alleinschuldthese. Sie wirkt aber jenen nationalapologetischen Tendenzen in Deutschland entgegen, die durch die relativierenden Darstellungen der deutschen Politik in der Julikrise bei Clark und Münkler neuen Auftrieb erhalten haben."

In den Folgesätzen  bringt Winkler sein eigenes geschichtspolitisches Interesse zum Vorschein. Er wendet sich gegen Clarks Urteil, in allen fünf an dem sich in der Julikrise zuspitzenden Konflikt beteiligten Ländern sei "die militärische Planung letztlich den politischen und strategischen Zielen der zivilen Führungen untergeordnet" geblieben. Er weist diese These im Hinblick auf Berlin, Wien und St. Petersburg zurück und wendet sich insbesondere gegen Clarks These, in Berlin habe man Russlands Kriegsentschlossenheit vorerst nur zu sondieren gedacht. Es ist anzumerken, dass Winkler sodann nicht unbegründet die Idee des  "Testens" der russischen Bündnis- und Kriegsbereitschaft an der Seite Serbiens - samt Kriegsrisiko - den deutschen Militärs anlastet.Was den Druck der Militärs angeht, den er nicht nur in Wien - wo der Generalstabschef Conrad von Hötzendorf (von Winkler nicht ausdrücklich genannt)  seit langem den Präventivkrieg gegen Serbien (und folglich auch gegen Russland) propagierte  - und in Berlin, sondern immerhin auch am Zarenhof am Werk sah, so ist Winklers Argumentation plausibel.

Problematisch und kritikwürdig  ist  hingegen Winklers "antirevisionistische" - an Max Webers alte Kritik an der Reichsverfassung anschließende - Grundthese, die fehlende Parlamentarisierung, die allein dem Kaiser (als preußischem König) zugeordnete Position des Reichskanzlers und der zivilen Regierung, dazu die verfassungsrechtliche Sonderstellung des preußischen Militärs, habe in der Julikrise den Weg in den Krieg, den "Sprung ins Dunkle" vorgezeichnet.

Winkler hält Clark entgegen: "In Berlin wie in Wien waren in den Wochen nach dem Attentat keine ´Schlafwandler´, sondern Vabanquespieler am Werk. In St. Petersburg sah es nicht viel anders aus."
Immerhin. Um die seit Marx und Engels antizaristisch gesonnenen Sozialdemokraten für die  Zustimmung zu den Kriegskrediten (am 4. August 1914) historisch zu entlasten,  erinnert Winkler an die Chronologie in der Endphase der Julikrise. Auf die russische Generalmobilmachung - ein nach damaligen Maßstäben technisch- faktisch irreversibler Akt - erfolgte das deutsche  Ultimatum. Erst danach kam die Kriegserklärung aus Berlin. Der "Revisionist" Stefan Scheil hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es einer deutschen Kriegserklärung nicht bedurft hätte, das unbeantwortete Ultimatum hätte Russland, dessen Kriegsmaschine mit der Generalmobilmachung bereits angelaufen war,  zum Angreifer gemacht.

Die Debatte über die Zuteilung der Schuldanteile am Großen Krieg führt letztlich nicht weiter. Sie hängt ab von der Sichtweise der Historiker und ihrer jeweiligen Interpretation der Akten. Zum Stand des wiederaufgelegten Kriegsschuldthemas - oder  des jüngsten "Revisonismusstreits" seien einige wichtige "revisionistische" Aspekte hervorgehoben: Der erste betrifft die von Clark  präzise rekonstruierte Machtpolitik der Akteure und betrifft das Faktische: Erst als der französische Staatspräsident Poincaré am 15. Juli mit  Viviani nach Petersburg reiste, um die Verbundenheit der beiden Flügelmächte zu bekräftigen, weihte er  ihn, seinen neuen   friedfertig gesinnten Ministerpräsidenten und Außenminister, an Deck der France in die Details des seit 1892/1894 bestehenden  Militärbündnisses ein.

Zur  außen- und machtpolitischen Realität gehörte zudem seit 1904/1907 die Triple-Allianz mit England.
Am 13. Mai 2014 beschloss das britische Kabinett die Aufnahme von Geheimverhandlungen mit Russland über die vertiefte Kooperation in Marine- und Seekriegsfragen. Die Aufnahme der Verhandlungen wurden von dem als Spion zugunsten des Reiches agierenden Zweiten Sekretär an der russischen Botschaft, dem Baltendeutschen von Siebert,  nach Berlin übermittelt. Als die Sache  an die Öffentlichkeit drang, dementierte der britische Außenminister Lord Grey jegliche derartige - die deutschen Einkreisungsängste  verstärkende - diplomatische Aktivität. Dass derlei Umgang mit der Wahrheit in den entscheidenden Wochen der Julikrise nicht zur Beruhigung der deutschen Akteure beitrug, versteht sich von selbst.

Die von Christopher Clark dargestellte Episode, die einst der Historiker Erwin Hölzle gegen Fritz Fischer ins Spiel brachte, wird  in der heutigen FAZ  von Rainer Blasius  ("Der Zweite Sekretär", S. 8)  noch einmal ventiliert. Das diplomatische Ränkespiel mag wiederum der Interpretation offenstehen. Als schlichtes Faktum offenbart es die Bedeutung der anderen grundlegend "revisionistischen" Aspekte: Es geht zum einen um das Verhältnis von Staatsordnung und Außenpolitik, zum anderen um die von Winkler, Wehler unter anderen negierte außen- und machtpolitische Zwangslage, um die geopolitische Mittellage des zur europäischen Großmacht avancierten Deutschen Reiches. Anders als Winkler und manch andere (west-)deutsche Historiker meinen, sind parlamentarisch verantwortliche Regierungen weder gestern noch heute dagegen immun, von Eigeninteresse gesteuerte Machtpolitik zu betreiben. Die Vorstellung, dass westliche Demokratien von  Natur aus Kriegen abgeneigt seien, gehört zu ihrem ideologischen Überbau, zielt indes an der historischen Wirklichkeit vorbei. Die lange Reihe der vom "Westen" inszenierten  Kriege sind  Beleg genug.



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