Sonntag, 15. Juni 2014

"Radikale Philosophie" und chinesische Praxis

I.
Die „Nacht der Philosophie“ am Institut Français im ehrwürdigen Maison de France beendete ich  um Mitternacht in der Pizzeria nebenan bei Bier und Gespräch mit Jürgen Tribowski, den ich in einem der proppenvollen Institutsräume entdeckt hatte. Zuvor hatte ich, bei überreichem Angebot zur Auswahl genötigt, einigen Vorträgen gelauscht, etwa über „Anfänge", über den Begriffswandel der „Gesellschaft“, über das Verhältnis von Politik und Ökonomie bei Hegel und Hannah Arendt. Sodann wollte ich mir noch anhören, was Frieder Otto Wolf, Honorarprofessor für Philosophie an der FU  Berlin sowie Präsident des Deutschen Humanistenverbandes,  zur "Aktualität radikaler Philosophie“ zu sagen hätte. Tribowski, einst Mitstreiter in „alternativen“ Bestrebungen zur realsozialistisch eingemauerten West-Berliner Wirklichkeit, hatte gleich abgewinkt.

Was Wolf, seinerzeit als Berliner Aktivist der „Alternativen Liste“ und „grüner“ Abgeordneter im gerade etablierten Europa-Parlament ein fleißig „konservative“ Gegenthesen produzierender Opponent unserer „radikalen“ Ideen zur Status-quo-Überwindung, in über 20 Minuten vorzutragen hatte, war alles andere als radikale Philosophie – verstanden als radikales Nachdenken über „die Lage“, über die Wirklichkeit anno 2014. Er traktierte das überwiegend jugendliche - erstaunlich geduldige - Publikum mit für aktuell erklärten Dogmen aus dem alten marxistischen Sammelkasten: Der Neoliberalismus sei erkennbar in seine Krise geraten, jetzt erweise sich erneut die Richtigkeit der Analyse der Produktionsverhältnisse. Gut so. Klassenbegriff und -kampf mied der einstige Mitherausgeber der „ProKla“ (= "Proklamationen des Klassenkampfs"), er hielt es mit dem Feminismus und den „neuen sozialen Bewegungen“, die, ausgestattet mit Erkenntnis der autoritären Strukturen und der kapitalistischen Wurzel aller Übel samt der ökologischen Krise, den Kampf um die die emanzipierte Zukunft der Menschheit aufgenommen hätten usw. usw. 

Dank derlei Rhetorik blieb die üble („unemanzipierte“) Realität außerhalb des Horizonts des ergraut-zerzaust in Hawaiihemd auftretenden Philosophen. Kein Wort über Putins Gas und die Ukraine, Energiefragen und Machtinteressen, über Geopolitik, über Gewalt  im Nahen Osten, über die gespaltene islamische Welt, über Orient und Okzident, Dschihadismus und Liberalismus („radikaler Humanismus“), über die kapitalistische Praxis der Kommunisten in China, über die Zukunft Afrikas – und die Zukunft Europas. Kein Wort über die Mediatisierung  des Bürgers durch die classe politica, kein Wort der Kritik an der alle Widersprüche und Machtverhältnisse überdeckenden Zivilreligion. 

II.
Als Kommentar zu derlei radikaler Realitätsferne kann ein Artikel von Thomas Scheen „Namibia will sich von Südafrika lösen“ in der FAZ (nr. 136, v. 14.06.2014, S. 20) dienen. Zwar wird der pointierte Titel bereits im zweiten Absatz relativiert: Die Abhängigkeit des politisch relativ stabilen, mit 2.2. Millionen Einwohnern bevölkerungsschwachen Landes vom großen, mächtigen – und zusehends krisenhaft korrupten – Nachbarland ist viel zu groß, als dass eine ökonomische Emanzipation in greifbarer Nähe schiene. Nichtsdestoweniger enthält der Bericht des Afrika-Korrespondenten  weltpolitsch erhellende harte Fakten. Sie illustrieren das ökonomische – und machtpolitische – Vordringen der neuen alten Weltmacht China auf dem afrikanischen Kontinent.

In der Nähe von Swakopmund baut China für 2 Milliarden Dollar ein neues Uranbergwerk. Zugleich versucht die namibische Regierung, die bescheidene heimische Produktion, beispielsweise in einem deutschen Zementwerk, vor chinesischen Billigimporten zu schützen. Durch den Ausbau des Hafens in Walvis Bay („Namport“) sollen vor allem die Transportwege für Rohstoffe aus dem südlichen Afrika (Öl aus Angola, Kupfer aus Sambia und Katanga, Steinkohle aus Botswana) verkürzt, die Kapazität der Exporte erweitert werden.

Die Steinkohle aus Botswana wird nach China verschifft. Der Energiehunger der – ungeachtet gewisser Krisensymptome - industriell  expandierenden Macht scheint unersättlich. Ein Reflex sind die anhaltenden, von militärischen Drohgesten - und Aufrüstung - begleiteten Spannungen im ostasiatischen Raum. Was schließlich den geopolitisch bedeutsamen Hafenausbau in Namibia betrifft, so bleibt zu fragen, welche EU-Nachbarländer – außer dem Hauptabnehmer China – als Importeure von Uranerz aus Namibia in Frage kommen. In grünen „Diskursen“ , nicht allein in der „radikalen“ Philosophie des erwähnten Denkers, kommen derlei Fragen nicht vor. 

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