Vor wenigen Tagen erreichte mich die Nachricht vom Tode des Theologen, Philosophen, Historikers und Politikers Edelbert Richter. Mit ihm verliert unser Land einen bedeutendenVertreter des deutschen Protestantismus. Der Theologe Richter, ein philosophischer Nachfahre des deutschen
Idealismus, verstand sich als Hegelianer. Ihm ging es um die Vermittlung
des transzendent gedachten Geistes (Gottes) mit der immanenten
Wirklichkeit des endlichen Menschen und des Menschengeistes. In der
Reflexion der katastrophisch-mörderisch missglückten Geschichte des 20.
Jahrhunderts zielte er auf die Vermittlung der Traditionen der Freiheit
in Gestalt des Liberalismus und der Gerechtigkeit in Gestalt des
Sozialismus.
Anstelle eines Nachrufs veröffentliche ich nachstehend einen Aufsatz, den ich vor acht Jahren 2013 über meine Begegnungen mit Edelbert Richter, dem gesamtdeutsch ("national") orientierten Inspirator der oppositionellen Friedensbewegung in den 1980er Jahren, schrieb. Der Artikel bedarf einer Korrektur, was die Wahlen zum Bundestag im Dezember 1990 anbelangt. Nicht der - anno 1990 beim deutsch-deutschen Vereinigungsvertrag federführende - Wolfgang Schäuble, sondern das Bundesverfassungsgericht etablierte einen für West und Ost gesonderten Wahlmodus, der den westdeutschen "Grünen", die mehrheitlich - und mit schrillen Parolen - die deutsche Neuvereinigung ablehnten, über ihren "ostdeutschen" Partner "Bündnis ´90" zum Wiedereinzug in den Bundestag verhalf. Dazu noch eine weitere Korrektur bezüglich des letztmaligen Zusammentreffens von mir und Edelbert. Ich traf ihn noch einmal anläßlich der Emeritierung des gemeinsamen Freundes Peter Brandt an der Fernuniversität Hagen, ohne dass sich Gelegenheit zu einem Gedankenaustausch bot.
Vom Schmerz der Erinnerung
Mit Edelbert Richter teile ich das Geburtsjahr 1943 sowie eine darin
begründete Lebensgeschichte in einem »schwierigen Vaterland« – ein
heute, anno 2013, seltsam obsolet, ja peinlich anmutender Begriff des
Bundespräsidenten Gustav Heinemann (1899-1976).
Persönlich verbunden war ich dem politischen Theologen Richter über
eine gewisse biographische Wegstrecke dank gemeinsam und zwangsläufig –
aufgrund eines 1983 verhängten Einreiseverbots in die DDR – separat
unternommener politischer Bestrebungen vor und nach dem wundersamen Jahr
1989. Persönlich begegnet bin ich Edelbert Richter in jenem Zeitraum
nur einige wenige Male.
Unvermeidlich fließen im Rückblick auf diese Jahre widersprüchliche
Reminiszenzen, Empfindungen und Perzeptionen zusammen. Es sind
einerseits Erinnerungen an heute bereits weit zurückliegende Momente von
Hoffnung und Zweifel, von Glück und Wehmut. Es sind andererseits
aktuell wiederkehrende Fragen nach den politischen Chancen vor und nach
1989, nach der seit dem Mauerfall grundlegend veränderten deutschen
Wirklichkeit, allgemein nach den Bedingungen eigenständigen Denkens und
Handelns in einer etablierten, für »alternativlos« deklarierten Ordnung,
nicht zuletzt nach dem Sinn menschlicher Existenz in der
›postmodernen‹, so hochmoralischen wie weithin sinnentleerten Welt.
Derartige Fragen, dem erhebenden Sinn einer Festschrift womöglich
entgegengesetzt, entspringen nicht resignativer Altersstimmung, wie sie
etwa im Titel Siebzig verweht eines der Tagebücher des erst
drei Jahrzehnte später, 103jährig verstorbenen Ernst Jünger anklingt.
Ihre Rechtfertigung finden sie in der Reflexion der von einem Denker wie
Edelbert Richter stets mitbedachten Geschichtsdaten deutscher
Geschichte, aus denen der 9. November 1989 als – nicht nur für Jüngere –
mittlerweile bereits historisch verblasster Tag unerhörten Glücks
herausragt.
Daten deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert
Die Biographie und das theologisch-politische Wirken meines
Generationsgenossen Edelbert Richter ist von den Daten, mehrheitlich
Unglücksdaten, deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert bestimmt. In
Ergänzung zu den diesjährigen, das Jahr 1933 evozierende Gedenktagen
seien einige der vielen, den – nicht zwangsläufigen – Weg in die
Katastrophe markierende Kalendertage genannt: 13. Oktober 1913, 1.
August 1914, 15. Januar 1919, 28. Juni 1919, 24. Juni 1922, 18.
September 1930, 9. Nov. 1938, 1. Sept. 1939, 22. Juni 1941, 23. April
1943, 20. Juli 1944.
Aus den Nachkriegsjahren, in denen die deutsche Teilung noch kein
unüberwindliches Faktum schien, stechen der 17. Juni 1953 sowie der 13.
August 1961 hervor. Eine bis heute nachwirkende historische Zäsur
signalisierte der 2. Juni 1967, an dem der Student Benno Ohnesorg – von
einem Westberliner Polizisten, einem erst Jahrzehnte später als
Stasi-Agenten erkannten Mann, erschossen wurde. Im vielbeschworenen Jahr
›1968‹ spaltete sich nicht nur die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft,
sondern auf spezifische Weise auch die jüngere deutsche
Nachkriegsgeneration in Ost und West. Die von SED-Parteichef Walter
Ulbricht höchstpersönlich angeordnete Sprengung der Leipziger
Paulinerkirche am 30. Mai 1968 nahmen die Studenten in der
Bundesrepublik, erregt vom Attentat auf Rudi Dutschke und vom ›Pariser
Mai‹, kaum zur Kenntnis, nicht einmal die wenigen, die wie der aus der
DDR ›abgehauene‹ Dutschke auf utopisch-revolutionären Umwegen über die
Dritte Welt eine gesamtdeutsche Vision verfolgten. Drei Monate später,
am 21. August 1968 erstarben die weit weniger utopischen Hoffnungen der
jungen DDR-Deutschen auf einen freiheitlich reformierten Sozialismus
angesichts der sowjetischen Panzer auf dem Wenzelsplatz in Prag.
Welche Hoffnungen Edelbert Richter in die Neue Ostpolitik der
sozial-liberalen Koalition setzte, die am 19. März 1970, begleitet von
hohen gesamtdeutschen Emotionen anlässlich des Erfurter Treffens von
Bundeskanzler Willy Brandt mit dem DDR-Ministerpräsidenten Stoph
einsetzte, weiß ich nicht. Ebensowenig weiß ich über seine Wahrnehmung
der politischen Lage in den 1970er Jahren, als anfangs hochgespannte
Erwartungen auf einen kontinuierlichen, von ›Entspannung‹ zwischen den
Weltmächten begleiteten »Wandel durch Annäherung« (Egon Bahr) in das
mühselige Tagesgeschäft des Status quo mündete, und dieser für die große
Mehrheit der Deutschen in der DDR das Arrangement mit der SED-Diktatur
nahelegte. Auch der anno 1969 gegründete Bund der Evangelischen Kirchen
in der DDR begann sich, teils genötigt, teils mit Hintergedanken, als
»Kirche im Sozialismus« – so der von Albrecht Schönherr 1971 eingeführte
Begriff – einzurichten. Immerhin betonten die Kirchenleute in der DDR –
anders als das auf ›Abgrenzung‹ setzende Regime – die besondere
Verbundenheit mit den ›Brüdern und Schwestern‹ der auf die
Bundesrepublik eingegrenzten EKD.
Dank historischer Dialektik blieb so ein nationales Band im geteilten
Land erhalten, auch wenn Exponenten der Kirchen in West und Ost die
staatliche Teilung inzwischen nicht nur anerkannten, sondern mehr und
mehr den Status quo für unabänderlich, gleichsam gottgewollt, erklärten.
Dabei vollzogen nicht wenige Protestanten einen eigenartigen,
theologisch überhöhten Positionswechsel. Die in den ersten
Nachkriegsjahrzehnten noch vehement beklagte deutsche Teilung wurde als
Folge deutscher Schuld gedeutet, die Existenz der beiden deutschen 1949
gegründeten Nachkriegsstaaten galt nicht mehr als machtpolitisches
Ergebnis des 1946/47 aufgebrochenen Ost-West-Konfliktes, sondern als
friedenspolitische Voraussetzung der europäischen Nachkriegsordnung. Die
deutsche Teilung erschien als Basis des west-östlichen Gleichgewichts
oder, politikwissenschaftlich unterfüttert, als Funktionselement des
bipolaren Systems. An derlei Friedensordnung zu zweifeln, war in Zeiten
der ›Entspannung‹ verpönt, zumindest unerbeten. Als der Schriftsteller
Martin Walser 1977 dazu aufrief, Die Wunde namens Deutschland offenzuhalten, stieß er in den Feuilletons auf mokantes Befremden.
Für lästige Unruhe im stagnierenden Entspannungsgeschäft sorgten
äußerst gegensätzliche Kräfte. Es waren zum einen Rudi Dutschke – er
starb am Weihnachtstag 1979 in Aarhus – samt einer Handvoll
Achtundsechziger, die sich in West-Berlin um die Zeitschrift Langer Marsch
gruppierten. Zu ihnen stießen die – ein politisches Eigentor des auf
Eigenstaatlichkeit und (vermeintlicher) »Souveränität« bedachten Regimes
– aus der DDR ausgebürgerten oder freigekauften Oppositionellen, die
nicht im geringsten daran dachten, im Westen sich ins Unpolitische
zurückzuziehen. Zu erinnern ist an Namen wie Siegmar Faust, Ulrich
Schacht sowie insbesondere an den 1999 – spätes Opfer der Stasi –
verstorbenen »Jenaer« Jürgen Fuchs. An der revolutionären Überwindung
des Sowjetreiches (der »Supermacht« im Osten) arbeiteten in jenen Jahren
auch einige Aktivisten aus den maoistischen Sekten KPD und KBW, ganz
abgesehen von den stets unermüdlichen Trotzkisten. Auf ideologischen
Umwegen flossen diverse Bestrebungen, die entgegen dem herrschenden
Konsens an der »nationalen Frage« festhielten – von Rudi Dutschke über K-Gruppen bis hin zu dem konservativen CDU-Mann Herbert Gruhl und zu
den ursprünglich eher ›rechts‹ angesiedelten Nationalneutralisten der
AUD (Aktionsgemeinschaft unabhängiger Deutscher) – in der Gründungsphase
der Grünen zusammen.
Erinnerung an friedensbewegte Jahre
Auf dem anlässlich der Verurteilung des Regimekritikers Rudolf Bahro
von ›undogmatischen Linken‹ inszenierten »Bahro-Kongreß« im Herbst 1978,
an dem auch ausgebürgerte (oder freigekaufte) Jenenser teilnahmen, fiel
mir ein Flugblatt der »Aktion 18. März« – eine dank ›Schirmherrschaft‹
unter Heinrich Albertz und Ingeborg Drewitz sowie einwandfreier
Unterschriftenliste (von Albertz bis Walser) unverdächtige Initiative
des Ex-Maoisten Volker Schröder – in die Hand. Das schwarz-rot-golden
umrahmte Flugblatt warb – anstelle des 17. Juni in der Bundesrepublik –
für einen in beiden deutschen Staaten akzeptablen ›neuen‹
Nationalfeiertag. Mit patriotischer Verve rief es zugleich
»Konservative, Christen, Demokraten und Sozialisten« zu gemeinsamen
Anstrengungen »für ein friedliches, demokratisches vereintes
Deutschland« auf.
Idee und Konzept der Initiative erschienen gänzlich realitätsfern,
aber als Anstoß für neues Nachdenken über die Überwindung der Teilung
unterstützenswert. Auf einer Zusammenkunft der Berliner Initiativgruppe,
die im Gemeindesaal der Zehlendorfer Ernst-Moritz-Arndt-Kirche
stattfand, lernte ich – zufällig, und doch kein Zufall – Peter Brandt
kennen, mit dem mich seither herzliche Freundschaft verbindet.
Völlig unerwartet eröffneten sich um die Jahreswende 1979/1980 neue
Perspektiven für die als abgeschlossen deklarierte ›deutsche Frage‹. Die
Sowjetunion hatte sich durch den Einmarsch in Afghanistan zur Rettung
eines ethnisch zerstrittenen kommunistischen Regimes auf ein
Kriegsabenteuer eingelassen, das sie gemäß historischer Erfahrung in
Bedrängnis bringen konnte. Zum anderen stand in jener Phase der sog.
NATO-Doppelbeschluss im politischen Raum. Die Kreml-Führung unter
Parteichef Leonid Breschnew sah sich in ihrer eigenen auf
sicherheitspolitische Kontroversen in der NATO zielenden – es ging um
die Entkoppelung der westlichen und westdeutschen Sicherheitsrisiken –
politisch-militärischen Strategie herausgefordert.
Sobald über die NATO-›Nachrüstung‹ eine politische Debatte
entbrannte, kam nach Logik der Dinge – über die gestörte Blocklogik –
die ›deutsche Frage‹ wieder hoch: Ging es ernstlich um eine Minderung
der Risiken eines Nuklearkriegs, so musste für das hochgerüstete
deutsche Zentrum des über die Jahre eingefrorenen Konflikts ein neuer
Modus – womöglich ein reales »disengagement« wie in den
Abrüstungsdebatten der 1950er Jahre – gefunden werden. Regte sich beim
westdeutschen Bündnispartner massiver Widerstand gegen die
›Nachrüstung‹, so kam die Souveränitätsfrage – und somit die 1954/55
vertraglich fixierte Nachkriegsordnung ins Spiel. Im umgekehrten Fall –
der erfolgreichen Durchsetzung des ›Doppelbeschlusses‹ – drohte der
Sowjetunion nicht nur ein machtpolitischer Gesichtsverlust. Seit Jahren
hatte die Sowjetdiktatur durch Planwirtschaft, geringe Innovation,
ressourcenverzehrende Rüstungsökonomie sowie politisch-militärische
Expansion in der ›Dritten Welt‹ ihr Machtpotential überzogen. Nicht nur
Dissidenten wie Andrej Amalrik (1938-1980) fragten bereits Anfang der
1970er Jahre: »Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 überleben?« Auch kluge
Akteure im engeren sowjetischen Machtzirkel wie Nikolai Portugalow
waren sich der inneren Schwäche des Imperiums bewusst und sannen auf
Auswege. Diese mündeten notwendig in Überlegungen – und Lockangebote –
zur ›deutschen Frage‹.
Es ist nicht zu leugnen, dass bei derlei ›realpolitischer‹ Analyse
stets auch ein spekulatives Moment im Spiel war. ›Rational‹ und im
machtpolitischen Sinne stets zu bedenken war seitens der im Westen oft
als »Gerontokraten« bespöttelten Sowjetführung der jederzeit mögliche
Rückgriff auf brutale Macht – selbst der Reformer Gorbatschow scheute
in der Phase des Zerfalls des Imperiums (im April 1989 in Tbilissi, im
Januar 1991 in Riga) nicht vor blutiger Repression zurück. Immerhin war
der Ansatz, das von den Mächtigen in Moskau selbstverursachte Dilemma
für Status-quo-verändernde Zwecke zu nutzen, keineswegs abwegig, sondern
politisch zielgerichtet und verantwortbar. Im Dezember1981, nach der
spektakulären Veröffentlichung des Havemann-Briefes an Generalsekretär
Breschnew, wurden Peter Brandt und ich von Harald Loch, dem Vorsitzenden
des FDP-Kreisverbandes Berlin-Tiergarten zu einer Diskussion über
Friedensfragen mit sowjetischen Vertretern, an der Spitze der
Botschaftssekretär A. Dmitrijew, eingeladen. Zur Überraschung der im
Plenum anwesenden SEW-Genossen herrschte mit den Gesprächspartnern auf
dem Podium weitgehendes Einvernehmen. Nach dem Mauerfall stellte sich
heraus, dass der einladende FDP-Mann im Dienste des KGB agierte.
Anders als von manchen SED/SEW/DKP affinen Initiatoren diverser
›Friedensappelle‹ intendiert, entfaltete der alsbald aufgebrochene
Massenprotest gegen »neue Raketen auf deutschem Boden« als
deutsch-deutsche, in nuce gesamtdeutsche Friedensbewegung eine
spezifische politische Dynamik. Großes Aufsehen erregte im Oktober 1981
die von friedenspatriotischen, gesamtdeutschen Tönen begleitete
Demonstration im Bonner Hofgarten, sodann der von einer
Unterschriftenliste aus Ost und West gezierte Brief des
DDR-Regimekritikers Robert Havemann mit klaren politischen Forderungen:
Es gehe nicht nur um Raketen, sondern um die ausstehenden
Friedensverträge mit beiden deutschen Staaten. Am Ende der – aus dem
Gedächtnis zitierte – Kernsatz: »Wie die Deutschen danach ihre nationale
Frage lösen, muß man ihnen selber überlassen, und keiner sollte sich
davor mehr fürchten als vor dem Atomkrieg.«
Der erste Anstoß zu der in ganz Europa beachteten deutsch-deutschen
Provokation kam nach dessen Auskunft von unserem Mitstreiter Jürgen
Graalfs, der wiederum engen Kontakt zu dem Kreis um Bärbel Bohley
pflegte. Bei der Vorstellung des Havemann-Briefes auf einer
Pressekonferenz saß ich zusammen mit dem aus Ost-Berlin stammenden
Künstler Helmut Diehl, einem Gefährten Havemanns neben dem damaligen
Grünen-Prominenten Otto Schily und dem exzentrischen Schriftsteller
Gerhard Zwerenz auf dem Podium. Große Resonanz war dem Auftritt nicht
beschieden, da am selben Tag die Ermordung des ägyptischen
Staatspräsidenten Anwar As-Sadat (6.10.1981) die Schlagzeilen
beherrschte.
In der Folge verlor der deutschlandpolitische Impetus in der
Friedensbewegung relativ schnell an Bedeutung. Bei den spektakulär
erfolgreichen Grünen setzten sich die Kräfte, die an der ›deutschen
Frage‹ – aus ›deutschen‹ Gründen – bewusst desinteressiert waren oder
wie der ›deutschlandpolitische Sprecher‹ Dirk Schneider als
Stasi-Agenten fungierten. Dessen ungeachtet hielten grüne Prominente wie
Petra Kelly und Gerd Bastian bis zum Mauerfall ständigen Kontakt zu
ihren Ostberliner Verbündeten um Ulrike Poppe und Gerd Poppe.
Um 1983, als die neuen NATO-Raketen ohne die zuvor vielbeschworene
Apokalypse auf deutschem Boden stationiert wurden, hatte die
Friedensbewegung in Westdeutschland an politischem Elan verloren.
Überdies trugen mir in jenem Jahr die persönlichen Kontakte zu den
Friedensaktivisten in Ost-Berlin ein Einreiseverbot in die DDR ein, das
erst durch den Mauerfall zur Makulatur wurde. An diesem misslichen
Faktum wird das Dilemma unseres Freundeskreises – besonders erwähnt sei
der 2011 verstorbene unbestechliche protestantische Pazifist Thomas
Flügge – sichtbar: Wir versuchten einerseits, auf ›realpolitischem‹
Wege, die Dinge in Bewegung zu setzen, bewegten uns andererseits im
Kreis der wegen ihrer »staatsfeindlichen Umtriebe« vom Regime bedrängten
Dissidenten. Inwieweit der von uns ventilierte Gedanke einer
blockfreien, deutsch-deutschen Konföderation mit dem ja noch keineswegs von der sowjetischen Vormacht desavouierten SED-Regime
realistisch sein konnte, steht auf einem anderen Blatt.
Stationen einer Begegnung
Einen letzten Höhepunkt des friedenspolitischen Bewegungsaktivismus
bildete eine maßgeblich von der britischen Gruppierung des END (European
Nuclear Disarmament) veranstaltete Konferenz im West-Berliner ICC
(Internationales Congress-Centrum) im Sommer 1983. Schon zuvor hatte der
kanadische Friedensforscher und -aktivist Hans Sinn brieflichen und
persönlichen Kontakt mit mir gesucht. Hans Sinn, Vorsitzender der
pazifistischen Organisation Peace Brigades International (PBI),
kooperierte seit den 1950er Jahren mit Wolf Schenke und Richard Sperber,
Verfechter eines nationalneutralistischen Kurses. Seit Beginn der
Anti-Raketen-Bewegung in der Bundesrepublik korrespondierten Sinn und
Sperber – der mit Friedensvertragsentwürfen die Blockstruktur aus den
Angeln zu heben hoffte – mit Edelbert Richter, der als Studentenpfarrer
am Katechetischen Oberseminar in Naumburg Theologiestudenten zu
systemkritischem Denken inspirierte und ermutigte. Von Hans hörte ich
zum ersten Mal den Namen Edelbert Richter. Über den Atlantik hinweg
tauschte er Briefe mit Edelbert, mit Christian Dietrich, Michael Kleim,
Stephan Bickhardt und anderen. Sperber unternahm einige Reisen zu den
christlichen Friedensaktivisten, bis ihm die DDR-Organe die Einreise
verweigerten. Nicht anders erging es alsbald auf seinen periodischen
Europa- und Deutschland-Reisen Hans Sinn. In ihrer Bedeutung nicht zu
unterschätzen sind zudem die persönlichen und indirekten Kontakte, die
der wegen seiner vehementen Kritik am ›Doppelbeschluss‹ sowie am
NATO-Bündnis aus der CSU ausgeschlossene, jetzt als Nichtmitglied für
die Grünen in den Bundestag gewählte Alfred Mechtersheimer zu Richter
und seinen Schülern aufbaute.
Eines Tages erhielt ich per Einschreiben mit Rückschein (!) einen
vielfach verklebten dicken Brief in Großformat aus Naumburg. Nach kurzem
Befremden entschied ich mich ihn zu öffnen. Er enthielt einen auf
schlechtes Papier getippten friedenspolitischen Aufsatz von Christian
Dietrich unter dem Titel A.E.I.O.U. Nicht um die Herrschaftsaufgabe des
Hauses Österreich auf dem gesamten Erdkreis ging es dem Verfasser,
sondern um Österreichs friedenspolitische Mittlerfunktion zwischen Ost
und West – als denkbares und wünschbares Modell für das zweistaatlich
existierende Deutschland. Von diesem Tag an datiert meine Freundschaft
mit Christian Dietrich, bis vor kurzem Pfarrer in Nohra am Fuße des
Ettersberges und der KZ-Gedenkstätte Buchenwald.
Mit Christian korrespondierte ich per Postkarte, er schickte Briefe
nach West-Berlin, dem Augenschein in unversehrten Kuverts. Inzwischen
boten sich durch die von Michail Gorbatschow mit großer Fanfare (glasnost) eröffnete Perestrojka
neue Chancen. Selbst wenn, wie wir mittlerweile wissen, der neue
Parteichef sich der ›deutschen Frage‹ nur widerstrebend – und im
Hinblick auf sein Rettungskonzept für die Sowjetunion deutlich zu spät –
näherte, geriet zum einen aufgrund der bloßen Reformversprechen, zum
zweiten dank der tatsächlichen Liberalisierung im Innern, nicht zuletzt
dank der von dem zuvor von deutschen ›Linken‹ geschmähten Ronald Reagan
eingeleiteten Abrüstungsoffensive die östliche Blockstruktur wieder in
Bewegung. Wäre das Politbüro um Erich Honecker rechtzeitig auf den
Reformzug aufgesprungen, existierte der Staat DDR womöglich noch
heute...
Während die SED-Führung, wirtschaftspolitisch unfähig, nach innen
repressiv, nach außen verschuldet, außenpolitisch phantasielos,
deutschlandpolitisch konzeptlos, die Ewigkeit der Mauer proklamierte,
gab es im Reiseverkehr von Ost nach West in den späten 1980er Jahren
gewisse Lockerungen. Eines Tages, im Sommer 1987, rief Stephan Bickhardt
bei mir an und kündigte für den späten Nachmittag einen Besuch zusammen
mit dem aus Jena hinausgeworfenen Roland Jahn an. Mit voller
Überzeugung, keinerlei Zweifel zulassend, sprach Stephan vom
bevorstehenden Zusammenbruch und Sturz des DDR-Regimes. Meine Skepsis ob
derlei jugendlicher Siegesgewissheit behielt ich für mich.
Ein Jahr danach erhielt ich vom Wichern-Verlag eine von Stephan
Bickhardt herausgegebene Textsammlung (mit einem Vorwort von Altbischof
Kurt Scharf) mit dem umfangreichen Titel Recht ströme wie Wasser. Christen in der DDR für Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung. Ein Arbeitsbuch aus der DDR. (Ich schrieb dazu eine Rezension, die unter der Überschrift Neues Denken noch vor dem Mauerfall im Deutschland Archiv 3/1989 erschien.) Das ›Arbeitsbuch‹ enthielt einen Aufsatz von Edelbert Richter über Abgrenzung und nationale Identität.
Er schrieb für westdeutsche Ohren, zumindest für die mehrheitlich am
Status-quo orientierte Politik, unerhörte Sätze: »Die bedrohliche
militärstrategische Lage Anfang der achtziger Jahre hat nicht ohne Grund
die Sehnsucht nach der Einheit Deutschlands wieder wach werden lassen.
Wenn die Großmächte uns vor die Alternative stellten, entweder in
absehbarer Zeit und selber gegenseitig zu vernichten oder umzukehren und
so erfinderisch für den Frieden zu werden, wie wir es in den letzten
hundert Jahren für den Krieg waren, dann setzten sie in jedem Fall
voraus, daß es uns – ›die Deutschen‹ – in irgeneinem Sinne noch gab. […]
Obwohl die Situation sich inzwischen entspannt hat, sollte der Schock
jener Jahre uns eine Lehre bleiben und sollten wir die Suche nach
unserer Identität als Deutsche weitertreiben. Was sich in den
zurückliegenden Jahren nur als harte Notwendigkeit aufdrängte, hat
vielleicht jetzt eine Chance der Verwirklichung.«
Der Autor reflektierte den Begriff ›nationale Identität‹ unter dem
Aspekt der ›objektiven‹, auf Sprache und Kultur gegründeten
Kulturnation und der ›subjektiven‹ – am französisch-republikanischen
Ideal orientierten – Begriff der politischen Willensnation und fand
beide zur Beschreibung der deutschen Wirklichkeit unangemessen. Aber:
»Den Status quo der Spaltung Deutschlands dürfen wir nicht anerkennen
(auch nicht mehr in Gestalt der friedlichen Koexistenz...), weil er
genau die Spaltung der Menschheit, ihre politische Handlungsunfähigkeit,
ihre Lähmung angesichts eines quasi-naturhaften Schicksals spiegelt.«
Nicht nur im Hinblick auf die welt- und machtpolitischen Gegebenheiten –
zum einen der Widerstand der Großmächte, zum anderen die Gefahren »einer Art (deutscher) Welthegemonie« schließe das Ziel einer
›Wiedervereinigung‹ aus. Als politische Zukunftsaufgabe der Deutschen
sah Richter eine produktive Mittlerfunktion zwischen Ost und West vor,
ein konföderales Gebilde (»Deutscher Bund«), das über den anvisierten
Ausgleich und das erstrebenswerte Miteinander beispielhaft
»Weltinnenpolitik« betreiben solle. Derlei Überlegungen und Zielen
sprachen mir und manch anderen – nicht allen – auf Veränderung Sinnenden
›im Westen‹ in jenen Jahren geradezu aus der Seele.
Als im August 1989 – die Franzosen feierten das Bicentenaire
ihrer Großen Revolution – die Bilder von der Durchtrennung des
›Eisernen Vorhangs‹ und der ungehinderten Flucht junger Deutscher aus
der DDR eine revolutionäre Wende signalisierten, erlebte in meinem
Berliner Freundeskreis sowie in Teilen der Alternativen Liste (AL) die
Deutschland-Debatte einen plötzlichen Aufschwung. Zu den
deutschlandpolitischen ›Aktivisten‹ gesellte sich jetzt der Philosoph
Guntolf Herzberg, der wiederum von seinem Freund Edelbert Richter
sprach. Noch vor dem Mauerfall war mir angesichts der revolutionären
Szenen – sowie aufgrund der eindeutigen Äußerungen von Ausgebürgerten
und Flüchtlingen – klar, dass die Bewegung in der DDR in Richtung
›Wiedervereinigung‹ gehen würde. Notwendig schien mir eine von
unabhängigen ›Linken‹ angestoßene Initiative zur Vorbereitung einer
verfassunggebenden Nationalversammlung.
Im nachhinein denke ich darüber eher skeptisch: Im Westen hätten
mutmaßlich die etablierten Parteien die Debatte dominiert, aus der DDR
waren angesichts geringer politischer und staatsrechtlicher Erfahrung
der Oppositionellen kaum wegweisende Impulse zu erwarten, ganz abgesehen
von dem politisch-manipulativen Geschick der soeben gescheiterten SED.
Der maßgeblich von westdeutschen (!) Autoren – nach den die Einheit nach
westlichem Muster vorwegnehmenden Wahlen am18. März – geschriebene
Entwurf für eine Verfassung der DDR blieb nicht zufällig bedeutungslos.
Insofern die in der ›Wendezeit‹ hervortretenden Gruppen wie
›Demokratischer Aufbruch‹, ›Demokratie jetzt‹ oder die anfangs als SDP
firmierende SPD keine einheitliche Kraft formieren konnten – soweit sie
nicht überdies mit Stasi-gesteuerten Führungsfiguren besetzt waren –,
erwies sich die Hoffnung auf einen friedlich-revolutionär
herbeigeführten demokratischen Neuanfang gemäß Art. 146 GG als chancenlos.
Nur als bittere Ironie der Geschichte erscheint der Umstand, dass die im
Revolutionsjahr 1989/90 mehrheitlich der Einheit abgeneigten Grünen im
Dezember 1990 nur mit Hilfe eines vom damaligen Innenminister Wolfgang
Schäuble wahlpolitischen Gnadenaktes [Korrektur s.o.] für die einstige DDR-Opposition im
Bundestag überlebten. Bis zu den nächsten Bundestagswahlen hatten sich
die von ihren patriotischeren Wählern bestrafte westdeutsche
Parteiführung bereits wieder politisch-ideologisch gefestigt.
Begegnung und Entfernung
Im Dezember 1989 kam es endlich zu dem angekündigten Besuch Edelberts
bei mir in Berlin-Steglitz. Welche Themen im einzelnen diskutiert
wurden, ist mir nicht mehr in Erinnerung. Ohne Frage herrschte in jener
Zeit in unseren Analysen,Wahrnehmungen und politischen Zielen
weitgehendes Einvernehmen: Eine rasche Wiedervereinigung der beiden
Staaten war kaum denkbar, vorrangig waren friedensvertragliche
Regelungen, Denuklearisierung, Abzug der fremden Truppen, Abrüstung,
Friedenspolitik. Die DDR sollte sich mit westdeutscher Unterstützung
wirtschaftlich regenerieren, eine ›soziale Marktwirtschaft‹
einschließlich eines intakten, bürokratisch entschlackten Staatssektors
und lebendiger Privatinitiative sollte im Osten den ökonomischen
Aufschwung, naturgemäß unter Beachtung ökologischer Prinzipien, eine
bessere Zukunft eröffnen. Die evangelische Kirche würde dank ihrer
unzweifelhaften Führungsrolle bei der friedlichen Revolution eine die
atheistische Gesellschaft mit christlichen Inhalten neu prägende Rolle
einnehmen. Nicht zuletzt gehörte der Begriff des demokratischen
Sozialismus beidseitig zu unserem geistigem Inventar.
Ein paar Wochen später begegnete ich Edelbert Richter und Stephan
Bickhardt bei einem von Mechtersheimer einberufenen Treffen. Wenig
später zerbrach der von Edelbert maßgeblich mitbegründete ›Demokratische
Aufbruch‹: Friedrich Schorlemmer und Edelbert Richter traten der von
dem altersweisen Willy Brandt mit patriotischer Leidenschaft beflügelten
SPD bei, andere – wie Angela Merkel steuerten den ›Demokratischen
Aufbruch‹ über die ad hoc kreierte ›Allianz für Deutschland‹ in Richtung
CDU unter Helmut Kohl, wieder andere gesellten sich – zum Teil nur für
kurze Jahre wie etwa Vera Lengsfeld – den Grünen zu. Damit mündete die
von großen Hoffnungen begleitete Revolution im östlichen Teil
Deutschlands in die westliche Parteienlandschaft. Durch die Niederlage
bei den freien Wahlen am 18. März blamiert, schien nicht wenigen die
SED-Nachfolgerin PDS ausgespielt zu haben.
Um Ostern 1990 herum besuchte ich Edelbert in Weimar. Auch Rolf
Stolz, der zu den von mehreren Seiten angefeindeten patriotischen
Friedensfreunden bei den Grünen zählte, war zu Besuch in Weimar
eingetroffen. Zu unserem Erstaunen war bereits ein aus Fürth in Bayern
stammender, in Bremen aktiver SPD-Funktionär angereist. Anstelle eines
in friedenspolitisch inspirierten Bahnen verlaufenden Gesprächs nutzte
der Parteimann den Abend, Edelbert zu den anstehenden Parteiaufgaben zu
instruieren, ihm insbesondere die Einstellung von Frauen auf beliebige
Positionen ans Herz zu legen. Derlei Themen lagen mir weniger am Herzen.
Noch einmal sah ich Edelbert als Abgeordneten in der im ›Palast der
Republik‹ tagenden Volkskammer, als diese – die wichtigsten politischen
Entscheidungen einschließlich der Währungsunion waren bereits gefallen –
einen recht lustlosen Eindruck machte. Eine weitere Begegnung fiel auf
die Feier zu Edelberts 50. Geburtstag. Zu diesem Zeitpunkt hatte
Edelbert, inzwischen Mitglied der Grundwertekommission der SPD und
Beobachter am Europäischen Parlament in Straßburg, mehrfach
verdeutlicht, dass er mit der politischen Entwicklung seit der
Vereinigung 1990 keineswegs einverstanden war, dass selbst in seiner
Partei, der SPD, die von ihm verfochtene sozialistische Programmatik
nicht hinreichend zur Geltung kam.
Zum letzten Mal [Korrektur s.o.] begegnete ich Edelbert im September 1993 auf einer
Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bad Godesberg, wo es unter
der Gesprächsleitung von Bernd Faulenbach um »Die Ost- und
Deutschlandpolitik der SPD in der Opposition 1982-1989« ging. Mit einer
Prise Selbstkritik sollte die von der SPD mit einer Parteikommission
der SED betriebene Politik – Vertiefung der Entspannung, ideelle
Annäherung und Eruierung programmatischer Gemeinsamkeiten sowie, als
Nebenprodukt, deutsch-deutsche Annäherung – auf der Basis des nunmehr
für unveränderlich, ja friedenspolitisch notwendigen staatlichen Teilung
gerechtfertigt werden. Als eine Art ›Dissident‹ auf dem Podium wandte
ich mich gegen die nicht etwa nur realpolitisch unvermeidliche Hinnahme
der deutschen Teilung, sondern die faktische Abwandlung der ehedem stets
abgelehnten Teilung zur Parteidoktrin. Ich deutete an, dass hinter
dieser ideologischen Überhöhung nicht selten politische Theologie in
säkularisiertem Gewand, genauer: die im Linksprotestantismus
verbreiteten Schulddoktrinen steckten und dass derlei Schuldpsychologie
in Deutschland jederzeit politisch instrumentalisierbar sei.
In der Pause gab es nur ein kurzes, enttäuschendes Gespräch mit
Edelbert. Er erklärte, er habe mich nicht verstanden. Das ist insofern
nicht von der Hand zu weisen, als meine Ausführungen zur
Schuldproblematik in indirekten Worten, in sehr verhaltener Weise
vorgetragen wurden.
Es war meine letzte Begegnung [Korektur s.o.] mit Edelbert. Es gab auch keinen
sonstigen Kontakt mehr. Seinen Austritt aus der SPD 2005 und den zwei
Jahre später vollzogenen Beitritt zur ›Linken‹ erfuhr ich aus den Medien
sowie von seinen früheren Schülern.
Zur Dialektik politischer Theologie
Ginge es nur um Edelbert Richters Bewegungen auf dem Feld der
Politik, so fiele ein ›gerechtes‹, abgewogenes Urteil nicht leicht.
Seine Verdienste um die Überwindung der unmenschlichen Teilung unseres
Landes, um ideelle und reale Bewegung in dem durch Machtblöcke, Mauer
und Hochrüstung zementierten, mit Ideologie befrachteten Zustand
Deutschlands, sind unstrittig. Sie gehören zu seinem Lebenswerk, bilden
zu Recht den Stoff einer Laudatio.
Schwieriger ist seine politische Laufbahn nach dem Mauerfall zu
würdigen, insbesondere seine Hinwendung zur ›Linken‹ (oder Linkspartei).
Meine Kritik gilt hier nicht in erster dem Anschluss an das Gespann
Gregor Gysi – Oskar Lafontaine, selbst nicht dem Schulterschluss mit den
einst bekämpften Parteikadern, soweit sie nicht zu den unbelehrbaren
Stalinisten zählen, die dort noch immer zu finden sind.
Meine Absage gilt der Vereinigung mit westlichen Kadern wie Ulla
Jelpke, die in friedensbewegten Zeiten zu den schlimmsten Feinden der
DDR-Oppositionellen zählten und, inzwischen zur Kerntruppe der sog.
›Antifa‹ avanciert, sich als Wächter politischer Moral gerieren. Diese
Leute bekämpfen nicht nur – aus immerhin respektablen Motiven – die
unser Land mit Hass und Verbrechen beschämenden neonazistischen Banden,
sondern sie denunzieren ohne Skrupel jegliche Gruppe, Person oder
Tendenz, die ihnen missfällt, als ›rechts‹, kryptofaschistisch oder gar
neonazistisch. Empörend daran ist, dass die real existierende
neonazistische Szene zumindest in den östlichen Bundesländern auf jenem
Boden erwachsen ist, der jahrzehntelang von dem atheistischen SED-Regime
bereitet wurde. Der Verweis auf die Vorgeschichte im
Nationalsozialismus ist kein Gegenargument. – Ein Mann wie Edelbert
Richter müsste zu diesem Thema auch als Christ die Stimme erheben.
Ein anderes mit dem Namen Edelbert Richter – und dessen Rückwendung
zu der sich als sozialistisch verstehenden ›Linken‹ – verknüpftes Thema
soll abschließend nur angedeutet werden. Der Theologe Richter, ein
philosophischer Nachfahre des deutschen Idealismus, bezeichnet sich als
Hegelianer. Ihm geht es um die Vermittlung des transzendent gedachten
Geistes (Gottes) mit der immanenten Wirklichkeit des endlichen Menschen
und des Menschengeistes. In der Reflexion der katastrophisch-mörderisch
missglückten Geschichte des 20. Jahrhunderts geht es ihm um die
Vermittlung der beiden Traditionen der Freiheit in Gestalt des
Liberalismus und der Gerechtigkeit in Gestalt des Sozialismus, wobei der
sozialistische Gedanke, das Streben nach Emanzipation von den
Mechanismen des kapitalistischen Marktes – des liberaler Doktrin nach
allein persönliche Freiheit garantierenden Raumes wirtschaftlicher
Freiheit – im Zuge seiner Ablösung von der SPD in den Vordergrund
gerückt ist.
Eine von vielen liberalen Linken in der Vergangenheit angestrebte
Verknüpfung von Liberalismus und Sozialismus scheint bislang kaum je
gelungen, nicht zuletzt, da Funktion, Umfang und Funktionsweise des
interventionistischen Staates – als Vehikel sozialistischer Zielsetzung –
stets umstritten sind. Ob die Partei ›die Linke‹ für derart
hochkomplexe Themen brauchbare, ›sozialistische‹ Konzepte parat hält,
sei dahingestellt, nicht allein wegen der ökonomischen Sprunghaftigkeit
eines Oskar Lafontaine.
Edelbert Richter konnte ich auf seinen späteren politischen Wegen
nicht mehr folgen. Die hegelianisch inspirierten Vermittlungen des
politischen Theologen Richter kann ich zwar verstehen, aber nur
philosophische Überzeugungskraft zubilligen. Von dem Theologen Edelbert
erhoffe ich in kommenden Jahren noch christlich begründete Aussagen über
den Sinn menschlicher Existenz in einer gottvergessenen, von völlig
neuen Gefahren gekennzeichneten geschichtlichen Immanenz.