Die Ampel steht auf Grün. Unter Olaf Scholz als neuem Bundeskanzler muss die Regierung nur noch durchstarten, um im zweiten Corona-Winter "mehr Fortschritt [zu]wagen". Der mit Progressiv-Denglisch angereicherte Koalitionsvertrag, konzipiert als voluminöses Handbuch zur großen "Transformation" der deutschen Gesellschaft, ist nicht nur sprachlich fragwürdig. Wo es ums "Gestalten" politisch-gesellschaftlicher Prozesse geht, können wir davon ausgehen, dass es darum geht, konzeptionelle Unklarheiten und innere Widersprüche mit schönen Worten zu verhüllen.
Dass der angekündigte Fortschritt selbst bei den öffentlich stets fröhliche Gemeinschaft zelebrierenden Grünen erstmal mit traditioneller Rangelei um Kabinettsposten beginnt, gehört zur Ironie des politischen Alltags, wo allzu oft Macht mit Moral kollidiert. Für den Fortgang der Dinge ist es von geringem Belang, dass Cem Özdemir das Minsterium für Ernährung und Landwirtschaft übernimmt und nicht Anton Hofreiter. Wichtiger ist die Frage, wie die Grünen und - von Christian Lindner im Finanzministerium abgesehen - die "grün" dominierte Regierung die Ziele Umwelt-, Tier und Landschaftsschutz, Klimaschutz und "saubere" Energiegewinnung, technologischen Fortschritt und wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt unter einen Hut bekommen können.
Dass die genannten Themen auch einen außenpolitischen Bezug haben, wird nicht nur in der Absage der künftigen Außenministerin Baerbock an Nordstream 2 erkennbar. Die Ankündigung bedeutet eine Abkehr von der unter Merkel verfolgten Energie- und Russlandpolitik. Im Falle der Nichtinbetriebnahme der zweiten Gaspipeline könnte sich Deutschland des Beifalls von Polen, den baltischen Staaten, der Ukraine und den USA gewiss sein. Mehr als ungewiss wäre indes die Energieversorgung des Landes in den kommenden Jahren, in denen der Übergang durch "saubere" Energien (Windkraft, Solarparks, "grüner" Wasserstoff) erreicht werden soll. Unabweisbar wird Deutschland im Zuge des - gerade auch durch Ausbau der Informationstechnik - wachsenden Energieverbrauchs auf Import von Energie, darunter eben auch das weniger klimaschädliche Erdgas, nicht verzichten können.
In den absehbaren Szenarien von Stromausfällen und Energieknappheit mögen sich die Grünen - und alle ähnlich gestimmten Klimaschützer - über die Diskrepanz von reinen Zielen und politischer Machbarkeit, über den Widerspruch von Ideologie und Wirklichkeit, hinwegsetzen, wenn es darum geht, die Defizite durch Stromimporte aus französischen und polnischen Atomkraftwerken auszugleichen. Innerhalb der EU werden die grünen Deutschen mit ihrem antinuklearen Credo an ihre Grenzen stoßen.
Die Grünen gefallen sich - insbesondere in ihrer nicht unberechtigten Aversion gegen Putin - in ihrer Rolle als Verfechter reiner Moralpolitik. Zu empfehlen wäre indes ein mehr pragmatisches, mithin realpolitisches Herangehen an die komplexe Wirklichkeit. Diesbezüglich erhellend ist der soeben auf "Foreign Affairs" erschienene Aufsatz der Klima- und Sicherheitsexperten Jason Bordoff und Meghan L. O´Sullivan: Green Upheaval. The New Geopolitics of Energy. (https://www.foreignaffairs.com/articles/world/2021-11-30/geopolitics-energy-green-upheaval?) In einer breit angelegten Analyse der globalen energiepolitischen Zukunftsfragen plädieren die Autoren für die Beibehaltung der Strategischen Ölreserve und die weitere - gemäßigte - Nutzung von Gas und Nuklearenergie in den USA.
Sie richten implizit den Blick auf das Dilemma der Europäer, die ohne russisches Gas und ohne Atomkraftwerke ihren Energiebedarf - nicht zuletzt im technologischen Wettberwerb mit China - nicht befriedigen werden können. Zu Recht verweisen sie auch auf die problematischen Aspekte der für "grüne" Systeme erforderlichen Rohstoffe wie Kobalt, Lithium, Nickel, Kupfer und seltene Erden. Im Blick auf das Klimaziel - von "nur" 1,5 Grad Erderwärmung bis 2050 - werde sich die Nachfrage nach diesen Materialien bis 2040 gegenüber heute versechsfachen.
Komplette Naivität ist den Grünen nicht zu unterstellen. Es ist daher nicht anzunehmen, dass in der Ampel-Koalition, in ihrem "grünen" Umfeld sowie in den auf grüne Technologie ausgerichteten Unternehmen die skizzierten Widersprüche "sauberer" Energiepolitik gänzlich unerkannt seien. Gleichwohl herrscht bei den Grünen die medial verstärkte Tendenz vor, die mit der "Klimarettung" verknüpften politischen - und technologischen - Fragen zu ignorieren und durch eine Mischung aus apokalyptischer Rhetorik und moralisch aufgeladenem technokratischen Optimismus zu überspielen.
Es bleibt abzuwarten, ob über Nordstream 2 doch noch Gas nach Deutschland gelangt. Als Lösung der Energiekrise sieht der grüne Plan die Versiegelung von "nur" zwei Prozent der Gesamtfläche der Bundesrepublik mit Windrädern vor sowie die forcierte Verlegung von Stromtrassen - mit erheblichen Energieverlusten - vor. Außerdem werden die Strompreise weiter steigen, was für Unmut sorgen wird. Parallel dazu werden die Proteste gegen die Landschaftszerstörung zunehmen. Bereits jetzt herrscht darüber Streit bei den Umweltverbänden Nabu und BUND, den bis vor kurzem wichtigsten Verbündeten der Grünen in der "Zivilgesellschaft". Wenn deutlich wird, dass den vornehmlich in urbanen Lebensräumen beheimateten Grünen an Natur- und Landschaftsschutz nicht allzuviel gelegen ist, könnte der Ampel-Koalition noch manch unangenehmer Wind entgegenschlagen.
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