Freitag, 18. Juni 2021

Das Übliche aus der Hauptstadt

I.

Die historisch einprägsamen Tage des Monats Juni, die allesamt in einem Zusammenhang stehen - rückwärts datiert vom 28. über den 22. zum 17. bis hin zum 2. Juni - verlangen einen Essay. Aus diversen Gründen muss ich die Leser (ohne Sternchen, Rülpser, Unterstrich etc., aber sc. auch alle Leserinnen umfassend) vertrösten. Im übrigen bleibt zu fragen, ob in einem ahistorischen - historisch-geographisch, historisch-kulturell und geschichtspolitisch reduzierten - Land,  differenzierende Geschichtsbetrachtungen überhaupt noch der Mühe lohnen. Abweichungen von der Generallinie werden entweder ignoriert, nicht verstanden oder bewusst missverstanden. Aber man möchte ja trotz alledem nicht aufgeben...

Auch die Zustände in Berlin, 1991 mit knapper Mehrheit wieder zur (gesamt-)deutschen Hauptstadt erhoben, stehen im erwähnten historischen Zusammenhang, wenngleich er der Mehrheit der Bewohner/innen der Stadt sowie der hier agierenden politischen Klasse weder bewusst noch erkennbar ist. Warum auch sollte man sich mit unbequemen Gedanken belasten?  "Is mir egal!"

Nach derlei Prolegomena stelle ich nachfolgend anstelle eines Kommentars zu den Zeitläuften meine Besprechung eines Buches vor, das - ohne Anspruch auf historische Tiefenlotung - die Zustände in der Hauptstadt beleuchtet. Den aktuellen Kommentar zu dem Buch des sich als kämpferischen Liberalen darstellenden Marcel Luthe lieferte die jüngste Veranstaltung um die "Rigaer 94" (mit 60 verletzten Polizisten).

Die Buchbesprechung ist auf der "Achse des Guten" erschienen: https://www.achgut.com/artikel/alles_halb_so_schlimm_failed_state_berlin


II.

Alles halb so schlimm?

Einen Namen machte sich der Unternehmensberater Marcel Luthe, Autor der vorliegenden chronique scandaleuse berlinoise, als Initiator des mit fast einer Million Stimmen zwar erfolgreichen, aber 2017 politisch abgewehrten Volksentscheids für die Beibehaltung von Berlin-Tegel als Zweitflughafen der Bundeshauptstadt. Anno 2016 im Wahlbezirk Grunewald-Halensee für die FDP ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt, erwarb er sich dank seiner unermüdlichen Neigung zu – bis dato 2000 - Anfragen die Rolle eines betriebsfremden Außenseiters. Den rot-rot-grünen Senat nervte er mit allerlei lästigen Anträgen zur Akteneinsicht. Wie und warum er sich als Sprecher der FDP im Innenausschuss mit seiner Fraktion überwarf, so dass diese ihn aus der Fraktion ausschloss, entzieht sich der Kenntnis des Rezensenten. Im Oktober 2020 verließ Luthe (unter Beibehaltung seines Mandats) die FDP. Im April 2021 trat er als Spitzenkandidat der „Freien Wähler“ für die im September – am selben Tag wie die Bundestagswahlen - anstehenden Berliner Wahlen hervor.

In seinem Buch präsentiert Luthe eine zwanzig Kapitel umfassende Serie von bekannten oder bereits halbvergessenen Berliner Skandalen, von Missständen in der Stadt, von Fehlleistungen und Vetternwirtschaft innerhalb der politischen Klasse. Zu Recht verweist er auf die real steigende – nur durch resignative Nichtverfolgung von Straftaten und statistische Finessen – vermeintlich geminderte Kriminalitätsrate in der Stadt. Überlastung der Justiz und Prozessverzögerung gehen einher mit der unzureichenden Personalausstattung der unterbezahlten Polizei, mit Angriffen der auf Polizisten und Feuerwehrleute. In der Organisierten Kriminalität liegt Berlin unter den Bundesländern hinter Nordrhein-Westfalen, Bayern und Niedersachsen in absoluten Zahlen an vierter Stelle. Obenan standen in der Bundeshauptstadt 2019 nicht wie zu erwarten arabische Clans, sondern Rumänen, Serben, Tschetschenen und Vietnamesen. In der Zwangsprostitution stechen Nigerianer hervor, in der Schleuserkriminalität „führt“ Deutschland ( genauer: deutsche Staatsbürger) vor Serbien, Türkei und Vietnam (140-148).

Seine Thesen zum desolaten Zustand der Stadt belegt der Autor mit erhellenden Statistiken. Ist das Buch auch flüssig geschrieben, so wirkt es auf den Leser oft dort ermüdend, wo die Seiten mit langen Auszügen aus seinen Anfragen an den Senat gefüllt sind.

Luthe versteht sich als kämpferischer Liberaler, der Berlin zwar noch nicht als „failed (city) state“ betrachtet, aber die „Kapriolen“ beenden will, „mit denen Rot-Rot-Grün, ebenso wie Rot-Schwarz und Rot-Rot vor ihnen, Freiheit, Wettbewerb und Wirtschaft vernichtet und Sozialismus errichtet.“ (6) Gleich im ersten der zwanzig Kapitel nimmt er die unendliche, zig Milliarden verschlingende Geschichte des neuen Großflughafens BER aufs Korn, bei der – nicht nur - die im Aufsichtsrat versammelten Politiker und Politikerinnen um Klaus Wowereit ihre Aufsichtspflichten evident vernachlässigten. Nun wird die Flughafengesellschaft FBB (Flughafen Berlin Brandenburg GmbH) zwar zu 100 Prozent aus öffentlichen Mitteln finanziert, und als Eigner firmieren die Länder Berlin und Brandenburg sowie der Bund. Nichtsdestoweniger ist zu fragen, ob zur Erklärung des mit zahllosen Pannen behafteten Großprojekts der Begriff „Sozialismus“ angebracht ist. Die Vergeudung von öffentlichen Geldern, die Mischung aus bürokratischem Schlendrian und einem unüberschaubaren Geflecht von privaten Unternehmen und Subunternehmen gehört weltweit zur Signatur von Riesenbaustellen.

Immerhin erfuhr Luthe bei einer seiner ersten Anfragen zum Fortgang der Dinge bei der FBB, dass es sich bei einem Haftungsgutachten um „Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse“ handle, die dem Untersuchungsausschuss >BER< nur „als vertrauliche Unterlagen (Verschlusssache-vertraulich) zur Verfügung gestellt werden.“ (17) Auch in westlichen Demokratien hat Transparenz so ihre Grenzen.

Mutmaßlich hatte Luthes Initiative „Berlin braucht Tegel“ von 2015 nie eine Chance, da die Planungen für die Nutzung des großen Terrains zu diesem Zeitpunkt längst abgeschlossen waren. Zitationswürdig ist ein Passus aus dem 108seitigen Beschlussentwurf des Senats, in dem der verfassungsrechtlich unzweifelhafte Volksentscheid als „nicht umsetzbar“ erklärt wurde: „Das Abgeordnetenhaus unterstützt den Senat bei der Gewährleistung einer zukunftsorientierten Anbindung Berlins an den Luftverkehr entsprechend dem SingleAirport-Konzept.“ (228)

Etwas anders verlief Jahre zuvor – während des durch die Hauptstadtverlagerung ausgelösten Baubooms in den 1990er Jahren - zuvor der Skandal um die Berliner Bankgesellschaft. Die SPD, im Aufsichtsrat unter anderem durch Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing vertreten, nutzte 2001 die Chance, durch Attacken auf den CDU-Fraktionsvorsitzenden Klaus Landowsky, Intimus des Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen, diesen zu stürzen und Klaus Wowereit zu installieren. Der Prozess gegen Landowsky kostete Millionen und endete 2014 mit dessen Freispruch.

Einige der von Luthe aufgeführten Beispiele für politische Inkompetenz und Verschwendung von Steuergeldern – etwa anno 2020 der Einkauf von Corona-Masken für 170 Millionen Euro zum dreifachen Marktpreis - sind kein Berliner Spezifikum. Anders der Umgang mit dem Thema Wohnungsnot, steigende Mieten und „Immobilienhaie“. Die angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt resultiert nicht allein aus dem Bevölkerungswachstum der Hauptstadt und dem Zuzug von zahlungskräftigen Neu-Berlinern. Eine Ursache liegt auch in der Anmietung von Wohnungen für 20 000 – teilweise nicht auffindbare – Flüchtlinge, für die 200 Millionen Euro jährlich anfallen.(159) Gleichzeitig läuft die moralisch gemeinte Kampagne „Berlin hat Platz“.

Während der amtierende Senat den Rückkauf von ehedem privatisierten Wohnungen anstrebt, kommt parallel dazu die „Initiative Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ ins Spiel. Deren Ziel ist - ein Volksentscheid. Der „private“ (oder „zivilgesellschaftliche“) Trägerverein – mit einem früheren Stasi-Major als Vorstandsmitglied – wird laut Auskunft des grünen Bezirksamts Friedrichshain-Kreuzberg mit „einer Summe von 17 500.- € aus dem Kapitel 4200/ 5321 /Bürgerbeteiligung an Planungen)“ finanziert. (233f.)

Berlintypisch ist für Luthe der Song des Neuköllner Rappers Kazim Akboga „Is mir egal“, mit dem die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) Werbung machen. (258) Ob ihm mit seiner in der Hauptstadt offenbar in sich noch uneinigen Vereinigung „Freie Wähler“ der Wiedereinzug ins Abgeordnetenhaus gelingt, steht dahin. Nichtsdestoweniger liefert er mit seinem Buch nicht nur seinen potentiellen Wählern, sondern auch anderen, die die „Entfremdung der Politik von den Bürgern“ (291) wahrnehmen, ein paar einprägsame Argumente.

Marcel Luthe: Sanierungsfall Berlin. Unsere Hauptstadt zwischen Missmanagement und Organisierter Kriminalität, München (FinanzBuch Verlag) 2021, 304 Seiten, 20,60 €



Mittwoch, 9. Juni 2021

Wahlen, Zahlen, Farbenspiele und ihre mögliche Bedeutung

I.

Die Erleichterung über das Wahlergebnis in Sachsen-Anhalt hält an: Die Wahlforscher (recte: die "Wahlforschenden") haben sich geirrt. Das deutsche Ansehen in der Welt ist gerettet. Die CDU erscheint mit 37,1 Prozent in alter Stärke. Die AfD, das rechte Schreckgespenst aus dem "Osten", ist auf 20,8 Prozent zurückgefallen. Die mitteldeutsche SPD weist mit 8,4 Prozent der Bundespartei den weiteren Weg nach unten. Die Linke, die langjährige westdemokratische Beauftragte für "ostdeutsche" Sentiments (und Ressentiments), hat mit 11,0 Prozent über 5 Punkte eingebüßt. Die FDP ist mit 6,4 Prozent zurück auf der landespolitischen Bühne, und die grünen Bäume sind mit 5,9 Prozent nur kümmerlich gewachsen. 

Ministerpräsident Reiner Haseloff, dem die CDU in erster Linie ihren Erfolg verdankt, kann gelassen in die Koalitonsverhandlungen eintreten. Mehrheiten - selbstverständlich ohne die AfD, aber auch anderswo weniger selbstverständlich ohne die Linke - sind beliebig denkbar. Im medial beliebten Farbenspiel spekuliert man über Konstellationen von Schwarz-Rot, Schwarz-Gelb-Grün (="Jamaika") oder Schwarz-Rot-Gelb (="Deutschland", gelb statt golden). Der lokale Grünen-Chef hat "Kenia" (=Schwarz-Rot-Grün wie bisher) ausgeschlossen, aber das kann sich ja noch ändern. Für "Jamaika" sind die Grünen aufgeschlossen, denn die Klimarettung -  in der Karibik und global - liegt ihnen (außer Ministerposten, Planstellen und Genderismus) besonders am Herzen.

Ob sich Markus Söder über das Wahlergebnis freut, ist für unsere Betrachtung belanglos. Für ihn gehört "der Armin" jetzt wieder zu seinen Freunden, wie es sich für den Charakter einer demokratischen Partei  gehört. Auch verkneife ich mir Spekulationen über die Wahlen im September - wer weiß schon, wie sich Wetter und Klima im Sommer 2021 noch entwickeln, ob Covid trotz sommerlicher Temperatur in neuer Variante, mit der Wucht einer vierten Welle, unsere Breiten noch einmal heimsucht, oder ob neue Scharen von Flüchtenden/Geflüchteten - mit Sicherheit (und verständlicherweise) aus Afghanistan, mit Wahrscheinlichkeit aus Nigeria, Gambia, aus Burkina Faso oder von sonstwo - der AfD wieder Stimmenzuwachs bescheren. 

Gut, eine Prognose sei gestattet, die Haupstadt betreffend: Mit gemäßigter Rhetorik betreibt Franziska Giffey, ihrer Doktorbürde endlich enthoben, Wahlkampf gegen die bisherige Koalition mit Linken und Grünen. Das könnte für ein paar Prozent mehr für die SPD reichen. Wie es dann mit der Regierungsbildung in der Bundeshauptstadt - von Böswilligen und/oder Illusionslosen bereits als "failed city" bezeichnet - ausgeht, bleibt den Parteichargen, Netzwerkern und dem Gewissen der Männer, Frauen und Diversen im Abgeordnetenhaus überlassen. 

 II.

Von Interesse und Bedeutung sind im Blick auf Sachsen-Anhalt noch andere Zahlen. Die Wahlbeteiligung lag mit 60,3 Prozent noch knapp unter der  Quote von 2016. Das bedeutet nichts anderes, als dass ein erheblicher Teil der Wahlbevölkerung - von den grundsätzlich Desinteressierten abgesehen - sich der Teilnahme an Wahlen verweigert, weil man sich im Parteienangebot nicht vertreten sieht. Der Merkel-kritische CDU-Werteunionist Werner J. Patzelt (https://wjpatzelt.de/) spricht zu Recht von einer "Repräsentationslücke". 

Immerhin kamen unter den 9 Prozent der "Anderen", deren Stimmen wie stets unter den Tisch fallen,  die "Freien Wähler" auf drei Prozent. Falls sich diese Gruppierung nicht sogleich wieder zerstreitet und etwa auch in Berlin - unter dem Ex-FDPler Marcel Luthe -  die Fünf-Prozent-Hürde überwinden sollte und im Abgeordnetenhaus landet, entfaltet sich in der deutschen Parteienlandschaft ein neues Bild: Die etablierten Parteien, die entgegen ihres Selbstverständnisses zusehends ihre Funktion als "Volksparteien" verlieren - deutlich ist die Tendenz bei der SPD, noch nicht so deutlich bei der CDU/CSU - an Zustimmung. Sie sehen sich auf Landes- und Bundesebene neuen Mitspielern gegenüber, was den Charakter des Parteienstaates insgesamt verändern könnte.

Aufschlussreich an den Daten für Sachseln-Anhalt sind nicht nur die Wählerwanderungen - mit deutlichen Gewinnen für Haseloff und Verlusten der AfD in Richtung Abstinenz - , sondern das Abstimmungsverhalten der Alterskohorten. SPD und Linke werden hauptsächlich nur von "Menschen über 60" gewählt. Unter den Jungen (bis 29) ragen AfD (mit 19 Prozent) und die Grünen (mit 13 Prozent) hervor. Es fehlt dazu noch die soziokulturelle Zuordnung, etwa: hier die grün-sozialisierte Jugend mit höheren Bildungsambitionen, dort die mit noch nicht wegsozialisertem "nationalen" Selbstbewusstsein - teils unbefangen naiver, teils bedenklicher Natur - Herangewachsenen. 

Sachsen-Anhalt ist nicht identisch mit der noch immer als "Osten" klassifizierten Gesamtregion der einstigen DDR. Erst recht nicht ist das mitteldeutsche Bundesland repräsentativ für die Bundesrepublik. Nichtsdestoweniger zeichnen sich in ganz Deutschland neue politisch-kulturelle Tendenzen und Trennungslinien ab, die in der Post-Merkel-Ära gesamtpolitische Bedeutung gewinnen könnten. Die politische Landschaft könnte bunter und diverser werden, aber anders als von den diversity-Apostelinnen propagiert.

 





Sonntag, 9. Mai 2021

Stellenausschreibung. Satura non est.

Im Leben gilt es Widersprüche auszuhalten, etwa im Umgang mit den social media – wir nutzen sie, obgleich wir sie aus prädigital anerzogenem Bildungshochmut heraus verachten mögen. Auch verdanken wir ihnen Informationen, die in den Qualitätsmedien kaum Beachtung finden. Gewiss: Wer sich in das Netz von Facebook begeben hat, kommt schwer wieder heraus. Auch muss man im Umgang mit den friends (genderfrei) vorsichtig sein, es könnten unter den „Freunden“ (oder Freund:innen) einige fragwürdige Existenzen auftauchen.

Und doch: Die Mehrzahl meiner Fb friends erscheint mir als seriös, viele sogar liebenswert. Einer von ihnen übermittelte folgende Stellenanzeige im Bereich „Politische Bildung“, die mir als leidlich versorgter Pensionär – deutlich unter den Besoldungssätzen der unlängst  in den Ministerien der ausgehenden Großen Koalition beförderten Referenten – entgangen wäre.

Es handelt sich um die Stelle einer Referentin / Referent (w/m/d) für den Fachbereich L "Politische Bildung und plurale Demokratie" (FBL) in Gera.

Die Stellenbeschreibung lautet wie folgt:

Am Standort Gera baut die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb eine neue Außenstelle auf. Hier sucht die bpb für den Fachbereich L "Politische Bildung und plurale Demokratie" (FBL) zum Aufbau und zur Übernahme des Aufgabenbereichs "intersektionales Erinnerungs- und Transformationswissen" zum nächstmöglichen Zeitpunkt eine Referentin / einen Referenten (w/m/d). Das Beschäftigungsverhältnis ist unbefristet, das Entgelt bemisst sich vorbehaltlich einer noch durchzuführenden Arbeitsplatzbeschreibung nach Entgeltgruppe 13 TVöD.

Die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) ist eine moderne und innovative Behörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat (BMI) und orientiert sich mit ihrem Bildungsangebot an den Grundfragen der demokratischen Entwicklung und des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Hauptdienstsitz der bpb ist in Bonn, weitere Standorte sind in Berlin und in Gera. Weitere Informationen über die bpb finden Sie im Internet unter www.bpb.de.

Der Fachbereich "Politische Bildung und plurale Demokratie" (FBL) hat die Aufgabe, die sich entwickelnden demokratischen Aushandlungsprozesse in einer diverser werdenden Gesellschaft im Kontext sozialer Strategien zum Thema politischer Bildung zu machen. Die Hauptaufgaben bestehen in der Auseinandersetzung mit Dimensionen der Politisierung und Dekolonisierung von Erinnerung, sowie der Erarbeitung von Erkenntnissen, Formaten und Didaktiken einer intersektionalen politischen Bildung. In den aktuellen Erinnerungsdebatten zeichnet sich immer deutlicher die Notwendigkeit ab, kollektive Erinnerungen zu dekolonisieren und damit zu diversifizieren. Gegenstand der ausgeschriebenen Stelle ist u.a. die kritische Auseinandersetzung feministischer Theorie, Gender Studies, postkolonialem Erinnern und deren Übersetzung in politische Bildungsansätze in Auseinandersetzung mit sozialer Ungleichheit und der Abschwächung von Machtasymmetrien im Bildungsprozess (sic!). Ungleichheit und Ungleichbehandlung im Bildungssystem ist nicht nur das Ergebnis so genannter "sozialer" Benachteiligung und Deprivation, sondern geht auf Diskriminierungserfahrungen von Rassismus, Klassismus, Geschlechterdiskriminierung oder Behindertendiskriminierung zurück, die erhebliche Konsequenzen auch für politische Partizipationserfahrungen generieren. Mit verschiedenen Veranstaltungs- und Publikationsformaten setzt der FBL vorrangig an den Alltags- und Erfahrungswelten der Menschen in Transformationsregionen an und korreliert sie mit den pluralen Lebensentwürfen einer diverser werdenden Gesellschaft, insbesondere marginalisierter Gruppen und Communitys.“

Keine Frage: Die "Auseinandersetzung mit Dimensionen der Politisierung und Dekolonisierung von Erinnerung" ist - vor allem im Hinblick auf die "Dimensionen" - überfällig. Die „Ossis“ in Gera und Umgebung werden sich über die ihnen endlich eröffneten westdeutschen Bildungschancen freuen. Die älteren und weniger Bildungsfernen unter ihnen werden sich gleichwohl an den Phrasenkatalog erinnern, mit dem sie während des Studiums im Pflichtfach „Gesellschaftswissenschaften“ gefüttert wurden.

Merke: Der obige Text ist über das Netz aufzurufen. Satura non est.


 

Dienstag, 4. Mai 2021

Lesefrucht: Eine Kritik unserer neuen Säkularreligion

I.

"Umstritten" ist die im deutschen Haltungsjournalismus übliche Vokabel, um nonkonforme, nicht-Merkel-grüne, real kritische Stimmen aus den vermeintlich liberalen "Diskursen" herauszuhalten. Ähnlich negativ aufgeladen ist das Adjektiv "fragwürdig".  Als "fragwürdige Medien" bezeichnete die Journalistin Liane Bednarz als Gastautorin im "Spiegel" unlängst »Tichys Einblick«, »reitschuster.de«, die »Achse des Guten« sowie die »Epoch Times«. (https://www.spiegel.de/politik/deutschland/hans-georg-massen-kandidiert-fuer-die-cdu-wenn-die-grenzschuetzer-der-partei-versagen-a-72dd097e-15ce-4da3-9227-6aa0aa8a191a

Das Adjektiv "fragwürdig" lässt sich semantisch auch ins Positive wenden, was ich - als Gastautor auf der "Achse" und "TE" -  keineswegs  als Selbstverteidigung verstanden wissen will. Im Gegenteil: "Fragwürdig" ist alles, was - anstatt fraglos akzeptiert zu werden - in kritischer Analyse in Frage zu stellen ist. Wer Kritik an den Dogmen der Zivilreligion, wer kritisches Fragen - anno 1968 erfand man dafür das scheußliche Modewort "Hinterfragen" - für "fragwürdig" befindet, stellt die Tradition der Aufklärung in Frage.   

Nach dieser kurzen Vorrede zitiere ich - anstelle eines eigenen Blog-Eintrags - Passagen aus einem Aufsatz des Autors Markus Vahlefeld auf dem "fragwürdigen" Medium "Achse des Guten". Ich empfehle meinem Blog-Publikum  zur Lektüre den ganzen Aufsatz mit dem provokativen Titel

"Willkommen im Überwachungs-Kapitalismus und im Millionärs-Sozialismus" (https://www.achgut.com/artikel/willkommen_im_ueberwachungskapitalismus_und_millionaerssozialismus)

II.

"Mit dem Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus sourcte der Kapitalismus seinen inneren Widerspruch, der ihm durch ein funktionierendes Staats- und Gemeinwesen auferlegt war, einfach aus. Seine billigen Arbeitskräfte findet er nun nicht mehr im Inland, sondern in entfernten Regionen mit erheblich schwächer ausgeprägten staatlichen Strukturen. Dafür hat sich der Begriff Globalisierung durchgesetzt, und bis vor wenigen Jahren war es genau diese Globalisierung, gegen die die Linke Sturm lief. Regelmäßige bürgerkriegsartige Zustände bei G7-, G8- oder G20-Gipfeln waren die Folge. Inzwischen ist es merkwürdig still geworden um die Globalisierungsgegner von der Linken, was mit deren üppiger Förderung durch diverse Hochfinanz-Stiftungen und ihre Einbindung in eben diese Gipfeltreffen, ins Davoser Weltwirtschaftsforum und viele andere Zusammenkünfte zu tun haben dürfte.

  [...]

So rast der Zug der Geschichte auf ein System zu, das beide Ideologien in ein harmonisches Zusammenspiel zu bringen scheint. Unter die Räder ist dabei nur die Freiheit gekommen. Staat und Kapitalismus haben sich genauso versöhnt wie Sozialismus und Privateigentum. Allen vieren geht es schon lange nicht mehr um bürgerliche Freiheitsrechte, sondern nur noch um Ausdehnung und Herrschaftsakkumulation. Entstanden ist etwas, das historisch wirklich neu ist und für das noch kein geeigneter Begriff existiert. In ihrem 2018 auf Deutsch erschienen Buch prägt die Harvard-Ökonomin Shoshana Zuboff den Begriff vom "Überwachungskapitalismus“, und er dürfte die bisher wohl passendste Umschreibung sein für die Kehrtwende, die die freie Wirtschaft seitdem vollzogen hat.

[...]

Dass die gewählten Regierungen in den westlichen Demokratien sich nicht anschicken –oder schon lange angeschickt haben –, die Macht der Tech-Giganten zu begrenzen und ihre entstandenen Monopole zu zerschlagen, ist dem Umstand geschuldet, dass neben Gewinnmaximierung die Hauptagenda der Giganten weiterhin „die Rettung der Welt“ ist. Und mit diesem falschen Pathos kann sich die Politik wunderbar arrangieren und lässt so die Aushöhlung der Demokratie durch immer gigantischere Monopole zu. 

 [...]

Historisch interessant ist, dass sich zeitgleich mit dem Umstülpen des Gutenberg-Zeitalters ins digitale Zeitalter, das Ende der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts von Kalifornien aus begann, in Mitteleuropa eine neue romantische Religion gründete. Sie hatte große Vorbehalte gegen Technik, kultivierte die Angst und wünschte sich Frieden und ein Zurück zur Natur. Gespeist war diese neue Religion aus dem Unbehagen in der Kultur und einer sozialistischen Kollektivsehnsucht. 

[...]

Inzwischen hat der durch die Ereignisse des 20. Jahrhundert verunsicherte Geist des christlichen Abendlandes in der grünen Religion zu seiner gottlosen Vollendung gefunden. Schuldgefühl, Selbstabschaffung („Ich muss abnehmen, damit er zunehmen kann“) und mittelalterlicher Ablasshandel sind wieder die wirkmächtigsten Parameter dieser neuen Religiosität, in der Wald, Natur, Klima zu Codes des neuen Gottes geworden sind. Der Staat avancierte dabei zum Stellvertreter Gottes auf Erden. Und wir Deutschen sind zu den Vorreitenden dieser Religion geworden."


 

 

Montag, 3. Mai 2021

Maibowle, angereichert mit unsortierten Lesefrüchten

Der Mai ist gekommen, doch die lang ersehnten Freuden des Wonnemonds bleiben uns gesetzestreuen Bundesbürgern verwehrt. Anders als die Schweiz, jetzt auch Frankreich und Portugal, verharrt unser Land im Lockdown, inklusive der von Merkel verhängten, um eine Stunde demokratisch abgemilderten Ausgangssperre. Die Proteste aller auf ihre Freiheitsrechte pochenden Bürger - letzte polit-orthographisch korrekte Schreibweise: Bürger:innen - konnten dank Präsenz sinistrer (etym. lat.: "links"), d.h. "rechter",  als "Querdenker" auftretender Elemente bis dato neutralisiert werden. Wir dürfen hoffen, dass die den Klimawandel verzögernden Temperaturen endlich steigen und das vor Covid geschützte Volk endlich in die Freiheit und ins Freizeitvergnügen entlassen wird.

Um ihre Freiheitsrechte ging es auch den mit roten Fahnen samt goldenem Stern als "Linke" auftretenden, vermeintlich Covid-resistenten Anti-Lockdown-Demonstranten in Berlin-Lichtenberg (oder sonstwo), die es - verdächtig als linke Symbole missbrauchende "Rechte" -  am 1.Mai immerhin in die TV-Nachrichten schafften. Mehr mediale Aufmerksamkeit erzielten naturgemäß die genuin linken Massen, die zum Berliner Klassenkampf in Kreuzberg und Neukölln aufmarschierten, sowie die mehr als 10 000 roten und grünen Radler, die - nach dem Scheitern des Berliner Mietendeckels vor dem BVerfG - unter der linkslingualen Parole "MyGruni" den Villen besitzenden Kapitalisten in Grunewald einen Begriff von Gerechtigkeit nahebrachten. 

Wie gewohnt erlebten die Berliner Maifestspiele ihren Höhepunkt in den Traditionsbezirken Kreuzberg und Neukölln.  Die von der Polizei erzwungene Zweiteilung des Schwarzen Blocks trieb die Wut der "linken und linksradikalen Demonstranten" - darunter offenbar keine "Linksextremisten"  - zum Widerstand: Wieder mal brannten Mülltonnen und die aus Paletten und Bauholz errichteten Barrikaden, dazu  (nur) ein Auto.  Die aus mehreren Bundesländern, auch aus Bayern, aufgebotenen 5500 Polizisten (sc. -innen) kamen mit etwa 50 Verletzten davon. Zu den Opfern der "linken" Wut gehörte auch ein in der Nase beringter Mann, der sich als linker, antirassistischer Skinhead bezeichnet, was ihm aber nichts nützte, da er zuerst "rechte" Ska-Rhythmen aufgelegt hatte, ehe er zu "linken" Punk-Klängen wechselte. Er wurde verprügelt, vielleicht auch, weil er nach eigenem Bekenntnis in den 1990er Jahren im Ruhrpott noch in einer Neonazi-Skinhead-Band musiziert hatte.

Die Klage über Polizeibrutalität gehört zum Standard-Repertoire "linken" Bewusstseins. Der Berliner Innensenator Geisel (SPD) attestiert zwar der Polizei, sie habe ihre Pflicht vorbildlich erfüllt und sei den - teilweise mit Corona-Masken ausgestatteten, aber die Corona-Abstandsregeln missachtenden -   Demonstranten mit großer Zurückhaltung entgegengetreten. Gewalt sei in politischen Auseinandersetzungen nicht hinnehmbar. Oder so ähnlich. Der Mann kann reden, was er will, sagt Tante Antifa: ACAB.

Was den deutschen Lockdown betrifft, so besteht angesichts der Wettervorhersagen für diese erste Maiwoche wenig Hoffnung auf höhere Temperaturen und eine Ausweitung der cancel culture auf Merkels Lockdown. All unsere Hoffnungen auf Freiheit unter dem urdemokratischen Maibaum richten sich jetzt auf die FDP. Der Verf. dieses Blogs hat Covid 19 bereits hinter sich. Er hofft auf lokale Erwärmung in den kommenden Wochen sowie auf die demokratische Erhitzung im Wahlkampf. Dann besteht wieder Aussicht auf ein Bier - keine benebelnde Maibowle - in einem Biergarten oder auf ein Glas Wein unter freiem Himmel ("Außenbereich")

Sonntag, 18. April 2021

Bidens Abzug aus Afghanistan

Aus meinem Globkult-Kommentar zu Bidens Ankündigung, alle amerikanischen Truppen bis zum 11. September 2021 (symbolträchtig: nine-eleven) abzuziehen, zitiere ich folgende Passagen:

"Die Folgen des um ein paar Monate verzögerten Rückzugs der Amerikaner – mit ihnen auch der deutschen, italienischen und türkischen Kontingente – sind abzusehen: Die Truppen und Polizisten der ›demokratischen‹ Regierung unter Präsident Aschraf Ghani werden den 60 000 Mann starken Taliban unterliegen, diese werden erneut in Kabul die Macht übernehmen. Allenfalls im Norden und Nordwesten Nordprovinzen werden sie bei Tadschiken, Usbeken und Hasara auf Widerstand stoßen. Ob danach in Kabul und in all den anderen Teilen des geschundenen Landes das Regime der paschtunischen Fundamentalisten weniger grauenvoll aussehen könnte als vor zwanzig Jahren, ist eine spekulative, von Wunschdenken inspirierte Frage.

Keineswegs spekulativ, sondern leicht zu beantworten ist die Frage, was der Rückzug der USA vom Hindukusch für Europa, insbesondere für Deutschland, bedeutet. Ein gewaltiger Flüchtlingsstrom wird sich bereits in den nächsten Wochen in Gang setzen, den Erdogan nutzen wird, um sich als Nato-Verbündeter und politischer Geschäftspartner in Berlin zu empfehlen. Dass auch unter Biden Politik und Moral nicht identisch sind, wird man hierzulande im Entsetzen über das Flüchtlingselend übersehen."

https://globkult.de/politik/welt/2053-der-abzug-aus-afghanistan-und-die-absehbaren-folgen 


Montag, 29. März 2021

Rezension: Allzu steile Thesen in der jüngsten Biographie zu Sophie Scholl

Für Leser (sc. -innen) meines Blogs, die den Text noch nicht aus anderen Quellen kennen, stelle ich hier  die Einleitung sowie den Link zu meiner  Rezension des Buches auf The European vor:

 

I.

Um die „Weiße Rose“ rankten sich seit den 1950er Jahren, als die älteste Schwester Inge Scholl ihr mit Fehlinformationen behaftetes Buch veröffentlichte, allerlei Legenden. Unter gänzlich anderen historischen Bedingungen berufen sich heute „linke“ und „rechte“ politische Aktivisten auf das Vermächtnis der jungen Märtyrer. Jüngst hat sich die „Seawatch“-Aktivistin Carola Rackete in die geistige Nachfolge von Sophie Scholl gestellt.

Mit Realgeschichte – „wie es eigentlich war“ – hat das alles wenig zu tun. Indes unterliegt die Historie unvermeidlich der Deutung und Umdeutung durch die Nachgeborenen. Im Zuge jüngerer feministischer Geschichtsdeutung wurde Sophie Scholl ins Zentrum des Gedenkens gerückt, so bereits anno 2003 mit der Aufstellung einer Büste in der Walhalla bei Regensburg. Zitatwürdig ist eine Fehlleistung des Bundespräsidenten Steinmeier, der anno 2019 anläßlich einer Gedenkfeier zum 20. Juli an das „Schicksal der Gruppe um Sophie Scholl“ erinnerte. (Zoske, Sophie Scholl, 295) Die treibende Kraft der „Weißen Rose“ war von Anbeginn Hans Scholl, noch ehe er im Juli 1942 zusammen mit Alexander Schmorell mit Flugblättern zum aktiven Widerstand überging. 

[...]

https://www.theeuropean.de/herbert-ammon/neue-biografie-ueber-sophie-scholl/ 

 

 

Dienstag, 2. März 2021

Reflections on the Russian Revolution

Aus meiner Globkult-Besprechung des Büchleins von Jörg Baberowski (https://globkult.de/geschichte/rezensionen/2021-joerg-baberowski-der-bedrohte-leviathan-staat-und-revolution-in-russland):

Zum Verständnis der Revolution und zur Entzauberung ihres Mythos bezieht sich Baberowski auf ein ganzes Regiment von Denkern von Staat, Gesellschaft und Revolution. Zu ihnen gehören (außer Schmitt selbst) der Schmittianer Reinhart Koselleck, der Kunsthistoriker Horst Bredekamp, die ›Klassiker‹ Machiavelli, Hobbes und Alexis de Tocqueville, die Konterrevolutionäre Joseph de Maistre und Juan Donoso Cortés, die Philosophen David Hume, Hegel, Nietzsche und Karl Löwith, die Soziologen Max Weber, Heinrich Popitz und Arnold Gehlen, der Historiker Crane Brinton, Hannah Arendt sowie nicht zuletzt die Akteure Lenin und Trotzki.

Freitag, 29. Januar 2021

Unter Biden wird alles wieder gut

Mein Globkult-Kommentar zu Joe Biden hat durch die bereits in den ersten Tagen nach seiner Amtsübernahme verfügten Anordnungen und Ankündigungen Bestätigung gefunden. Für die USA und multilateral für die ganze Welt gibt es fortan nur noch Gutes: für die Umwelt und fürs Klima (kein teeriger Ölsand aus Kanada), für die Frauen in der Army (aber noch nicht für Männer) auch Zopfgebinde statt nur Haarkranz, keine Mauer zu Mexiko, kein Nord Stream 2-Gas aus Russland,  Manufacture and Buy American, not Chinese!, mehr europäisches (deutsches) Geld für die Nato  usw.  

Für Fans oder auch nur  Leser (sc. -innen, ohne Doppelpunkt/ glottal stop/ Rechtsprech) meines Blogs stelle ich den auch auf  The European veröffentlichten Text noch einmal ins Netz:

Alles wird wieder gut

Alle sind erleichtert über den Abgang Donald Trumps, alle sind bewegt und beglückt von der Inauguration Joe Bidens am sonnigen Wintertag des 20. Januar 2021. In seiner Rede, akzentuiert mit den in den USA üblichen religiös/zivilreligiösen Formeln sowie mit einem stillen Gebet, hat Präsident Biden die Überwindung aller Zwietracht, die Einheit der Nation, ihre stolze Geschichte, und eine glückliche Zukunft beschworen. Alles werde wieder gut: die Corona-Pandemie werde man überwinden, allen Bevölkerungsgruppen gerecht werden – das Stichwort lautete equity, nicht mehr equality -, dem historischen Auftrag Amerikas gemäß für Frieden und Gerechtigkeit in aller Welt wirken.

Mit vom discours établi abweichenden Stellungnahmen gilt es in diesem Land vorsichtig zu sein, deshalb zur Klarstellung: Ich gehörte nie zu den Trump-Verehrern. Seine Auftritte waren zu großspurig, seine Rhetorik zu schrill, geistig allzu bescheiden, sein Politikstil teils naiv sprunghaft, teils undiplomatisch konfrontativ. Ob seine „Erfolge“ in der Außenpolitik zu dauerhaftem Frieden in Nahost führen, wird die Zukunft zeigen.

Kritische Fragen zu den Versprechen Bidens seien gleichwohl erlaubt. Diese gelten zum einen der angekündigten Außenpolitik. Gewiss, unter Biden sind die USA zu dem Pariser Klimaabkommen von 2015 sowie zu den internationalen Organisationen (WHO und Unesco) zurückgekehrt. Den Rest hat der frühere US-Botschafter John C. Kornblum in Berlin prognostiziert: Es wird sich nicht viel ändern. Auch die Biden-Regierung sieht sich mit der Weltmacht China konfrontiert. Allenfalls rhetorisch dürfte sich der von Trump eingeleitete protektionistische Kurs abschwächen. Was das – auch für Deutschland und Europa bedeutsame - Verhältnis zu Russland unter Putin betrifft, so hat Biden bereits seine Ablehnung des vor Vollendung stehenden Projekts Nord Stream 2 deutlich gemacht. Ob Biden in Nahost an dem Zwei-Staaten-Konzept für Israel/Palästina festhält, bleibt abzuwarten. Wahrscheinlich ist diesbezüglich ein weiteres formales Bekenntnis, bei fortdauernder Akzeptanz des Status quo. In den Sternen stehen die künftigen Beziehungen zu den Mullahs in Teheran. Zuletzt: Unwahrscheinlich ist eine Aufkündigung des unter Trump ausgehandelten Handelsabkommens mit Mexiko und Kanada (USMC). Eine Rückkehr zu dem unter Bill Clinton in den 1990er Jahren durchgesetzten, für amerikanischen Arbeitsplätze zerstörerischen neoliberalen NAFTA-Konzept ist auszuschließen.

Damit rückt die künftige Einwanderungspolitik in den Blick. An der südlichen Grenze Guatemalas zu Honduras und an der nördlichen zu Mexiko befinden sich bereits wieder Tausende von Migranten im Warteraum für den Zug nach Norden. Statt der erhofften Grenzöffnung hat Biden bereits eine elektronische Grenzüberwachung - anstelle der von Trump versprochenen, aber nie gebauten Mauer – angekündigt.

Voraussichtlich wird es aber zu einer Legalisierung der Millionen illegal im Lande lebenden Immigranten geben. Eine derartige Innenpolitik, akzentuiert durch gruppenspezifische, auch aktivistische, „progressive“ Gruppen begünstigende Förderungsprogramme – affirmative action im umfassenden Sinne –, könnte erneut den Widerstand der – eben nicht nur weißen – Trump-Wähler mobilisieren. Längst stößt auch der von „linker“ Ideologie (intersectionalism, genderism, identity politics, sensitivity training etc.) forcierte Wandel zu kultureller „Vielfalt“ im konservativen Herzland Amerikas auf Ablehnung. Aus eben diesen Bevölkerungskreisen, inklusive der einst stramm demokratisch wählenden Arbeiterschicht, rekrutierte sich die Anhängerschaft des Populisten Donald Trump.

Die bei Bidens Amtsantritt in prächtigem Gewand die Nationalhymne zelebrierende Lady Gaga gehört mutmaßlich nicht zu den kulturellen Leitfiguren der Bevölkerungsmehrheit. Inwieweit die versprochene Versöhnung, symbolisiert durch den Auftritt des Countrysängers Garth Brooks aus Oklahoma, im kulturell gespaltenen Amerika gelingt, bleibt abzuwarten. Das von Amanda Gorman mit Grazie vorgetragene Gedicht wird auch viele konservative Amerikaner angesprochen haben. Dennoch: Es ist keineswegs sicher, dass nach all dem Schlechten unter Trump in den kommenden Jahren unter Biden alles wieder gut wird.




Montag, 18. Januar 2021

Gedanken zum Gedenktag des 18.1.2021

Der 18. Januar 1871, Tag der Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles,  zählt nur noch im Ausnahmefall, wie zum diesjährigen 150. Jahrestag der Reichsgründung,  zu den deutschen Gedenktagen. Die Erinnerung an das einst so glanzvolle "zweite" Kaiserreich schwindet in dem Land, wo politisch-moralische Didaktik (begrifflich überhöht als "Geschichtspolitik") historische Grundkenntnisse, erst recht historische Reflexion, überlagert. Ist es Zufall, dass die Deutsche Post AG - anders als noch vor 50 Jahren im geteilten Land die Deutsche Bundespost  - im Jahr 2021 auf eine Gedenkmarke verzichtet hat? Auch im DHM gibt´s keine - und sei es virtuelle - Sonderausstellung zum geschichtsträchtigen Datum. Corona, die Wahl Armin Laschets auf dem digitalen CDU-Parteitag, das Klima und der Kampf gegen die AfD gehen vor. 

Immerhin hat das Jubiläum einige neue Bücher sowie Aufsätze und Kommentare in den Medien hervorgebracht. In ihnen scheiden sich  an Bismarcks Reichsgründung die Geister. Unter den Kritikern findet man zwar kaum noch einen, der mit Bedauern an den "deutschen Bruderkrieg" und die am 3. Juli 1866 bei Königgrätz erzwungene Hinausdrängung Österreichs aus dem deutschen Geschichtsterritorium erinnert. Seit den 1960er Jahren - im Gefolge der Thesen Fritz Fischers zur deutschen Kriegsschuld 1914 - zielt die Kritik linksliberaler Historiker und Publizisten  ins Prinzipielle, in die Reichsgündung als solche. Die drei Einigungskriege - dazu zählt  der von Preußen und Österreich notabene noch gemeinsam geführte deutsch-dänische Krieg 1864 -  seien Ausdruck einer Machtpolitik, die nach der Errichtung des "unruhigen" Deutschen Reiches als nach "Weltmacht" strebenden Machtgebildes in Europas Mitte nur ins Verhängnis münden konnte. Zu den Negativmerkmalen des preußisch-deutschen Reiches gehörte demnach seine Entstehung als Fürstenbund unter preußischer Dominanz, das Fehlen einer parlamentarischen Regierung in der Verfassung des Reiches, der Ausschluss der Sozialdemokratie, die Kolonialpolitik, der Flottenbau, last but not least die Persönlichkeit des vermeintlich kriegslüsternen Kaisers Wilhelm II.

Aus dieser Sicht führte der Weg von 1871 über 1914/18 geradezu zwangsläufig zu 1933, und von dort nach Auschwitz. In Wirklichkeit ignoriert ein derart nicht erst seit "1968" ideologisch aufgeladener Kurzlehrgang durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts vielerlei Fakten, die einer linearen Deutung des Wegs in die deutsche - und europäische - Katastrophe entgegenstehen. Zur Klarstellung: Es geht  nicht darum, eine Apologetik zugunsten des in geschichtlichem Glanz erscheinenden Reiches und dessen schmählichen Endes im November 1918 zu entfalten, und schon gar nicht um "revisionistische" Fußnoten zum Verbrechensregime des "Dritten Reiches". 

Reflexionen über die Reichsgründung 1870/71, über die Julikrise und den August 1914 (samt den "Ideen von 1914"), über den "Tag von Potsdam" (21. März 1933), über den 20. Juli 1944 sowie über das zum Weltgedenktag erhobene Datum des 27. Januar 1945 sind für einen geschichtsbewussten Deutschen selbstverständlich. In dem zu unser aller Glück nach dem Mauerfall vereinten - wenngleich von Dissonanzen (auch jenseits des Brexit) gekennzeichneten  - Europa gehört zur Betrachtung der Geschichte des 20. Jahrhunderts die viel beschworene europäische Perspektive. Sie weist zurück auf die Dialektik der Französischen Revolution, die mit der Idee der Menschenrechte, der Freiheit, Gleichheit und Volkssouveränität auch die des modernen Nationalismus hervorbrachte, auf die Heraufkunft der Massengesellschaft im Gefolge der Industriellen Revolution sowie auf die den Totalitarismus und Terror inspirierenden Ideologien.

Nicht zu lösen von der Erinnerung an die - in der ahistorischen deutschen Gegenwart halb vergessene - Reichsgründung 1871 sind schmerzliche Empfindungen bezüglich der eigenen Lebensgeschichte. Sie vermengen sich - im Rückblick auf 1914 sowie auf die multipolare Welt der Gegenwart  - mit Überlegungen zu Begriff und Realität von Macht samt deren Veredelung mit Menschheitsideen. Über die Zukunft Europas, nach dem II. Weltkrieg teils aus Überzeugung, teils aus Kalkül, durch Einsicht und historisch-politisches Glück vereint, nachzudenken, ist nicht nur für Deutsche in der Bundesrepublik Deutschland, in der historischen Kontinuität von 1871 erneut als Nationalstaat entstanden anno 1990, alles andere als eine müßige Beschäftigung.