Montag, 30. Juni 2014

1914: Von der Einfalt eines Akademiepräsidenten beim Erzählen vom Großen Krieg

I.
Die von Christopher Clark und  Herfried Münkler ausgelöste  Debatte über die Schuldanteile am Ausbruch des Großen Krieges hält an. Soeben (in der  FAZ v. 30.06. 2014, S. 6)  hat Peter Graf Kielmannsegg einen lesenswerten Beitrag beigesteuert, indem er unter dem Titel "Schuld und Halbschuld" die  Frage nach den (Schuld-)Verantwortlichkeiten der Mächte in dreifach differenzierende Perspektive rückt: a) Entscheidungs- und Handlungsablauf gemäß der Chronologie der Julikrise b) Entscheidungspielräume der Akteure c) systemische Entscheidungsbedingungen. Unter letzteren benennt er die  auf den Kontinent gerichtete Machträson Großbritanniens, das - durch Poincarés Staatsbesuch (20.-23.Juli 1914) befestigte - Bündnis Frankreichs mit dem Zarenreich sowie die deutsche Mittellage - ein jahrzehntelang verpönter, seit 1989 als historisch-politischer Faktor - wenn nicht als geopolitische Determinante - wieder hoch aktueller Begriff.

II.
Inmitten der in den Feuilletons mit Eifer geführten Debatte lud Bundespräsident Gauck am 26. Juni europäische Historiker und "Kulturschaffende" ins Schloss Bellevue zu einer Veranstaltung unter dem Thema "Geteilte Erinnerungen, gemeinsame Erfahrung?". Der Untertitel lautete, den historiographischen Modebegriff  "Erzählung" (oder "Narrativ") aufnehmend, "Europa erzählt vom Krieg". Dass die "Erzählungen"  wiederum unter nationalspezifischer Perspektive stehen, wird - entgegen dem Titel "Dieser Krieg hat viele Väter, aber keine Kinder" -  in  dem Tagungsbericht sichtbar. Der FAZ-Berichterstatter Lorenz Jäger vermerkt unter anderem, dass "in der ansonsten exzellenten Gruppe der Historiker" neben Christopher Clark und Herfried Münkler einer - als zusätzlicher "Revisonist" - fehlte: Jörg Friedrich. "Aber er hat sich mit seinem Buch ´14/18. Der Weg nach Versailles´ offenbar aus dem Konsens herausgeschrieben, wenn er die gespenstisch hohen Opfer der alliierten Hungerblockade in Deutschland thematisiert."

Was gewisse deutsche Deutungsweisen des großen Gemetzels betrifft,  so lieferte  Klaus Staeck, Präsident der Akademie der Künste, bekannt als "engagierter" Künstler und seine Plakate (ursprünglich Rechtsanwalt) einen bemerkenswerten Beitrag. Nachdem Gauck an Franz Marc ("Der Blaue Reiter") erinnert hatte, der zu den vielen gefallenen Kriegsfreiwilligen - aller Nationen - zählt, bekannte Staeck, er habe erst jetzt, auf der Tagung, etwas von der Kriegsbegeisterung unter Künstlern und Dichtern  erfahren.

Wer naive Malerei zu schätzen weiß, beneidet deren Schöpfer ob ihrer begnadeten Einfalt. Dass Vertreter dieser Kunst zu Berliner Akademiepräsidenten berufen werden, ist  trotz Quotenregelung kaum denkbar.

Mittwoch, 25. Juni 2014

Beichtspiegel und Burka

I.
Der Titel "Chrismon. Das evangelische Magazin" des Druckerzeugnisses, das laut Impressum  allmonatlich der "Welt", der "Zeit" der FAZ,  der "Leipziger Volkszeitung" und der SZ - beiliegt, entstammt als Urkundenannex  der mittelalterlichen Diplomatik. Womöglich aber  verdankt er seinen Namen - gedacht als PR-Gag - der Kontraktion des Adjektivs "christlich(e/r)" und des Nomens "Monat" - oder  eher der "Monatsbeilage"? Als Herausgeberin fungiert neuerdings  neben den hochrangigen bischöflichen Amtsträgern und der ex-bischöflichen Margot Käßmann die im November 2013 "überraschend" als "Kompromisskandidatin" (s. wikipedia) zur Präses (lat. =Vorsitzende, -r) der Synode der EKD gekürte Dr. Irmgard Schwaetzer.

Für die Wahl qualifizierte sich die protestantische Vorsitzende, von Haus aus Apothekerin,  durch eine säkulare Karriere als  FDP-Politikerin. Ab 1982 im Bundestag,  wurde sie  - als Nachfolgerin des beim Kanzlersturz Helmut Schmidts, inszeniert von Genscher,  zur SPD übergewechselten Günter Verheugen - unverzüglich  FDP-Generalsekretärin, im Zweifelsfall durch Protektion Hans-Dietrich Genschers. Sie saß dem Arbeitskreis für Gesundheit, Soziales, Familie, Frauen etc. vor und wurde anno 1987 zur Staatsministerin im Außenministerium berufen. 1991 wirkte sie als Bauministerin  im dritten Kabinett Kohl. Nach Genschers mysteriös gesundheitsbedingtem Rücktritt 1992 - vor ca. einem halben Jahr  sah der Blogger den einst des "Genscherismus" Verdächtigten bei offenbar guter Gesundheit lustwandelnd Unter den Linden  - blieb der Politikerin der Aufstieg zu Höherem verwehrt. Parteifreund Graf Lambsdorff verhinderte sowohl die Wahl zur Parteivorsitzenden als auch die Berufung zur Außenministerin.  Unvergesslich sind dem Blogger die bitteren Tränen der als "Frau" einst geförderten, sodann nach eigener Deutung als "Frau" gestürzten Politikerin sowie ihre christlichen Worte an den Parteifreund (der Adressat mag auch der 2003 durch Fallschirmsuizid geendete Jürgen Möllemann gewesen sein): "Du intrigantes Schwein."

Danach wandte sich Schwaetzer als Vorsitzende des "Deutschen Komitees Katastrophenvorsorge e.V." dem mehr Caritativen sowie als Vorsitzende des Domkirchenkollegiums am evangelischen Berliner Dom (2004-2013) dem Spirituellen zu. Die ergänzenden Daten zum  Privatleben der pensionierten Politikerin - einst apostrophierte sie Herbert Wehner unter Mißachtung ihres (ersten) Ehenamens Adam-Schwaetzer schlicht als "Frau Schwaetzer" - entnehmen wir der unfehlbaren Quelle  Wikipedia, weitere Klatsch-Details zum öffentlichen Privatleben ("Reif für die Ehe") sind über die dort angegebenen "Spiegel"-Links zu ermitteln.

II.
a) In der jüngsten Ausgabe von "Chrismon" findet das auf  Umweltsünde(n) reduzierte Sündenbewußtsein des Lesers  unter dem Titel "Ich brauche nun mal ein Auto!"   eine Art Beichtspiegel, der ihn zur Reue gemahnend auf acht Seiten  klarmacht,  dass er mit billigen Ausreden vor dem CO 2 -Weltgericht nicht davonkommt. Zugleich wird das gründeutsche, subventionierte Landschaftsverschönerungsprojekt nicht nur für sündenfrei erklärt, sondern, in den Worten eines Potsdamer Klimaforschers, zum deutschen (!) universalen Heilsversprechen erhoben: "...Wenn wir zum Beispiel Windkraftanlagen produzieren können, die so effizient und billig sind, dass China dafür auf die schmutzige Kohle verzichten kann und seinen Energiehunger auf erneuerbarem Wege stillen kann, dann hat Deutschland eine sehr, sehr große Rolle."  Da erhebt sich die nationale Seele, nur Antifa empört sich...

b) Angetan mit violettem Büßerschal stellt sich nun auch  Frau Schwaetzer  im "evangelischen Magazin"  mit einem eigenen Beitrag vor. Sie nimmt - mutmaßlich als "engagierte Christin" - Anstoß am Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, der den Ausschluss einer jungen Migrantin, die zu einen Berufsvorbereitungskurs (?) nur in keuscher Verhüllung  erscheinen wollte, für rechtens befand. Laut Schwaetzer wollte die Aspirantin ja nur ihren "Niqab, den Gesichtsschleier, der nur die Augen freilässt, tragen."

Die Argumente der Synodalpräses zugunsten des religiösen (& naturgemäß demokratischen) Rechts auf einen Gesichtsschleier - sowie  in Konsequenz auf eine blaue, graue oder schwarze Burka -  sind in ihrer Schlichtheit beeindruckend:  "Zweifellos wirken die schwarzen Schleier fremd. Aber ist das ein Argument? In unserem freien Land hat jeder das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, auf freie Religionsausübung." Wer meint, der verschleierten Jungfrau gehe es auf Befehl männlicher  Traditions- und Religionshüter nicht um die Entfaltung, sondern um die schwarzgewandete Verschließung ihrer Persönlichkeit, wird von der liberalen Ex-Politikerin eines anderen belehrt.  Es gehe um - zu ergänzen:das in Reformation und Aufklärung geborene (H.A.) -  Recht auf Selbstbestimmung.. "Jeder jungen Frau, die aus dem europäisch kulturellen Kontext stammt, trauen wir (sic!) diese Selbstbestimmung zu. Auch junge evangelische Christen [sic!-ungegendert] werden mit ihrer Konfirmation im Alter von 14 Jahren religionsmündig.[...] Warum trauen wir  einer jungen Frau, die in Deutschland aufgewachsen ist und einen Gesichtsschleier tragen möchte, diese Mündigkeit nicht zu?" - Ja, warum wohl nicht? Nachgedanke: Die Konfirmanden (sc. K-en u- K-innen) sind mit 14 etwa so religionsmündig wie die "Jugendweihlinge" (= Originalbezeichnung aus dem freidenkerischen Bildungsfundus Walter Ulbrichts)   in den ehedem evangelischen mittleren und östlichen Regionen des Landes.

Als nächstes kommt das numerische Argument: Es handle sich ja nur "um eine sehr kleine Minderheit von Frauen, die in Deutschland den Gesichtsschleier trägt." Irrtum. Es dürfte sich in den Städten mittlerweile um eine größere Minderheit handeln als bei dem Häuflein derjenigen, die, als Neonazis kostümiert und  tätowiert, uns tagtäglich mit Furcht vor dem Untergang der Demokratie erfüllen.

Zum Schluss gedenkt Frau Schwaetzer die Niquab-Frage durch protestantische Seelsorge zu lösen. Sie möchte "mit den verschleierten Frauen" über "religiöse Identität und den Wunsch nach Integration in die Gesellschaft " reden, "auch über ihre Ängste und Hoffnungen, ihre Lebensvorstellungen". Die geistliche Zurüstung für derlei Gespräche findet sie beim Apostel Paulus, Gal. 5, 22-23a.

Den Niqab-Trägerinnen wäre derlei interkulturelle Bibellektüre fraglos zu empfehlen. Hingegen empfindet nicht allein der  Blogger -  der als Kirchensteuerzahler derartigen gedruckten Irrsinn mitfinanzieren hilft -, sondern jeder noch  mit gesundem Menschenverstand ausgestattete Bundes- und Europabürger Frau Schwaetzers Chrismon-Bibelstunde als geistige Zumutung.







Sonntag, 15. Juni 2014

"Radikale Philosophie" und chinesische Praxis

I.
Die „Nacht der Philosophie“ am Institut Français im ehrwürdigen Maison de France beendete ich  um Mitternacht in der Pizzeria nebenan bei Bier und Gespräch mit Jürgen Tribowski, den ich in einem der proppenvollen Institutsräume entdeckt hatte. Zuvor hatte ich, bei überreichem Angebot zur Auswahl genötigt, einigen Vorträgen gelauscht, etwa über „Anfänge", über den Begriffswandel der „Gesellschaft“, über das Verhältnis von Politik und Ökonomie bei Hegel und Hannah Arendt. Sodann wollte ich mir noch anhören, was Frieder Otto Wolf, Honorarprofessor für Philosophie an der FU  Berlin sowie Präsident des Deutschen Humanistenverbandes,  zur "Aktualität radikaler Philosophie“ zu sagen hätte. Tribowski, einst Mitstreiter in „alternativen“ Bestrebungen zur realsozialistisch eingemauerten West-Berliner Wirklichkeit, hatte gleich abgewinkt.

Was Wolf, seinerzeit als Berliner Aktivist der „Alternativen Liste“ und „grüner“ Abgeordneter im gerade etablierten Europa-Parlament ein fleißig „konservative“ Gegenthesen produzierender Opponent unserer „radikalen“ Ideen zur Status-quo-Überwindung, in über 20 Minuten vorzutragen hatte, war alles andere als radikale Philosophie – verstanden als radikales Nachdenken über „die Lage“, über die Wirklichkeit anno 2014. Er traktierte das überwiegend jugendliche - erstaunlich geduldige - Publikum mit für aktuell erklärten Dogmen aus dem alten marxistischen Sammelkasten: Der Neoliberalismus sei erkennbar in seine Krise geraten, jetzt erweise sich erneut die Richtigkeit der Analyse der Produktionsverhältnisse. Gut so. Klassenbegriff und -kampf mied der einstige Mitherausgeber der „ProKla“ (= "Proklamationen des Klassenkampfs"), er hielt es mit dem Feminismus und den „neuen sozialen Bewegungen“, die, ausgestattet mit Erkenntnis der autoritären Strukturen und der kapitalistischen Wurzel aller Übel samt der ökologischen Krise, den Kampf um die die emanzipierte Zukunft der Menschheit aufgenommen hätten usw. usw. 

Dank derlei Rhetorik blieb die üble („unemanzipierte“) Realität außerhalb des Horizonts des ergraut-zerzaust in Hawaiihemd auftretenden Philosophen. Kein Wort über Putins Gas und die Ukraine, Energiefragen und Machtinteressen, über Geopolitik, über Gewalt  im Nahen Osten, über die gespaltene islamische Welt, über Orient und Okzident, Dschihadismus und Liberalismus („radikaler Humanismus“), über die kapitalistische Praxis der Kommunisten in China, über die Zukunft Afrikas – und die Zukunft Europas. Kein Wort über die Mediatisierung  des Bürgers durch die classe politica, kein Wort der Kritik an der alle Widersprüche und Machtverhältnisse überdeckenden Zivilreligion. 

II.
Als Kommentar zu derlei radikaler Realitätsferne kann ein Artikel von Thomas Scheen „Namibia will sich von Südafrika lösen“ in der FAZ (nr. 136, v. 14.06.2014, S. 20) dienen. Zwar wird der pointierte Titel bereits im zweiten Absatz relativiert: Die Abhängigkeit des politisch relativ stabilen, mit 2.2. Millionen Einwohnern bevölkerungsschwachen Landes vom großen, mächtigen – und zusehends krisenhaft korrupten – Nachbarland ist viel zu groß, als dass eine ökonomische Emanzipation in greifbarer Nähe schiene. Nichtsdestoweniger enthält der Bericht des Afrika-Korrespondenten  weltpolitsch erhellende harte Fakten. Sie illustrieren das ökonomische – und machtpolitische – Vordringen der neuen alten Weltmacht China auf dem afrikanischen Kontinent.

In der Nähe von Swakopmund baut China für 2 Milliarden Dollar ein neues Uranbergwerk. Zugleich versucht die namibische Regierung, die bescheidene heimische Produktion, beispielsweise in einem deutschen Zementwerk, vor chinesischen Billigimporten zu schützen. Durch den Ausbau des Hafens in Walvis Bay („Namport“) sollen vor allem die Transportwege für Rohstoffe aus dem südlichen Afrika (Öl aus Angola, Kupfer aus Sambia und Katanga, Steinkohle aus Botswana) verkürzt, die Kapazität der Exporte erweitert werden.

Die Steinkohle aus Botswana wird nach China verschifft. Der Energiehunger der – ungeachtet gewisser Krisensymptome - industriell  expandierenden Macht scheint unersättlich. Ein Reflex sind die anhaltenden, von militärischen Drohgesten - und Aufrüstung - begleiteten Spannungen im ostasiatischen Raum. Was schließlich den geopolitisch bedeutsamen Hafenausbau in Namibia betrifft, so bleibt zu fragen, welche EU-Nachbarländer – außer dem Hauptabnehmer China – als Importeure von Uranerz aus Namibia in Frage kommen. In grünen „Diskursen“ , nicht allein in der „radikalen“ Philosophie des erwähnten Denkers, kommen derlei Fragen nicht vor. 

Sonntag, 8. Juni 2014

Zum protestantischen Ablasshandel und zur protestantischen Geldver(sch)wendung

Pfingsten, das liebliche Fest war gekommen... Vor den ehedem christlichen Festtagen erhält der Blogger regelmäßig Post von „Brot für die Welt“, der allseits geschätzten Spendenaktion der EKD für die Eine, einst Dritte Welt. Sein Gewissen fühlt sich angesprochen, denn die Frage nach der auf Wertschöpfung beruhenden Grundlage, erst recht nach der Rechtfertigung seiner materiell relativ wohlsituierten Existenz „in unserem reichen Land“ will beantwortet werden. Die Betonung liegt auf „relativ“: man denke nicht bloß an die Millionengehälter der Spitzenmanager, sondern an die Einkünfte eines Vorder- oder Hinterbänklers im EU-Parlament oder im Bundestag, an die Pensionen (MdB, Umwelt- in Hessen, Außenminister in Berlin) samt Aufsichtsratstantiemen des Schulabbrechers Joschka Fischer, an die Gehälter der Medienfritzen und -miezen etc. Da sich die Ökonomen selbst nicht ganz einig sind, wo die Wertschöpfung stattfindet - jedenfalls nicht in der Finanzindustrie -, hält sich der Blogger, ehedem im Überbau tätig,  angesichts mancher mutmaßlich christlich genährten Zweifel an seiner privilegierten Existenz, an die Kosten-Nutzen-Formel: Wenn er spendet, fühlt sich des Bloggers sündige Seele wohl – jedenfalls so lange, wie ihn nicht andere Fragen umtreiben.

Dazu gehören, erstens: Wie lange wird unter den Bedingungen der Globalisierung – sowie des ungebremsten Anwachsens von „bildungsfernen Schichten“ - die Wirtschaftskraft Deutschlands ausreichen, um seine Rolle als ungeliebte Führungsmacht – und Hauptnettozahlerin in EU-Europa behaupten zu können? Zweitens: a) Was wird aus meinen eher maßvollen finanziellen Besitzständen angesichts der von der EZB soeben vermittels Negativ-Zinsen verstärkten Geldpumpe und angesichts der - ungeachtet der von Mario Draghi und anderen als „zu niedrig“ deklarierten Inflationsrate – bereits real stattfindenden Inflation? b) Wie lange halten die von der Troika ersonnenen Rettungsmechanismen vor, um die nächsten Finanz- und Staatskrisen abzuwehren? c) Wann kommt nach dem soeben von Finanzminister Schäuble angekündigten dritten Schuldenschnitt für Griechenland der vierte? d) Wann werden die Maastrichter Stabilitätskriterien endgültig makuliert, um  einen weicheren Euro zu bekommen und damit, vermeintlich gut keynesianisch, die maroden Bruderländer wieder in Schwung zu bringen? Drittens, last but not least: Reicht es - in ein paar Jährchen oder auch etwas später - zur Finanzierung der Kosten a) im halbwegs komfortablen Altersheim b) danach im weniger komfortablen Pflegeheim ?

Mit derlei Fragen im Hinterkopf stellt sich der Blogger die Frage nach Wert und Funktion des zeitgenössischen protestantischen Ablasshandels. Gewiss, bei der in solcherlei Praxis wesentlich länger - etwa seit dem Quatrocento - geübten katholischen Konkurrenz (mit bis dato ungebrochenem Monopolanspruch) gibt es als Pendant "Misereor", dazu vor Weihnachten noch „Adveniat“. Dort hat man z.Zt. leider noch ganz andere Geldsorgen....

Gleichwohl: Was ist mir mein Seelenfrieden unter den o.g. Bedingungen wert? Die Sache ist komplex, und ich würde sie mit den für Öffentlichkeitsarbeit zuständigen Gremien der Ev. Kirche gerne diskutieren oder, zeitgenössisch pastoral gesprochen, über das Thema einen Dialog führen..

Das Thema habe ich in meinem Blogeintrag Caritas oder Junkmail? vom 20.11.2013  bereits einmal angesprochen. Inzwischen ist gegen leichtfertige Spendenfreudigkeit ein neues Argument hinzugekommen: Vor ein paar Wochen richtete die EKD eine „wissenschaftliche“ Forschungsstelle für Gender Studies ein. Die dafür veranschlagte Summe soll € 217 000 (± x)) jährlich betragen. Der vom Blogger ob seiner Selbstgewissheit (s.a. Hochmut, lat.superbia, eine der sieben Todsünden) beneidete Nikolaus Schneider (s. http://www.globkult.de/gesellschaft/identitaeten/913-kritik-eines-protestantischen-sendschreibens-an-papst-franziskus) lieferte die Begründung für diesen jüngsten protestantischen Finanzposten: Seine Ehefrau habe ihn von der Notwendigkeit eines solchen Forschungsprojekts überzeugt.

Auf die Gefahr hin, der Gynäko-, Hetero-, Gamophobie oder sonstwas bezichtigt zu werden, gebe ich folgendes zu bedenken: Schlimm  und  beschämend für die deutsche Universität genug, dass es in diesem unseren Lande  inzwischen   mehr Lehrstühle für "Gender Studies" als für Slawistik gibt. Jetzt also eröffnet der deutsche Protestantismus eine zusätzliche Ideologie-Filiale. Solange die Evangelische Kirche die Proliferation von Gender-Ideologie als zeitgemäße Ausgießung des Heiligen Geistes erachtet und dafür Geld aus den zusehends spärlicher fließenden Kirchensteuermitteln ver(sch)wendet, fehlt ihrem Gewissensappell, „das Brot zu teilen“, die moralische Begründung. Der protestantische Ablasshandel kann den Blogger nicht mehr beeindrucken. Jedenfalls ist von ihm vor Heiligabend kein weiterer Groschen zu erwarten (sofern nicht ein Erdbeben in  Chili oder irgendeine andere der zahllosen "humanitären" Katastrophen dazwischenkommt).

Samstag, 7. Juni 2014

Gedanken zum Gedenken des D-Day

1. Heute versammelten sich die Mächtigen aus West und Ost in der Normandie zum Gedenken an den D-Day. Auch Merkel durfte dabei sein. In ihrer Gedenkrede im Ort Ranville, wo 322 deutsche Soldaten neben vielen britischen liegen,  traf sie den gewohnten Merkelschen Ton: Deutschland könne "dankbar" sein, "dass die Alliierten solche Opfer erbracht haben, um eines Tages die Befreiung vom Nationalsozialismus durchzusetzen". Andernorts traf sie sich zum distanziert wirkenden - so meine Information laut der  sexy-infantilen Infotainment-Internet-Berichterstattung in  yahoo! - Gespräch mit Putin. Auch Obama, der bei einer Gedenkveranstaltung seinen Nikotin-Kaugummi kaute, während die Marseillaise erklang, traf sich mit Putin. 

Selbst der neue ukrainische Präsident Poroschenko nutzte das Gedenken zu einem Gespräch mit Putin. Sie stimmten überein, dass dem Blutvergießen im Südosen der Ukraine [nicht in Novaja Rossija] "ein schnellstmögliches Ende" zu setzen sei. Wait and see. Wie das Spiel im Donbass weitergeht, steht noch offen.Wie Russland reagiert, wenn die USA Truppen demnächst in Polen - die Tschechen und Slowaken haben erstmal abgewinkt - stationiert, ist trotz aller Friedensbekundungen nicht abzusehen. Immerhin und Gottseidank: zum großen Krieg wird es nicht kommen. (Anm.: Die Deutschen würden auf keinen Fall mitmachen..)

2. Etwas verspätet schalteten wir eine Sendung auf Arte  zum Gedenken an den 6. Juni 1944 ein. Hochbetagte Veteranen, Überlebende  (und Angehörige der Gefallenen) der Schlacht auf beiden Seiten gaben ihren  Erinnerungen an die Schrecken des "längsten Tages" Ausdruck. Die Kämpfer von damals erinnerten sich in bewegenden Worten. Sie sprachen von Angst, Todesangst und verzweifeltem Überlebenswillen, vom Schmerz der Erinnerung an die neben ihnen getöteten Kameraden. Ein Engländer sprach, in bitterer, reuevoller Erinnerung, davon, dass auch sie, erbittert über den Tod der vielen an den Landungsstränden hingemähten Kameraden, .keine Gefangenen machten.  Ein  Deutscher sprach von den vielen, vielen Männern, die er, angsterfüllt hinter seinem MG knieend,  in Sekunden, Minuten zu Tode gebracht hatte.  Keine heroischen Reden, auch nicht, wo ein Mann aus einem Ort in Virginia vom notwendigen Opfer für die Befreiung von Hitler sprach. 

Die Sendung war eindrucksvoll, illusionslos und fair.  Im Nachspann wa rzu erfahren, dass die Sendung aus der unter dem Markenzeichen "History" firmierenden, spektakulär, oberflächlich aufgemachten - und nicht selten   fehlerbehafteten - histotainment-Werkstatt von Guido Knopp stammte. Doch für diese Dokumentation der Erinnerungen an den D-Day verdient der Fernsehprofessor ein Lob.

3. Bei einer Gedenkveranstaltung vor 7000 Gästen sprach der Sozialist Hollande bemerkenswerte Worte: «Ich möchte den Mut der Deutschen würdigen, die auch Opfer des Nazismus waren und in einen Krieg hineingezogen wurden, der nicht der ihre war und der nicht der ihre hätte sein sollen». Die Worte erinnern im Tenor an die versöhnliche Rede, die anno 1995 Francois Mitterand, kurz vor seinem Tode,  im Deutschen Bundestag hielt. Aus dem Munde der Feinde von gestern, die ihre spezifischen Geschichtsmythen pflegen, vernehmen wir Worte, die den Deutschen ("uns Deutschen") den Blick für die  Dialektik der Befreiung öffnen. Aus deutschem Politikermund  sind derlei Reflexionen kaum noch zu erwarten. Ebensowenig von unserer zeitgenössischen Intelligentsija.  

Montag, 2. Juni 2014

Zur Neuverteilung der Kriegsschuldanteile

Aufgrund der anhaltenden Diskussion erlaube ich  mir den Hinweis auf meinen  beim Publikum offensichtlich mit Interesse aufgenommenen Blogeintrag (vom 17.12./27.12.2013) zu der von Christopher Clarks Buch "Die Schlafwandler" ausgelösten neuerlichen "revisionistischen" Kriegsschuldthematik.

In der heutigen FAZ (02.06.2014, S. 6) hat sich  Heinrich August Winkler unter dem Titel "Die Oktoberreform" (vom 28.10.1918) des Themas angenommen, wobei er es gemäß seinem Credo vom "langen Weg nach Westen" mit der im konstitutionellen Kaiserreich nur unzureichend gelösten Demokratiefrage - gemeint ist die Parlamentarisierung der monarchischen Verfassung - verknüpft. Winkler konzediert den von Volker Ullrich (direkt) und von Hans-Ulrich Wehler (indirekt) ob ihres "Revisionismus" gescholtenen Autoren Clark und Herfried Münkler, ihre Bücher seien "von der Kritik in vieler Hinsicht mit Recht gelobt" worden, gibt aber dem von  Wehler als  "einsamer Spitzenreiter" in der "Literaturschwemme" zum Großen Krieg gerühmten Werk von Jörn Leonhard ("Die Büchse der Pandora") den Vorzug. Leonhards These, so Winkler, dass Deutschland "´ohne Zweifel eine besondere Verantwortung in der Julikrise´zukam, bedeutet keine Rückkehr zur längst widerlegten (sic !) Alleinschuldthese. Sie wirkt aber jenen nationalapologetischen Tendenzen in Deutschland entgegen, die durch die relativierenden Darstellungen der deutschen Politik in der Julikrise bei Clark und Münkler neuen Auftrieb erhalten haben."

In den Folgesätzen  bringt Winkler sein eigenes geschichtspolitisches Interesse zum Vorschein. Er wendet sich gegen Clarks Urteil, in allen fünf an dem sich in der Julikrise zuspitzenden Konflikt beteiligten Ländern sei "die militärische Planung letztlich den politischen und strategischen Zielen der zivilen Führungen untergeordnet" geblieben. Er weist diese These im Hinblick auf Berlin, Wien und St. Petersburg zurück und wendet sich insbesondere gegen Clarks These, in Berlin habe man Russlands Kriegsentschlossenheit vorerst nur zu sondieren gedacht. Es ist anzumerken, dass Winkler sodann nicht unbegründet die Idee des  "Testens" der russischen Bündnis- und Kriegsbereitschaft an der Seite Serbiens - samt Kriegsrisiko - den deutschen Militärs anlastet.Was den Druck der Militärs angeht, den er nicht nur in Wien - wo der Generalstabschef Conrad von Hötzendorf (von Winkler nicht ausdrücklich genannt)  seit langem den Präventivkrieg gegen Serbien (und folglich auch gegen Russland) propagierte  - und in Berlin, sondern immerhin auch am Zarenhof am Werk sah, so ist Winklers Argumentation plausibel.

Problematisch und kritikwürdig  ist  hingegen Winklers "antirevisionistische" - an Max Webers alte Kritik an der Reichsverfassung anschließende - Grundthese, die fehlende Parlamentarisierung, die allein dem Kaiser (als preußischem König) zugeordnete Position des Reichskanzlers und der zivilen Regierung, dazu die verfassungsrechtliche Sonderstellung des preußischen Militärs, habe in der Julikrise den Weg in den Krieg, den "Sprung ins Dunkle" vorgezeichnet.

Winkler hält Clark entgegen: "In Berlin wie in Wien waren in den Wochen nach dem Attentat keine ´Schlafwandler´, sondern Vabanquespieler am Werk. In St. Petersburg sah es nicht viel anders aus."
Immerhin. Um die seit Marx und Engels antizaristisch gesonnenen Sozialdemokraten für die  Zustimmung zu den Kriegskrediten (am 4. August 1914) historisch zu entlasten,  erinnert Winkler an die Chronologie in der Endphase der Julikrise. Auf die russische Generalmobilmachung - ein nach damaligen Maßstäben technisch- faktisch irreversibler Akt - erfolgte das deutsche  Ultimatum. Erst danach kam die Kriegserklärung aus Berlin. Der "Revisionist" Stefan Scheil hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es einer deutschen Kriegserklärung nicht bedurft hätte, das unbeantwortete Ultimatum hätte Russland, dessen Kriegsmaschine mit der Generalmobilmachung bereits angelaufen war,  zum Angreifer gemacht.

Die Debatte über die Zuteilung der Schuldanteile am Großen Krieg führt letztlich nicht weiter. Sie hängt ab von der Sichtweise der Historiker und ihrer jeweiligen Interpretation der Akten. Zum Stand des wiederaufgelegten Kriegsschuldthemas - oder  des jüngsten "Revisonismusstreits" seien einige wichtige "revisionistische" Aspekte hervorgehoben: Der erste betrifft die von Clark  präzise rekonstruierte Machtpolitik der Akteure und betrifft das Faktische: Erst als der französische Staatspräsident Poincaré am 15. Juli mit  Viviani nach Petersburg reiste, um die Verbundenheit der beiden Flügelmächte zu bekräftigen, weihte er  ihn, seinen neuen   friedfertig gesinnten Ministerpräsidenten und Außenminister, an Deck der France in die Details des seit 1892/1894 bestehenden  Militärbündnisses ein.

Zur  außen- und machtpolitischen Realität gehörte zudem seit 1904/1907 die Triple-Allianz mit England.
Am 13. Mai 2014 beschloss das britische Kabinett die Aufnahme von Geheimverhandlungen mit Russland über die vertiefte Kooperation in Marine- und Seekriegsfragen. Die Aufnahme der Verhandlungen wurden von dem als Spion zugunsten des Reiches agierenden Zweiten Sekretär an der russischen Botschaft, dem Baltendeutschen von Siebert,  nach Berlin übermittelt. Als die Sache  an die Öffentlichkeit drang, dementierte der britische Außenminister Lord Grey jegliche derartige - die deutschen Einkreisungsängste  verstärkende - diplomatische Aktivität. Dass derlei Umgang mit der Wahrheit in den entscheidenden Wochen der Julikrise nicht zur Beruhigung der deutschen Akteure beitrug, versteht sich von selbst.

Die von Christopher Clark dargestellte Episode, die einst der Historiker Erwin Hölzle gegen Fritz Fischer ins Spiel brachte, wird  in der heutigen FAZ  von Rainer Blasius  ("Der Zweite Sekretär", S. 8)  noch einmal ventiliert. Das diplomatische Ränkespiel mag wiederum der Interpretation offenstehen. Als schlichtes Faktum offenbart es die Bedeutung der anderen grundlegend "revisionistischen" Aspekte: Es geht zum einen um das Verhältnis von Staatsordnung und Außenpolitik, zum anderen um die von Winkler, Wehler unter anderen negierte außen- und machtpolitische Zwangslage, um die geopolitische Mittellage des zur europäischen Großmacht avancierten Deutschen Reiches. Anders als Winkler und manch andere (west-)deutsche Historiker meinen, sind parlamentarisch verantwortliche Regierungen weder gestern noch heute dagegen immun, von Eigeninteresse gesteuerte Machtpolitik zu betreiben. Die Vorstellung, dass westliche Demokratien von  Natur aus Kriegen abgeneigt seien, gehört zu ihrem ideologischen Überbau, zielt indes an der historischen Wirklichkeit vorbei. Die lange Reihe der vom "Westen" inszenierten  Kriege sind  Beleg genug.