Samstag, 9. Januar 2016

Willkommenskultur in praxi

I.
Wann, unter welchen historischen - genauer: postmodern-antihistorischen - Voraussetzungen und mit welchen politisch-ideologischen Absichten die "Willkommenskultur" als grün-medialer Neologismus die an  "Kultur"-Composita überreiche phraseología politica Teutonica erstmals bereicherte, wäre ein  lohnendes Thema für den Erwerb eines "Bachelor" (ungegendertes Maskulinum; de facto faschistisch) in Fächern wie Kulturmanagement, Tourismus, Migrationsforschung oder dergl. Für einen Blog-Eintrag  scheint das Thema aufgrund seiner definitorischen Umfänglichkeit begriffsanalytisch ungeeignet.

Ungeachtet aller Definitionsschwierigkeiten erlebte der Begriff "Willkommenskultur" in der Neujahrsnacht zu Köln, Hamburg Stuttgart und anderswo seine Umkehrung in der sozio-kulturellen Praxis Tausender von Ankömmlingen in der postdeutsch-bundesrepublikanischen  "Aufnahmegesellschaft". Die rechtlich, statistisch, kulturell und begrifflich von der Mehrheitsgesellschaft gemeinhin nahezu ununterscheidbaren Migranten/ Menschen mit Migrationshintergrund/refugees/Flüchtlinge/Neubürger demonstrierten mit erstaunlichem élan vitale ihre Integrationsbereitschaft in die wertegebundeme europäische (nicht etwa abendländische) Kultur sowie insbesondere ihre Hochschätzung deutscher Willkommenskultur.

Die  Details der interkulturellen Begegnung in der Silvesternacht wurden den weltoffenen (bio-deutschen sowie voll-integrierten) Bürgerinnen und Bürgern in den TV-Leitmedien ARD und ZDF leider nur häppchenweise und mit einiger Verzögerung mitgeteilt. Die politischen Konsequenzen aus derlei Informationspannen trägt derzeit indes nur der von seinem NRW-Innenminister suspendierte Kölner Polizeipräsident. Der Parteifreund - ein politisches Bauernopfer.

II.
Während das gründeutsche Leitorgan taz die von Migranten demonstrierte Silvesterfreude - ohne Rücksicht auf die vom Münchner Polizeichef statistisch belegten Fakten (s. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/die-uebergriffe-in-koeln-und-falsche-zahlen-von-der-wiesn-14004617.html) -  in das bekannt sexistische Gebaren bio-deutscher Männer auf  Events wie der Müncher "Wies´n" einordnet, verleiht Bild - ebenfalls leicht zeitverzögert - Volkes Erstaunen, ja stammtischliche Empörung über den taktlosen Umgang der Neubürger (m.) mit der deutschen Willkommenskultur Ausdruck. Wir Demokraten (-innen; *innen, nach jüngster "links" verordneter Rechtschreibung)  sind dankbar und erleichtert: Bild fungiert endlich wieder auch als populistische vox populi, nicht nur als volksnahe vox Angelae.

Ein Lob gebührt der FAZ, die in Beiträgen Leitartikeln und Glossen (aus der Feder von Jasper von Altenbockum, Reinhart Müller und Berthold Kohler) Merkels Einladung an alle Welt sowie ihren pseudo-universalistischen Starrsinn in der Asylfrage ("keine  Obergrenze") von Anbeginn als politisch unverantwortlich zurückgewiesen haben. In der heutigen Samstag-Ausgabe (v. 9. Jan. 2015, S.3) legt Günter Bannas unter Bezug auf die Neujahrsansprache Merkels (genauer: auf den vom Redenschreiber reproduzierten Phrasenkatalog) unter der Überschrift "Die dementierte Kanzlerin" die Faktenlage dar. Er fragt: "Bleibt trotzdem alles, wie es war?"

Vermutlich ja. Es steht zu befürchten, dass die bundesdeutsche classe  politica allenfalls bis zu den nächsten Landtagswahlen gegensteuert. Immerhin: Innenminister de Maizière regt an, man solle das für die Abschiebung von straffälligen Aslyberwerbern bislang gültige Straßmaß von drei (!) Jahren auf ein Jahr reduzieren. Sollte derlei im Kabinett ernsthaft diskutiert - kaum beschlossen - werden,  ist dem preußischen Verteidiger des Rechtsstaates de Maizière der Aufschrei ("Shit-storm") der medialen Moralhüter gewiß.

Der Artikel Bannas´ rekapituliert nicht nur Merkels Gebaren in der "Flüchtlingskrise" vor (mediale Begegnung  mit einem weinenden palästinensischen Flüchtlingsmädchen, dem sie seinerzeit unter Bezug auf die Rechtslage beschied, "nicht alle könnten bleiben") und nach dem 31. August 2015 ("Wir schaffen das").  Der FAZ-Redakteur hat seinen Aufsatz mit  Formeln des "merkelschen Deutsch" angereichert. Zuletzt erläuterte Merkel dem rumänischen Ministerpräsidenten Dacian Ciolos  Aspekte ihrer Willkommenskultur wie folgt: "Das Gefühl - von in diesem Fall Frauen -, sich völlig schutzlos ausgeliefert zu fühlen, ist auch für mich persönlich unerträglich." "Aber wir müssen auch und  immer wieder über die Grundlagen unseres kulturellen Zusammenlebens in Deutschland sprechen." Daraus Merkels politische Folgerung:  "Dabei muss eben immer wieder überprüft werden, ob wir, was Ausreisenotwendigkeiten oder Ausweisungen aus Deutschland anbelangt, schon alles getan haben, was notwendig ist, um hier klare Zeichen an diejenigen zu setzen, die nicht gewillt sind, unsere Rechtsordnung einzuhalten."

III.
Ich verweise auf meine  früheren Kommentare zu Merkels deutschem Sprachgebrauch: http://herbert-ammon.blogspot.de/2015/09/historisch-politische-bilanz-der.html  Der Thematik "The Great Migration"  (http://herbert-ammon.blogspot.de/2015/07/the-great-migration.html; s.a. http://herbert-ammon.blogspot.de/2015/09/kritik-der-grundeutschen-gewissenskultur.html) hat die in Dresden erscheinende Vierteljahresschrift Tumult. Zeitschrift für Konsensstörung  in ihrer Winterausgabe 2015/2016 ein Heft gewidmet. Ich empfehle dem Publikum die Lektüre. Daraus eine Passage aus dem Editorial des Heausgebers Frank Böckelmann: "Liebe Leser, haben Sie als Teilnehmer und Zaungäste der »Flüchtlingskrise« auch das Gefühl, dass der öffentlichen und veröffentlichten Meinung das Wesentliche, die Kernfrage der Krise, gleichsam ständig auf der Zunge liegt, aber in der Debatte über Organisation und Fassungskraft unausgesprochen bleibt? Unsere Autoren versuchen, im toten Winkel der Tagesschauen zu ermitteln, worum es überhaupt geht."

 Zu den Autoren zählt erstmals auch Hans Magnus Enzensberger, der bereits anno 1990 in seinem Essay "Die Große Wanderung und Aussichten auf den Bürgerkrieg" die heutige Lage Europas prägnostizierte.

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