Dass öffentliche und veröffentlichte Meinung etwas grundsätzlich Verschiedenes darstellen, ist bekannt, auch wenn die in den diversen Medien hervortretenden Meinungsbildner dazu neigen, den Unterschied zu übergehen. Zudem pflegen sie - im Gegensatz zur faktischen Symbiose mit der classe politica - noch immer die Vorstellung von der "vierten Gewalt", der Kritik und Wachsamkeit gegenüber den Regierenden (in der lingua scientiarum politicarum meist übersetzt mit "Entscheidern" = decision makers) obliege.
Wie realitätsfern der Begriff der "vierten Gewalt" in der politischen Wirklichkeit ist, läßt sich derzeit an der Berichterstattung und/oder Meinungsbildung bzw. des wiederaufgelegten Ost-West-Konfliktes in der Ukraine sowie um die Macht- und Einflußsphären östlich der Grenzen der EU ablesen. Nahezu unisono gilt Putin, gelten "die Russen" wieder als die alleinigen Bösewichte, die mit ihrem "Eurasien"-Projekt auf die Wiedererrichtung des russischen Imperiums samt zarischer (Putinscher) Despotie zielen.
Adnote: Im Erinnerungsjahr 2014 sei nicht vergessen, dass die Westmächte - seinerzeit noch nicht als "westliche Demokratien" bezeichnet - keine Skrupel empfanden, gegenüber dem zu hegemonialer Größe aufstrebenden Deutschen Reich mit dem gemeinhin als unfreiheitlich-reaktionär eingestuften Russland eine Triple-Allianz zu schließen. In der Julikrise und in den Augusttagen 1914 entfaltete das west-östliche Bündnis historische Wirksamkeit.
Unter den "Qualitätszeitungen" stehen sich "Welt", "Zeit", SZ und FAZ in nichts nach, wenn es darum geht, die angeblich allein von Putins neoimperialen Aktionen ausgehenden Gefahren zu beschwören. Insbesondere in der "Welt" werden derzeit die diversen deutsch-russischen Diskussions- und Kooperationsforen, etwa der gerade in Leipzig tagende "Petersburger Dialog", als eine Art klandestine Unterorganisation des KGB gehandelt. Eine leicht abweichende Stimme erhob allein der Herausgeber und frühere Chefredakeur Thomas Schmid, der zumindest an die historische Komplexität des ukrainischen Terrains erinnerte. Gleichwohl betonte Schmid,, dass Putins Einverleibung der Krim den ersten völkerrechtlichen Bruch bestehender Grenzen (in Europa) seit 1945 darstelle. Dazu - auch im Zusammenhang mit den von Politikern wie Schäuble und Bouffier erteilten Geschichtslektionen - nur folgendes: Was sich 1945-1948, nach Kriegsende und der Befreiung vom Nazi-Verbrechen, in Europa, genauer: in Mitteleuropa abspielte, entsprach durchaus nicht völkerrechtlichen, geschweige denn menschenrechtlichen Maximen. Zudem: Als Nikita Chruschtschew anno 1954 die Krim als "Geschenk" der Ukraine zuschlug, wurden die Bewohner der Krim nicht gefragt.
Dass die Meinungsbildung, d.h. die veröffentlichte Meinung, derzeit mit der "öffentlichen Meinung" in Deutschland auseinanderklafft, ist den meinungsbildenden Journalisten nicht gänzlich entgangen. Die Umfragen ergeben ein deutliches Bild. Wenn die journalistisch-medialen Meinungsführer sogleich mit dem üblichen "Stammtisch"-Argument - wo anders kommen Menschen überhaupt noch zum Gedankenaustausch, zur "demokratischen Meinungsbildung" zusammen? - zur Hand sind, so dürfte ihnen dies angesichts informierter und differenzierender Internet-Kommentare und immerhin abgedruckter Leserbriefe nicht so leicht fallen. Zudem: Es gibt auch die eine oder andere, vom Unisono deutliche abweichende Stimme wie die der langjährigen Russland-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz. Sie kritisiert die Einseitigkeit der Berichterstattung und verweist insbesondere auf ein Detail des von Putin in letzter Minute verhinderten Assoziierungsabkommens der Ukraine mit der EU: § 7 des Vertrags sah die militärische Kooperation, mithin die indirekte Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO, zwischen Kiew und der EU vor. Der besagte § 7 blieb m.W. in der gesamten sonstigen Berichterstattung in Deutschland und EU-Europa unerwähnt.
Zur weiteren Information sei auf das Interview von Krone-Schmalz hingewiesen:
www.youtube.com/watch?v=22VfEe1RkH8
Postscript 6.6.2016:
Zur Erhellung der Thematik s.a. meine 2015 verfaßt Rezension:
https://www.iablis.de/28-iablis/t/2015/9-herbert-ammon-die-journalisten-und-ihre-netzwerke-zur-demokratischen-theorie-und-praxis-der-deutschen-medien
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