In der gestrigen FAZ (v. 05.08.2013, S. 3) ist ein aufschlussreicher Aufsatz des syrischen Philosophen Sadik J. al-Azm (geb. 1934) zum verwelkten "arabischen Frühling" zu finden. Der Aufsatz entstammt einem Vortrag, den der Verfasser unlängst vor dem Berliner Wissenschaftskolleg hielt.
Der Autor, ein Repräsentant der gemäßigten syrischen Opposition, hält den Geist des "arabischen Frühlings" für ungebrochen. Redaktioneller Untertitel: "Säkulare Araber kämpfen gegen Islamismus und das Militär für eine moderne Zivilgesellschaft. Trotz Rückschlägen ist ihr Charisma lebendig."
Was die optimistische Prognose des vielfach - auch in Deutschland - geehrten, in Damaskus und zuletzt u.a. 2006 als Visiting Professor in Princeton lehrenden Philosophen betrifft, gilt es abzuwarten.Wie steht es angesichts der jüngsten blutigen Erschütterungen des arabischen Raumes sowie des gesamten nahöstlichen Krisenbogens mit der Aussicht auf eine friedliche, rechtsstaatliche, "zivile" Ordnung in den diversen Staatsgebilden?
Unabhängig davon, wie man die Frage beantworten mag, bietet al-Azms Aufsatz einige erhellende Passagen zu dem das politische Vokabular - geradezu als Synonym für "demokratisch" - beherrschenden Begriff "Zivilgesellschaft". Nach dem historischen Versagen des säkularen arabischen Nationalismus gehe es heute den Gegnern der Diktatur im arabischen Raum nicht um die hierzulande propagierte "Zivilgesellschaft" - das Ensemble von Organisationen und "Bewegungen" als Komplement des Staates -, sondern um die Herausbildung einer an staatlicher Ordnung ("ziviler Regierung") orientierten, d.h. von rechtsstaatlichen Institutionen gesicherten Gesellschaft gleichberechtigter Staatsbürger. Es gehe um die Überwindung der nach wie vor dominanten "Ahli-Gesellschaft", der für vormoderne Gesellschaft charakteristischen (Un-)Ordnung von Primärbeziehungen: ("Verwandtschaft, Blutsbande, Stamm, Ethnizität oder Religionsgemeinschaft"), in denen das Prinzip der "Asabiyya" bestimmend sei. "Asabiyya" werde falsch übersetzt mit "Solidarität", sei in Wirklichkeit der Nährboden für "Fanatismus und Ausgrenzung".
Al-Azm will seinen "modernen", von Locke, Hegel, Marx und Gramsci abgeleiteten Begriff unterschieden wissen von der hierzulande üblich gewordenen Vorstellung der "Zivilgesellschaft". "Als Araber verstehe er, dass die atomiserten westlichen Gesellschaften in ´Zivilgesellschaft´das Wirken von Nichtregierungsorganisationen, Vereinen, Kirchen, Moscheen, freiwilligen Vereinigungen aller Art innerhalb des Staates sehen. Denn sie bringen gesellschaftliche ´Atome´ zusammen und fördern Gemeinschaftsgefühl."
Es bleibt zu fragen, ob er den hierzulande prävalenten Begriff der "Zivilgesellschaft" nicht seinerseits missversteht. Was wir derzeit unter dem als politisches Ideal gehandelten Begriff erleben - die Palette von aus privaten, halbstaatlichen, staatlichen Mitteln sowie aus quasi-staatlichen EU-Fonds alimentierten Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Stiftungen, "Bürgerbewegungen" - wirkt nicht nur komplementär "innerhalb des Staates", sondern zusehends als transstaatliches und substaatliches Gegenstück zu den staatlichen Institutionen. Was das Selbstverständnis und den Zusammenhalt der wiederum "von oben", d.h. von durchaus machtbewussten, ideologisch ("zivilgesellschaftlich") motivierten Aktivisten und/oder von Sponsoren dirigierten, durch wärmendes "Wir-Gefühl" zusammengehaltenen Gruppierungen betrifft, so drängen sich gewisse Parallelen zu dem von al-Azm, dem säkular-progressiven Philosophen, als destruktiv erkannten, vormodernen - ehedem meist simplifizierend als "feudalistisch" bezeichneten - Loyalitäts- und Klientelsystem geradezu auf.
Adnote: Zur ergänzenden Erhellung verweise ich auf meine Kritik des Begriffs "Zivilgesellschaft" in meinem Aufsatz "Politische Semantik. Zur Durchsetzung von Begriffen im herrschenden Diskurs" in GlobKult:
http://www.globkult.de/gesellschaft/projektionen/472-politische-semantik-zur-durchsetzung-von-begriffen-im-herrschenden-diskurs
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen