Der Krieg in der Ukraine hat so manche das deutsche Bewusstsein über Jahrzehnte hin prägende Gewissheiten - dauerhafter Friede, gesicherter Wohlstand als führende Exportnation, Klimarettung durch erneuerbare Energien - erschüttert. Wie für die deutsche Wirtschaft zentrale Industriezweige ohne russisches Gas existenz- und konkurrenzfähig bleiben können, weiß Wirtschaftsminister Robert Habeck so wenig wie der schweigsame Bundeskanzler Olaf Scholz.
Ökonomische, soziale und kulturelle Krisenphänomene sind im Sommer 2022 nicht mehr zu übersehen. Unternehmen und Haushalte leiden - nach faktischer Geldentwertung durch die Nullzins-Politik im Gefolge der Finanz- und Eurokrise unter der - nicht allein auf die Energiepreise zurückzuführende - Inflation. Erstmals weisen die deutschen Wirtschaftsdaten ein bis dato undenkbares Außenhandelsdefizit auf. In dem für die ökonomisch-technische Leistungsfähigkeit grundlegenden Bildungsbereich tun sich erschreckende Defizite auf. Die Tatsache, dass das erbärmliche Niveau in Grund- und Sekundarschulen mit der über Jahrzehnte hin ungesteuerten Zuwanderung zu tun hat, wird in den medialen Debatten tunlichst vermieden.
Ungeachtet der skizzierten Negativtendenzen verfolgt die Ampel-Koalition - maßgeblich inspiriert von grün-linker Ideologie und ungehindert von politisch wirksamer Opposition - einen von "Weltoffenheit", EU-Zentralismus und postnationalen, (vermeintlich) universalistischen Maximen bestimmten Kurs.Vor diesem Hintergrund stelle ich meine Globkult-Rezension (https://www.globkult.de/politik/besprechungen/2223-heinz-theisen-selbstbehauptung-warum-europa-und-der-westen-sich-begrenzen-m%C3%BCssen,-reinbek-lau-verlag-2022,-389-seiten-herbert-ammon) des Buches von Heinz Theisen zur "Selbsthauptung durch Selbstbegrenzung" des Westens zur Diskussion.
I.
In den neunziger
Jahren des vergangenen Jahrhundert, im Jahrzehnt nach dem Mauerfall,
erlebte die Welt - theoretisch inspiriert und überhöht von
neoliberaler Doktrin - den Siegeszug der ökonomischen
Globalisierung. Unter der Ägide der KP vollzog China den Aufstieg
zur weltweit zweitstärksten Wirtschaftsmacht. Im Gefolge einer
radikalliberalen Schocktherapie fiel das postsowjetische Russland in
die Hände der Oligarchen. Die sich in China maßlos verschuldenden
USA zielten – auf der Basis des nordamerikanischen
Freihandelsabkommens NAFTA - auf einen global liberalisierten
Weltmarkt. Parallel dazu setzten massive Flucht- und/oder
Migrationsbewegungen aus dem „globalen Süden“ in die
Wohlstandszonen des Nordens ein.
Den ideologischen
Überbau der ökonomischen Entgrenzung lieferte der
Politikwissenschaftler Francis Fukuyama mit der Proklamation des
„Endes der Geschichte“ und der weltweiten Durchsetzung der
liberalen Demokratie samt dem Impetus der universalen Menschenrechte.
Das kritische Pendant zu dieser optimistischen Weltsicht - die
Fukuyama alsbald selbst zu revidieren genötigt war -, formulierte
der Historiker Samuel Huntington mit seiner Warnung vor einem
„Zusammenprall der Kulturen“ (The Clash of Civilizations and
the Remaking of World Order, 1993). Wenngleich in seiner
historisch-kulturell fundierten Diagnose von der Realität - die
Nahostkriege, der blutige Zerfall Jugoslawiens, die 9/11-Anschläge
sowie Afghanistan – bestätigt, erntete der vermeintliche
Kulturpessimist Huntington seitens des progressiv-liberalen
Establishments nichts als moralische Entrüstung.
Im Horizont eines
„wertebasierten“ Liberalismus haben kulturelle Differenzen –
sofern sie das säkulare Postulat universeller Gleichheit in Frage
stellen könnten – keinen Platz. Unter grünen Vorzeichen gilt auch
hierzulande der – in der westlichen Kulturtradition verwurzelte –
Universalismus als die einzig gültige politische Richtschnur.
Derzeit werden – in der einmütigen Parteinahme für die Ukraine
gegen den großrussischen Aggressor Putin - die universalen Werte der
westlichen Demokratie hochgehalten, ungeachtet der Tatsache, dass in
der Ukraine auch nationalistische Momente im Spiel sind.
II.
Vor diesem
Hintergrund legt der bis 2020 an der Katholischen Hochschule
Nordrhein-Westfalen lehrende Heinz Theisen ein Buch vor, in dem er
dem Globalismus als Praxis und dem „Globalismus als neue
Weltanschauung“ (97-102) eine Absage erteilt. Die globalistischen
Kräfte sieht er auf dreifache Weise wirksam: als ökonomischen
Globalismus, als politisch-militärischen Interventionismus sowie als
humanitären Universalismus. Seine Kritik an den - in Deutschland
als „National-Globalismus“ samt „Willkommenskultur“
praktizierten – globalistischen Konzepten gründet er zum einen auf
die Evidenz der Fakten, zum anderen auf die inneren Widersprüchen
der universalistischen Ideologie.
Mit seiner
staatskapitalistisch betriebenen Modernisierung spielte China von
Anbeginn eine höchst eigene „universalistische“ Rolle, die indes
als globale Machtprojektion von vielen erst angesichts von Xi
Jinpings Konzept der „Seidenstraße“ erkannt wurde. Die Risse im
ökonomischen Netz des Globalismus waren schon frühzeitig in der
durch outsourcing verursachten Vernichtung von industriellen
Arbeitsplätzen zu erkennen. Heute treten sie auch in Gestalt einer
beruflich ungesicherten Gruppe im Dienstleistungssektor
(„Dienstleistungsprekariat“) hervor. Die Verheißungen eines
staatsfernen, globalen Fortschritt, Glück und Wohlstand
hervorbringenden neoliberalen Weltmarktes zerbrechen an den während
der Corona-Pandemie unterbrochenen Lieferketten, ganz abgesehen von
der von Putins Krieg ausgelösten Energiekrise.
Dass unter dem
Deckmantel freien Welthandels stets auch politische Interessen –
keineswegs allein deutsche – Interessen verborgen liegen, wurde
durch Krise und Krieg um die Ukraine evident. Zu Recht verweist
Theisen auf Afghanistan als Beispiel dafür, wie die Überdehnung
politisch-militärischer – im Hinblick auf die am Hindukusch
versenkte Billion Dollar auch ökonomischer Möglichkeiten, hohe
moralische Ansprüche sowie bis dato alle Konzepte von
„nation-building“ unter demokratischen Vorzeichen an der
komplexen Wirklichkeit scheiterten.
Am
offensichtlichsten, wenngleich von den Protagonisten negiert, tritt
die Widersprüchlichkeit des ideologischen Universalismus in der
Unvereinbarkeit des „woken“ Kulturrelativismus, sprich: die
behauptete Gleichwertigkeit aller Kulturen, in den Proklamationen von
„Identität“ sowie in dem von denselben „Kulturlinken“ mit
gleicher Emphase verfochtenen Menschenrechtsuniversalismus hervor.
Politische Schlagkraft gewinnt derlei Ideologie, in Frankreich
bekannt als islamogauchisme, im Bündnis von
religionsfeindlichen Linken mit islamischen Kräften.
Theisen verweist
auf das Zusammenspiel der global operierenden Großkonzerne mit
ehedem kapitalismuskritischen Linksliberalen, insbesondere mit den
grünlinken Nachfahren der 1968er Neuen Linken. Bereits für Herbert
Marcuse und dessen Adepten hatte die Arbeiterklasse ihren Charme als
Subjekt universeller Emanzipation eingebüßt. Heute verleihen die
jüngsten „linken“ Progressisten, nicht nur die Grünen als
dominierende politische Kraft, mit humanitären Parolen, mit
Doktrinen wie Multikulturalismus, diversity und „offene
Grenzen“ den Mechanismen neoliberaler Ökonomie ideologischen
Glanz.
Damit
einher geht die Beschwörung der die Menschheit bedrohenden
Klimakatastrophe. Für die große Mehrheit der Klimaretter - die
radikalsten, anzutreffen bei „Extinction Rebellion“, streben
vermittels des Kampfes gegen CO2-Emissionen
den Umsturz des von „weißen Männern“ getragenen
kapitalistischen Systems an - fungiert die Ankündigung der
Klimaapokalypse als Ersatzreligion. Allgemein ersetzt und erfüllt im
säkularen Westen - nach Erosion der Kirchen und Schwinden der
christlichen Glaubensinhalte - Moral die psychologisch fortwirkenden
religiösen Bedürfnisse.
Mit der
Beschreibung der Dialektik von globalistischer Ökonomie und
grünlinker Moral liegt Theisen zweifellos richtig. Weniger
überzeugend wirkt seine Argumentation, wenn er im Hinblick auf die
globalistisch fundierte Postmoderne von einer Synthese von
Liberalismus und Sozialismus spricht, sodann jedoch die „Gespenster
des Sozialismus“ heraufziehen sieht. Er argumentiert
zudem nicht widerspruchsfrei, wenn er einerseits Erdogan als
„lange verdeckt operierenden Muslimbruder“ (57) bezeichnet, aber
meint, „wir können mit quietistischen, nach innen gekehrten
Salafisten und primär sozial agierenden Muslimbrüdern in Koexistenz
leben.“ (263)
Für die
Integration der zusehends heterogene deutsche und westeuropäische
Gesellschaft verzichtet Theisen auf eine „Leitkultur“, will
stattdessen an – von der Verfassung vorgegebene - „Leitstrukturen“
festhalten. (190). An anderer Stelle vermerkt er indes, dass in
Israel 75 Prozent der Bürger, „jüdisch und...der jüdischen
Leitkultur verpflichtet“ seien. (216) Den Nationalstaat betrachtet
er als politisch-sozialen Schutzraum der schwächeren
Bevölkerungsgruppen für unverzichtbar. Andererseits klingt es nach
geistiger Nähe zu den zu Recht abgelehnten (De-)Konstruktivisten, wo
es heißt, „das Narrativ der Herkunft kann durch die Prägung neuer
Narrative relativiert werden, sodass auch der multinationale Staat
gedeihen kann.“ (307)
Die
Hauptgefahren für Europa – als Begriff erscheint auch das
„Abendland“ – sieht Theisen zum einen im totalitären System
und Selbstverständnis der alten, neuen Weltmacht China, zum anderen
im Vordringen eines voraufklärerischen Islams, dem unter dem
Leitbild der umma
die für die Freiheitstradition des Westen grundlegende Trennung von
Kirche und Staat, von geistlicher und weltlicher Sphäre, wesensfremd
ist. Entsprechend fordert er gegenüber dem unvermindert anhaltenden
Migrationsdruck aus dem islamischen Raum sowie aus Afrika eine
differenzierende, effektiv gesteuerte Einwanderungspolitik. Nicht
nur in diesen Punkten unterscheidet sich Theisen, der an der „
anthropologischen Weisheit des Christentums“ festhält und seine
Kritik an globalistischen – und EU-technokratischen – Konzepten
auf das Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre gründet,
von den alle Welt umarmenden Botschaften des Papstes Franziskus
(„Fratelli tutti“).
III.
Theisen plädiert
für eine kulturelle Selbstbesinnung des „globalen Westens“ (in
den er unter politisch-ökonomischen Aspekten auch Südkorea und
Japan einbezieht), für einen gemäßigten Protektionismus gegenüber
dem ökonomischen Globalismus sowie – gegenüber den verfehlten
Konzepten des Demokratieexports - für eine verantwortungsvolle
Selbstbeschränkung im Politischen. Sein Konzept gründet auf
abwehrbereiter Koexistenz mit den
real unterschiedlichen Kulturen sowie – im Hinblick auf die
Vielzahl autoritärer Staatsgebilde - auf einer „Realpolitik des
kleineren Übels“ (270).
Mit Bedacht ist dem
Buch ein Zitat von Hannah Arendt vorangestellt, die die größte
Gefahr in der Moderne in „dem Verlust an Wirklichkeit“ erkannte.
Es steht zu befürchten, dass auch die vorliegende Warnung vor den
Fallgruben eines moralisch aufgeladenen Universalismus von denen, an
die sie adressiert ist, überhört wird. Auf vehemente Ablehnung
werden Theisens Ausführungen zum Ukraine-Krieg stoßen, wo er die
Mitschuld Kiews durch Verletzung des Minsker Abkommens von 2014 sowie
den 2019 zum Verfassungsgebot erhobenen NATO-Beitritt benennt. Mehr
noch: Die Ukraine sei vom Westen aus ihrer „geopolitisch gebotenen
Neutralität“ heraus in eine Falle gelockt worden. (351) Im
Anschluss an Henry Kissingers Konzept einer „Westfälischen
Weltordnung“ akzeptiert der Autor nicht nur die „amoralische“
Realität von Einflusssphären, sondern hofft auch angesichts von
Putins Krieg noch auf ein Arrangement mit Russland. (257f.)
Mit der Strategie der „Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung“,
glaubt Theisen über ein Konzept zu verfügen, in dem die alten
Lagerbegriffe Links und Rechts aufgehoben sind. Inwieweit dazu die
folgenden Sätze am Ende seines Buches beitragen, steht dahin: „Die
überkommene Polarisierung von ´Links´und ´Rechts wird der
Wiederkehr des internationalen Freund-Feind-Denkens weichen.
Die´toxischen´ männlichen Werte sollten wieder an Bedeutung
gewinnen. Eine ´feministische Außenpolitik´, die etwa männliche
Kriegsopfer für nachrangig erklärt, dürfte angesichts der
Geschehnisse in der Ukraine nicht mehr ernst genommen werden.“
(358)
Geht es dem Autor - eine Straffung des Materials sowie ein Register
hätten dem Buch gutgetan - um einen Aufruf zu nüchterner
Selbstbesinnung, so macht er es mit derlei Aussagen – sowie mit
polemischen Pointierungen wie „Demokratie als Gesinnungsoligarchie“
(86, 142-152) oder „die exekutivisch regierende EU-Oligarchie“
(147) - dem linksliberalen Mainstream leicht. Anstelle einer
kritischen Rezeption dürften Theisens Thesen weithin ignoriert oder
als „rechts“ abgetan werden.
Heinz Theisen: Selbstbehauptung.
Warum Europa und der Westen sich begrenzen müssen, Reinbek
(Lau-Verlag) 2022, 389 Seiten