Wie einst zu Zeiten des Pestbazillus, zerfällt die Menschheit in Zeiten des Virus in ihre menschliche Vielfalt. Die einen feiern ("machen Party"), die andern verkriechen sich - mit oder ohne Anordnung - in ihre Wohnung, wieder andere entdecken geängstigt, demütig oder empört die Macht des Schicksals. Auf RBB Kultur gab der Moderator die Anregung einer Hörerin weiter, man solle am Abend auf den Balkon gehen und gemeinsam mit den lieben Nachbarn "Freude schöner Götterfunken" singen. Offenbar ließ sich die Hörerin von TV-Bildern inspirieren, die noch vor einer Woche Italiener (w/m) beim gemeinschaftstiftenden Intonieren ihrer Nationalhymne zeigten. Hierzulande singt man, wenn überhaupt, anders, nämlich EU-europäisch, ungeachtet der rundum - von Polen bis Luxemburg, von Dänemark bis nach Österreich - national geschlossenen EU-Binnengrenzen. Mal sehen, ob bei niedrigen Temperaturen und kaltem Wind sich Corona-gefährdete Europäerinnen und Europäer auf die Berliner Balkone wagen...
Die Menschen sind, égalité hin oder her, verschieden. In dem bereits erwähnen Supermarkt überreichte eine Kundin der Kassiererin eine Bonbonniere als Dank an die Belegschaft für ihr tapferes Ausharren in der Gefahrenzone. Die Preise für Nahrungsmittel wie Brot und lagerungsfähige Salami sind deutlich gestiegen. Hingegen sind die Regale mit Konfekt, Kaffee und Marmelade immerhin noch gut gefüllt, auch der Zeitungsständer neben der Kasse. Von dort fällt die große Bild-Überschrift ins Auge: "Söder: ´Gott schütze unsere Heimat!´" Söder, fränkischer Herkunft, liegt die bayerische Heimat besonders nahe. Das (schwierige) Vaterland ist in diesem unserem Lande irgendwann - während der rot-grünen Koaliton oder erst in der Ära Merkel? - außer Kurs gesetzt worden, auch aus Rücksicht auf die Gefühle von Tante Antifa.
Auch in Zeiten der Demokratie, gegründet auf das Prinzip der Volkssouveränität, bedarf es von Zeit zu Zeit des Appells an den Himmel. Und wenn das Parlament den Auftrag des Volkes nicht mehr erfüllt, sei appeal to Heaven sogar als erneuter revolutionärer Ausweg erlaubt, schrieb einst John Locke. Dieser war ein früher Deist und hielt deshalb sonst nicht viel von Gottes Intervention in die Geschichte der Menschheit oder eines Volkes. Wie es Söder, der nach Amtsantritt zum Entsetzen aller liberal und islamophil Aufgeklärten in allen Amtsstuben Kreuze aufhängen ließ, mit der Gnade Gottes hält, ist seine spezifisch evangelisch-lutherische Glaubensfrage.
In den USA gehört die Anrufung "God bless America!" zum politischen Tagesgeschäft. Anders in unserer - speziell in Berlin - rundum aufgeklärten Gesellschaft. Vor besagtem Edeka-Markt belehrte eine autochthon blonde Mutter ihren sechzehn- oder siebzehnjährigen Sohn mit einem Wutausbruch über den bayerischen Ministerpräsidenten (und mutmaßlichen Nachfolger Merkels) und dessen Hilferuf an den Himmel: "Der Markus Söder ist eine blöde Drecksau!" Wie bitte? "Ja, der Söder ist usw."
Fragen: 1) Wer schützt die empörte Bürgerin vor einer Infektion? 2) Wem schenkt sie bei den nächsten Wahlen ihre demokratische Stimme? 3) Wie schützt sich der Sohn gegen diese magna mater?
Samstag, 21. März 2020
Donnerstag, 19. März 2020
In eigener Sache: Nachtrag zu Corona
Nein, ich habe die TV-Rede der Kanzlerin an ihr Volk - am doppelten demokratischen Gedenktag des 18. März -, pardon an „die Bevölkerung“, nicht mit angesehen/angehört. Mir genügte der Auszug in der ARD-Tagesschau: Merkel sprach, was der/die Redenschreiber für den Teleprompter aufgeschrieben hatten: „Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt.“ Der Pleonasmus im erweiterten Relativsatz könnte sogar von Merkel selbst stammen.
Die FAZ (v.19.03.2020), nach der ich hier – das Adjektiv großgeschrieben - zitiere, schwächte das nach AfD-Phraseologie klingende Volksgemeinschaftspathos etwas ab, indem sie auf Seite 1 mit „Merkel: Größte Herausforderung seit 1945“ titelte. Gewiss, die Jüngeren – zu ihnen gehört selbst Angela Merkel (Jahrgang 1954) - haben keine so genaue Erinnerung an jene schlimmen Zeiten. So oder so – Inhalt und Ausstattung von Merkels Rede - mit dem Reichstag im Hintergrund und zwei großen Fahnen zu ihrer Linken - dürfte das Missfallen jener – für den Kampf gegen rechts gewöhnlich unentbehrlichen - radikaldemokratischen Gruppen (im Dienste von Tante Antifa) erregt haben, die bereits über indymedia dazu aufgerufen haben, den Corona-Shutdown für revolutionäre Zwecke zu nutzen.
Wir („wir“!) werden zu Ruhe, Besonnenheit und Solidarität aufgerufen. So richtig scheint der Appell nicht anzukommen. Als ich in dem nahegelegenen, überschaubaren kleinen Supermarkt ein älteres Paar bat, mich mit meinem Einkaufswagen vor den leergeräumten Regalen passieren zu lassen, erregte sich der Ehegatte (?), mich hätte wohl bereits die allgemeine Erregung ergriffen. Es gelang mir kaum, den aufgebrachten Kunden – immerhin ein gemäß conventional wisdom mit Selbstdisziplin ausgestatteter Deutscher asiatischer Herkunft – zu beschwichtigen.
Richtig, es gilt Ruhe zu bewahren. Deshalb möchte ich an dieser Stelle mitteilen, dass ich an der subversiven Suggestion „Coronavirus: Merkel rechnet mit 300 000 Toten“ unschuldig bin. Zwar freue ich mich, dass meine Globkult-Kommentare (zuletzt: Globkult v. 14.März 2020) auch andernorts erscheinen. Für die alarmierende Überschrift in „The European“ bin ich indes nicht verantwortlich, wie der entsprechende Link belegt: /https://www.theeuropean.de/herbert-ammon/predigten-in-zeiten-pandemischer-ungewissheit/
Im übrigen gilt es nachfolgenden Merkel-Merksätzen zu vertrauen: „Wir in Deutschland haben ein funktionierendes System der Existenzsicherung. Und das funktioniert auch weiter.“ Ob das System noch weiter funktioniert, wenn es die EU-Zentralbank – wie angekündigt - mit einer „Bazooka“ bearbeitet, bleibt abzuwarten.
Mittwoch, 4. März 2020
Update zu einer Eloge auf Trump
Vor ca. einer Woche
veröffentlichte ich auf Globkult die Besprechung eines
voluminösen, aber inhaltlich dürftigen Buches Donald Trump
https://globkult.de/politik/besprechungen/1856-doug-wead-donald-trump-die-wahre-geschichte-seiner-praesidentschaft.
Einleitend nannte ich den ehemaligen New Yorker Bürgermeister
Michael Bloomberg als den von demokratisch gesitteten Wählern der
middle class als Alternative zum neureichen Plebejer (und/oder
Populisten) Trump erhofften Kandidaten. Diese Hoffnung hat sich
erledigt. Nach dem Super Tuesday, der Joe Biden in den primaries
bei den Demokraten in Führung
gehen ließ, hat Bloomberg seine Kandidatur zurückgezogen. Mit hoher
Wahrscheinlichkeit wird somit der als gemäßigter Kandidat der
„Mitte“ (und des Parteiapparats der Demokraten) bekannte Biden
als Herausforderer Trumps auftreten.
Wie
die Wahlen im November 2020 ausgehen, ist somit wieder ungewiss.
Biden wird versuchen, über seinen sicheren Anhang bei der Mehrheit
von Afroamerikanern und Latinos hinaus die 2016 zu Trump
übergelaufenen Wähler der weißen Arbeiterschaft zurückzugewinnen.
Unklar ist noch, wie Bernie Sanders als enttäuschter campaigner
seine junge
Anhängerschaft künftig einstimmen wird.
Falls
das Corona-Virus nicht politisch paralysierend wirkt und
beispielsweise medienwirksame Massenversammlungen oder
Haus-zu-Haus-Besuche (canvassing) verhindert,
werden wir in den kommenden Monaten wieder ein unterhaltsames, von
Verdächtigungen, Suggestionen und Polemik erfülltes Wahlspektakel
erleben. Trump wird sein ganzes Repertoire an Pöbeleien und
Invektiven über „Ukraine Joe“ ergießen, die Demokraten werden
alte und neue Argumente - Sexist, Kryptorassist, Putin-Freund etc. -
finden, um den Amtsinhaber aus dem Weißen Haus zu befördern.
Dass
für amerikanische Wahlkämpfe die „Oktoberschlacht“
ausschlaggebend sein kann, wenn die die Wahlkampfteams mit
spektakulären Informationen über das Privatleben des Gegners in die
Offensive gehen, ist dem erwähnten Buch des Trump-Lobredners Douglas Wead zu
entnehmen. Im Falle Trumps, der anno 2016 mit Zeuginnen gegen
Hillarys Gemahl Bill aufwartete, erwiesen sich die Vorwürfe
mangelnder Moral als wirkungslos. Die von ihren republikanischen
Opponenten als „Dems“ verspotteten Demokraten werden sich also
etwas anderes einfallen lassen müssen.
Montag, 2. März 2020
"Radikalisierte Modernisierungsverlierer"
Lange habe ich gezögert, einen Kommentar zu den jüngsten mörderischen Taten von offenkundig mit Wahnideen beseelten Menschen zu schreiben. Hat es überhaupt noch Sinn, gegen den Strom der veröffentlichten Meinung zu schwimmen, für die stets von vornherein feststeht, dass nicht ein verwirrter Geist Menschen zu evident "sinnlosen" Schreckenstaten inspirieren kann, sondern dass dafür der "rechte" Ungeist, in concreto die AfD, verantwortlich ist? Selbst in der FAZ erstellten die Redakteure die erwünschte politische Diagnose, was indes erheblichen Protest in - immerhin veröffentlichten - Leserbriefen hervorrief (FAZ v. 27.02.2020, S. 7).
Für die politische Einordnung der Morde - und des Suizids - in Hanau war es offenbar ohne Belang, dass der Killer bereits im November 2019 eine Wahnbotschaft an den Generalbundesanwalt geschickt hatte, ohne dass dies zu einer Überprüfung des Betreffenden, eines Waffen besitzendenden Mitglieds in einem Schützenverein, geführt hätte. Reflexionen über das - dem Begriff entzogene - "Böse", das in einer offensichtlich kranken menschlichen Seele angelegt sein kann, sind für politische Publizistik offenbar ungeignet. Selbst in den Feuilletons ist für verstörende, in die Abgründe menschlicher Existenz zielende Betrachtungen kein Platz. Man überlässt derlei Themen lieber den en masse produzierten Horrorfilmen, die neben den tagtäglichen Krimis das Unterhaltungsbedürfnis gestresster Arbeitsmenschen befriedigen. Gehaltvolle, für politische Instrumentalisierung untaugliche Analysen sind allein bei der ungeliebten Konkurrenz der Internet-Zeitschriften zu finden. Ich verweise auf den als "Offenen Brief" übertitelten Aufsatz des Neuropsychologen und Psychiaters Wolfgang Meins auf der Achse des Guten: https://www.achgut.com/artikel/offener_brief_an_den_generalbundesanwalt_dr._peter_franke_zum_attentat_von_
Den Anstoß für diesen Kommentar zu derlei - mutmaßlich auch in Zukunft den Alltag westeuropäischer Gesellschaften akzentuierenden - Schreckenstaten gab eine Feuilleton-Kritik der Aufführung einer Adaption von Michel Houellebecqs Roman "Unterwerfung" in Mühlheim. Der Kritiker mokiert sich über die Figur des "modernemüden", opportunistisch vor dem Islamismus kapitulierenden Protagonisten bei Houellebecq. Er fügt daran folgende Schlusspointe: "Sein [des Negativhelden Francois] brutal realer Gegenpart aber sind die radikalisierten Modernisierungsverlierer in Halle und Hanau, die ihr Werk fernab der Theatertafeln verrrichten." Der 29jährige Amokfahrer, der am Rosenmontag im nordhessischen Volkmarsen zahllose Menschen - teilweise schwer - verletzte, gehört offenbar nicht zu den Modernisierungsverlierern. Auch ist über seine Radikalisierung bis dato nichts bekannt.
Für die politische Einordnung der Morde - und des Suizids - in Hanau war es offenbar ohne Belang, dass der Killer bereits im November 2019 eine Wahnbotschaft an den Generalbundesanwalt geschickt hatte, ohne dass dies zu einer Überprüfung des Betreffenden, eines Waffen besitzendenden Mitglieds in einem Schützenverein, geführt hätte. Reflexionen über das - dem Begriff entzogene - "Böse", das in einer offensichtlich kranken menschlichen Seele angelegt sein kann, sind für politische Publizistik offenbar ungeignet. Selbst in den Feuilletons ist für verstörende, in die Abgründe menschlicher Existenz zielende Betrachtungen kein Platz. Man überlässt derlei Themen lieber den en masse produzierten Horrorfilmen, die neben den tagtäglichen Krimis das Unterhaltungsbedürfnis gestresster Arbeitsmenschen befriedigen. Gehaltvolle, für politische Instrumentalisierung untaugliche Analysen sind allein bei der ungeliebten Konkurrenz der Internet-Zeitschriften zu finden. Ich verweise auf den als "Offenen Brief" übertitelten Aufsatz des Neuropsychologen und Psychiaters Wolfgang Meins auf der Achse des Guten: https://www.achgut.com/artikel/offener_brief_an_den_generalbundesanwalt_dr._peter_franke_zum_attentat_von_
Den Anstoß für diesen Kommentar zu derlei - mutmaßlich auch in Zukunft den Alltag westeuropäischer Gesellschaften akzentuierenden - Schreckenstaten gab eine Feuilleton-Kritik der Aufführung einer Adaption von Michel Houellebecqs Roman "Unterwerfung" in Mühlheim. Der Kritiker mokiert sich über die Figur des "modernemüden", opportunistisch vor dem Islamismus kapitulierenden Protagonisten bei Houellebecq. Er fügt daran folgende Schlusspointe: "Sein [des Negativhelden Francois] brutal realer Gegenpart aber sind die radikalisierten Modernisierungsverlierer in Halle und Hanau, die ihr Werk fernab der Theatertafeln verrrichten." Der 29jährige Amokfahrer, der am Rosenmontag im nordhessischen Volkmarsen zahllose Menschen - teilweise schwer - verletzte, gehört offenbar nicht zu den Modernisierungsverlierern. Auch ist über seine Radikalisierung bis dato nichts bekannt.
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