I.
Am 18. September 2016 wird in Berlin gewählt. Aus der Sicht des Bloggers bedürfte es nicht all des plakatierten Aufwands zur Mobilisierung des überwiegend passiven Souveräns, denn: das Ergebnis ist bereits abzusehen. Im Herbst - das genaue Datum richtet sich nach der Verhandlungsdauer über den neuen Koalitionsvertrag - kriegen die Berlinerinnen und B- (demokratisches Nullsuffix) eine neue Regierung. Der rot-schwarzen Koalition, so ist zu erfahren, erging es zuletzt wie einer langweiligen Ehe oder einer unter Dauerstress stehenden eingetragenen Partnerschaft: Sie hat sich "auseinandergelebt". Der Grund für die bevorstehende Trennung liegt in den üblichen Querelen, zuletzt in der Affäre um den CDU-Innensenator Frank Henkel. Dieser wollte sich mit der Räumung der seit Jahren von autonomen, mietfreien Lebens- und Gesellschaftsreformern besetzten Rigaer Straße 94 im linksgrünen Teilbezirk Friedrichshain als kompromißloser Rechtswahrer bei besorgten Berliner Bürgern einen Wahlbonus verschaffen.
Der Innensenator kam dem Wunsch des bis dato unbekannten Eigentümers der Immobilie Rigaer 94 - womöglich eine Diskretion bevorzugende Gesellschaft - nach, endlich für geordnete Rechtsverhältnisse zu sorgen und das Gebäude für gewinnbringende, aber auch wohltätige Zwecke zu restituieren. In einem Teil des Gebäudes sollten gemäß Merkels Peuplierungsprogramm - auf Senatskosten - Flüchtlingsmigrationsfamilien Herberge finden. Was der philanthropische Immobilienbesitzer für seine globalethische Pflicht halten mochte, stieß bei den sonst für Weltoffenheit bekannten Bewohnern ("Refugees welcome!" "No borders!" "Kein Mensch ist illegal!") offenbar auf ethnozentrisches Unverständnis. Jedenfalls scheiterte der Räumungsversuch am erbitterten Widerstand der bürgerlich-kapitalistischen Eigentumsbegriffen zutiefst abgeneigten, autonomen "Rigaer". Über die exakte Zahl der z.T. schwerverletzten Polizisten (gewöhnlich zwischen zwanzig bis hundert) ist der Blogger nicht im Bilde.
Für den Innensenator erwies sich die mißglückte Zwangsräumung noch in weiterer Hinsicht als kontraproduktiv, denn für die polizeiliche Durchsetzung von Rechtsnormen - sie stieß auch bei gentrifizierungsfeindlichen Nachbarn von "Riga 94" auf Unverständnis - fehlte die richterliche Anordnung. Mit Entrüstung mußte die Berliner Öffentlichkeit - selbst in den bürgerlichen Restvierteln - konstatieren, dass bei Henkels Aktion Recht nicht durchgesetzt, sondern übergangen wurde. Zur Erhellung der Gesamtproblematik: Soeben hat die grüne, bekennende
Bezirksbürgermeisterin Monika Hermann - gleichfalls aus Sorge um ihr nicht mehr ganz so alternatives Kreuzberger grünes Wahlvolk - die Räumung der
Gerhard-Hauptmann-Schule von den restlichen, dort seit ca. 18 Monaten
residierenden refugees angeordnet.
II.
Rot-Schwarz ist also am Ende. Mutmaßlich werden in den Berliner Wettbüros bereits Wetten über die Postenverteilung im prospektiven rot-rot-grünen Senat plaziert. Immerhin kommt es bei der Neubesetzung des Senats - weiterhin unter Führung des unter Berliner "Linken" als "rechter Sozialdemokrat" geltenden Regierenden Bürgermeister Michael Müller - auch auf die Sitzverteilung im Roten Rathaus und auf die Prozentzahlen bei den Wahlen an.
Demokratie darf nicht populistisch ausarten, aber sie soll "spannend" sein. Die spannende Frage am 18. September wird sein, mit welcher Zahl von Sitzen die AfD ins Rote Rathaus einzieht, um fortan auch in der Hauptstadt ihrer Rolle als Schlagzeilenlieferant für die Medien gerecht zu werden. Ob die FDP mit ihrer "klandestin rechten", an Bürgerängste appellierenden Parole "Wir organisieren Sicherheit statt organisiertes Verbrechen" (oder so ähnlich) wieder mal ins Stadtparlament kommt, ist alllenfalls arithmetisch, bezüglich der Sitzverteilung, von Belang. Und ob die ursprünglich aufs jugendfrisch digitale Publikum spezialisierten "Piraten" - dank ihrer womöglich von Draghis EZB inspirierten Wahlgleichung "Wissen verdoppeln durch Teilen!" und ihrer plötzlichen Besorgnis über wachsende Altersarmut - als Hilfstruppe der künftigen Koalition fungieren können, sei dahingestellt. Alle Zeichen stehen auf Rot-Rot-Grün und solide Regierungsverhältnisse, ungeachtet der unkorrigierbar expandierenden Kosten für den Airport BER, für die Staatsoper Unter den Linden, für "Projekte" aller Art etc.
III.
Scheint die Sache somit bereits entschieden, könnte der bloggende Wahlbürger aus spätbourgeoiser Bequemlichkeit geneigt sein, auf den Sonntagsurnengang oder die Briefwahl zu verzichten. Auch sein Gewissen als citoyen bliebe gänzlich unbeunruhigt, gäbe es da nicht den Wahl-O-Mat, der ihn zu demokratischer Verantwortung ruft.
Es handelt sich um ein digitales Geduldspiel, welches, 1989 in den Niederlanden ersonnen, anno 2002 von der Bundeszentrale für politische Bildung per Lizenz erworben wurde. Für die Wahl am 18. September hat sich der Chef der Berliner Bildungszentrale zusammen mit einem Team von "engagierten" Jungwählern (Alter 18-26 Jahre) ein Puzzle ausgedacht, das sich aus 38 Thesen und 21 Parteien, d.h. den laut Wahlgesetz teilnahmeberechtigten Parteien, Sekten und Partikeln, zusammensetzt.
Der mündige Spieler-Bürger kann jeweils aus drei Antworten ("Stimme zu" - "neutral" - "Stimme nicht zu") eine wählen, die Frage überspringen oder doppelt gewichten. These Nummer 1 lautet: "Private Wohnungen sollen vollständig als Ferienwohnung vermietet werden dürfen". Die These gehört zu den "sozialen Themen", die laut Thomas Gill, dem Berliner Bildungschef, den Wählern besonders am Herzen liegen. Entsprechend heißt es in These 2: "Berlin soll weitere Flüchtlinge aufnehmen". These 3 zielt auf ein anderes Berliner Herzensanliegen: "Alle Spätverkaufsstellen (´Spätis´) sollen auch sonntags öffnen dürfen." (Die These orientiert sich offenbar an den wahlrelevanten Alkoholbedürfnissen Berliner Pastoren.) An für den Wahlausgang mutmaßlich weniger entscheidende Kunstbeflissene richtet sich These 7: "Freier Eintritt an allen staatlichen Museen Berlins!"
Dank der Schlichtheit der Fragen - sie erinnern an gewisse Techniken der politischen Soziologie (s. https://herbert-ammon.blogspot.de/2016/06/german-polspeak-and-german-empirical.html) - könnte der engagierte Bürger geneigt sein, jede der Thesen zu "überspringen". Überdies müßte er sich vorab die Mühe machen, sämtliche Verlautbarungen der erwähnten 21 Parteien zu analysieren, um sodann seine Wahl-O-Mat-Entscheidung zu treffen. Unter den Spielelementen tauchen Bezeichnungen wie die "Grauen Panther", "Die Violetten", Tierschützer, Gesundheitsforscher, eine "Bergpartei" [etwa Nachfahren der Montagnards? - H.A.] sowie Kürzel wie ALFA, PSD, DKP [lebt noch] BüSo usw. auf. Nur Kenner der Materie, beispielsweise von Berufs wegen damit befaßte Verfassungsschützer, sind mit den Etiketten vertraut. BüSo steht für die "Bürgerrechtsbewegung Solidarität". Für Berlin fordert BüSo "u.a. die Integration der Stadt in die
Bewegung der Neuen Seidenstraße und die Aufgabe des Hauptstadtflughafens
BER". Gewiß doch, für und gegen den Fortschritt kämpft seit Jahrzehnten Helga Zepp-LaRouche, Ex-Trotzkistin und Gattin des Texas-Milliardärs Lyndon La Rouche. PSG steht - wie auch anders - für "Partei Soziale Gerechtigkeit". Es handelt sich um einen unverzagt für Menschen-, nicht so sehr für Bürgerrechte kämpfenden, die Weltrevolution samt Weltfrieden ansteuernden Trupp von Trotzkisten.
IV.
Damit sich ein Wahl-O-Mat-Spieler nicht überfordert fühlt, hat die Bildungszentrale seine Wahlmöglichkeiten vorsorglich auf acht Parteien eingeschränkt. In einem Artikel der "Berliner Morgenpost" (v. 03.08.2026, S. 10) erfahren wir, dass das demokratische Gewinnspiel vor allem bei Jungwählern beliebt sei. Kein Wunder, denn in These 20 geht´s um den Anbau von Cannabis für den Eigenbedarf, in These 25 um Genderstudien (mutmaßlich mit garantiertem Master/Mistress-Abschluß), außerdem um Projekte gegen (nicht für) Rechtsextremismus sowie um "Wählen ab 16 Jahre!" (leider vorerst nur fürs Berliner Abgeordnetenhaus).
Der bei der Herstellung des Berliner Wahl-O-Mat mitwirkende Christian Stärk (22 J.) steht zu seinen demokratische Überzeugungen: "Ich fand es wichtig, dass die Themen nah dran waren an der Lebenswelt der Jugendlichen." Aus politischer Verantwortung testeten auch Berliner Spitzenpolitiker die Chancen ihrer Partei vermittels der Wahl-O-Mat-Lotterie. Der Justizsenator Thomas Heilmann (CDU) erzielte ansehnliche 91,3 Prozent Übereinstimmung mit den Präferenzen seiner Partei, verwies jedoch zur Erklärung seiner weitreichenden Sympathien (76 Prozent) für Aussagen der AfD auf deren "heuchlerisches Programm". SPD-Chef Raed Saleh erreichte immerhin 98,8 Prozent. Knapp darunter lag der "Piraten"-Chef mit 93,5 Prozent, und dies gleich doppelt. Er gewann mit demselben Ergebnis bei der PSG. Dank demokratischer Standfestigkeit gelang dem bekennenden Klaus Lederer, Vorsitzender der Berliner "Linken", ein hundertprozentiger Gewinn. Einen Treffer von 100 Prozent erzielte auch der Grünen-Chef Wesener. Zur Vervollständigung des junggrün ausgestatteten Wahl-O-Mats hätte er sich indes noch "eine Frage zum Radverkehr gewünscht."
Für alle Nutzer im Netz: Das Spiel ist etwas zeitraubend, aber egal - jeder Demokrat kann gewinnen. Gewonnen hat auf jeden Fall der Lizenzgeber.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen