I. Womöglich habe ich mich geirrt, und der Grexit findet - gänzlich losgelöst vom Ausgang des von Tsipras prestissimo angesetzen Referendums - doch noch statt. So oder so führt mutmaßlich kein Weg an einem Schuldenschnitt vorbei, andernfalls droht das Abdriften der Hellenen in Richtung Putin. Das gilt es mit allen Mitteln, mit politischem Druck und finanzieller Nothilfe, zu verhindern. Immerhin: die EU als unantastbare Werteunion hat - nicht nur im Gefolge der Griechenland-Krise - einige Kratzer bekommen.
Wir müssen vorerst den Dingen ihren Lauf lassen. Am morgigen 30. Juni 2015 geht´s ins Endspiel: Im Falle der Verweigerung einer weiteren Milliardenspritze scheint der Staatsbankrott in Athen unausweichlich. Sodann - falls Tsipras sich die Sache nicht noch mal überlegt - steht am Wochenende das Referendum ins Haus. Das Volk der Hellenen darf - wie dereinst die Männer von Athen - über das für ihre politeia Gute oder das für Europa Schlechte entscheiden - oder auch umgekehrt
II. Ja, verkünden die Spitzeneuropäer, die Griechen dürfen ihrer Verfassung gemäß per Referendum über ihre Zukunft entscheiden. Es gehe dabei ja auch nicht um Grexit Ja/Nein, sofern in den EU-Verträgen ein Austritt aus der Währungsunion gar nicht vorgesehen ist. Andererseits hätten die Griechen ein Referendum über ihre Liebe zu Europa samt Euro schon in einer früheren Phase, irgendwann zu Beginn der Finanzkrise, bekunden sollen. Jetzt komme das Referendum - vom Wortlaut mal abgesehen - jedenfalls zu spät, zu überstürzt ohnehin.
Man sieht: Die Eliten - alle, die dazu gehören und/oder dazugehören wollen - tun sich schwer mit Begriff und Praxis der direkten Demokratie. Vor zwei Wochen, als die "doch so katholischen Iren" per Volksabstimmung (60 : 40 bei 60 % Wahlbeteiligung = 36 % des Wahlvolks, id est des "Volkes") für die bedingungslose Home-Ehe votierten, zeigten sich die Interpreten der Demokratie positiv überrascht, ja enthusiasmiert, und attestierten dem populus Hiberniae demokratische Reife, ohne dass irgendwo die Vokabel "Populismus" zu hören war.
Insbesondere die ehedem "basisdemokratischen" Grünen erweisen sich von Mal zu Mal (s. Irland-Referendum) als Meister des demokratischen Doppelspiels: Wo es politisch in den Kram passt, zeigt man sich dem Prinzip der direkten Demokratie durchaus aufgeschlossen, ja geradezu verpflichtet. Da im übrigen jedoch bei den Profis der Parteien das "Volk" im Verdacht steht, anders zu denken und anderes zu wollen als sie selbst, lehnt man bei allen anderen Fragen die Befragung des "Volkes", des von populistischen Parolen allzu leicht verführbaren Wahlvolkes (sonst apostrophiert als "unsere Wählerinnen und Wähler") aus tiefstinnerster Überzeugung ab.
Was - mit oder ohne Bezug auf Art.20, 2 GG - dem Volk zur Abstimmung überlassen bleiben soll, bestimmt letztlich die classe politica in eigener Regie. Im richtigen Umgang mit dem Prinzip eignen sich fürs Volk Fragen wie "Flughafen Tempelhof Ja/Nein", Randbebauung des aufgelassenen Flughafens Ja/Nein, Tempo 30 in meiner Wohnstraße Ja/Nein u. dergl. Spätestens bei der Frage nach der ein paar Zehntausende (?) Euro erforderlichen Umrüstung der Verkehrsampeln von - derzeit noch sexistisch ausschreitenden Männekens - auf lesbisch-grüne Ampelmännchen hört die radikaldemokratische Bereitschaft zur Befragung des Volkes auf. So verfährt man stets richtig, ja souverän mit dem Souverän.
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