Montag, 29. Juni 2015

Vom richtigen Umgang mit direkter Demokratie

I. Womöglich habe ich mich geirrt,  und der Grexit findet - gänzlich losgelöst vom Ausgang des von Tsipras prestissimo angesetzen Referendums - doch noch statt. So oder so führt mutmaßlich kein Weg an einem Schuldenschnitt vorbei, andernfalls droht das Abdriften der Hellenen in Richtung Putin. Das gilt es mit allen Mitteln, mit politischem Druck und finanzieller Nothilfe,  zu verhindern. Immerhin: die EU als unantastbare Werteunion hat - nicht nur im Gefolge der Griechenland-Krise - einige Kratzer bekommen.

Wir müssen vorerst den Dingen ihren Lauf lassen. Am  morgigen 30. Juni 2015 geht´s ins Endspiel: Im Falle der Verweigerung einer weiteren Milliardenspritze scheint der Staatsbankrott in Athen unausweichlich. Sodann - falls Tsipras sich die Sache nicht noch mal überlegt - steht am Wochenende das Referendum ins Haus. Das Volk der Hellenen darf - wie dereinst die Männer von Athen -  über das für ihre politeia  Gute oder das für Europa Schlechte  entscheiden - oder  auch umgekehrt

II. Ja, verkünden die Spitzeneuropäer, die Griechen dürfen ihrer Verfassung gemäß per Referendum über ihre Zukunft entscheiden. Es gehe dabei ja auch nicht um Grexit Ja/Nein, sofern in den EU-Verträgen  ein Austritt aus der Währungsunion gar nicht vorgesehen ist. Andererseits hätten die Griechen ein Referendum über ihre Liebe zu Europa samt Euro schon in einer früheren Phase, irgendwann zu Beginn der Finanzkrise, bekunden sollen. Jetzt komme das Referendum - vom Wortlaut mal abgesehen - jedenfalls zu spät, zu überstürzt ohnehin.

Man sieht: Die Eliten - alle, die dazu gehören und/oder dazugehören wollen - tun sich schwer mit Begriff und Praxis der direkten Demokratie. Vor zwei Wochen, als die "doch so katholischen Iren" per Volksabstimmung (60 : 40  bei 60 % Wahlbeteiligung = 36 % des Wahlvolks, id est des "Volkes") für die bedingungslose Home-Ehe  votierten, zeigten sich  die Interpreten der Demokratie positiv überrascht, ja enthusiasmiert,  und attestierten dem populus Hiberniae demokratische Reife, ohne dass irgendwo die Vokabel "Populismus" zu hören war.

Insbesondere die ehedem "basisdemokratischen" Grünen erweisen sich von Mal zu Mal (s. Irland-Referendum) als Meister des demokratischen Doppelspiels: Wo es politisch in den Kram passt, zeigt man sich dem Prinzip der direkten Demokratie durchaus aufgeschlossen, ja geradezu verpflichtet. Da im übrigen jedoch bei den  Profis der Parteien das "Volk"  im Verdacht steht, anders zu denken und anderes zu wollen als sie selbst, lehnt man bei allen anderen Fragen die Befragung des "Volkes", des von populistischen Parolen allzu leicht verführbaren Wahlvolkes (sonst apostrophiert als "unsere Wählerinnen und Wähler") aus tiefstinnerster Überzeugung ab.

Was - mit oder  ohne Bezug auf  Art.20, 2 GG -  dem Volk zur Abstimmung überlassen bleiben soll,  bestimmt letztlich die classe politica in eigener Regie. Im richtigen Umgang mit dem Prinzip eignen sich fürs  Volk  Fragen wie "Flughafen Tempelhof Ja/Nein", Randbebauung des aufgelassenen  Flughafens Ja/Nein, Tempo 30 in meiner Wohnstraße Ja/Nein u. dergl. Spätestens bei der Frage nach der ein paar Zehntausende (?) Euro erforderlichen Umrüstung der Verkehrsampeln von  - derzeit noch sexistisch ausschreitenden Männekens -   auf  lesbisch-grüne Ampelmännchen hört die radikaldemokratische Bereitschaft zur Befragung  des Volkes auf. So verfährt man stets richtig, ja  souverän mit dem Souverän.

Montag, 22. Juni 2015

Globkult etc: Von Fluch und Segen des Internet

Liebe community,

um den Level (m.,  aus welchen Gründen neudeutscher Grammatik auch immer; s.a. -s Niveau,  -r  Pegel, -e Frequenz ) der Blogaufrufe stabil zu halten, sieht man sich kontinuierlich zu Einträgen genötigt, auch wenn einem bei der Frühstückslektüre und dem Politalltag  - die ewige Wiederkehr des Gleichen - nichts mehr einfällt. Es muss gebloggt/ruminiert werden.

So bitte ich hinsichtlich der nachfolgenden, banal anmutenden  Bemerkung über Fluch und Segen des Internet um Nachsicht. Das globale Medium bereitet Ärger, wenn der Google-Konsument - stets wird er von Yahoo! animiert, die Konkurrenz-Suchmaschine als dauerhaften Zugang zum weltweiten Wissen www. einzurichten und Google auszustechen -  auf Einträge und Bilder ("Unangemessene Bilder melden" "Wir danken für die Rückmeldung") stößt, die geeignet sein könnten,  das  global-positive Erscheinungsbild des Bloggers zu lädieren. Wie kann ich mich dagegen wehren, dass in der mir ad libitum  zugeordneten  Bilderfolge auch die düstere Physiognomie des adligen Namensvetters und Nazi-Schreibtischtäters Wilhelm von Ammon erscheint? Jeglicher Kampf gegen die digitale Verdächtigung wäre vergeblich.

Ärger kocht hoch, wenn der Blogger per Zufall auf geistigen Diebstahl stößt. Da hat irgendein(e) obskure(r) Volksaufklärer(in) meinen Iablis-Essay  "Geopolitik -zur Wiederkehr eines verloren geglaubten Begriffs im 21. Jahrhundert" schlichtweg kopiert und ohne jegliche Quellenangabe als eigenes Gedankenprodukt zur Weltlage ins Netz gestellt. Nach Auskunft von Juristen dürfte ein rechtliches Vorgehen gegen den/die ruchlosen Diebe "schwierig" sein. Da bleibt eben nur der Ärger, dazu ein hilfloser Fluch.

Anlass zu Freude gibt danach eine weitere Entdeckung im www.: Das mir bis dato unbekannte Portal bssb.de veröffentlichte am 19. 06.2015  unter der Rubrik Baltic-Black-Sea Texts mit Quellenangabe und Namensnennung den ersten Teil meines Globkult-Aufsatzes "Aus historischer Distanz - eine Kritik zur Vernünftigkeit des Wirklichen" unter dem Titel "Eine Kritik der Vernünftigkeit des Wirklichen".

Bei derlei unerwarteter Beglückung will ich gerne darüberhinwegsehen, dass der/die Betreiber des Portals es weder mit den von ihnen selbst beanspruchten Urheberrrechten noch mit der Grammatik so genau nehmen. In einem schwarzen Kasten heißt es:
  © bssb.be Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Website darf ohne schriftliche Genehmigung des Autors weder kopiert, noch verändert und auf anderen Web-Sites verwendet werden.

Was immer das Interesse von bssb.be erweckte, ich möchte die Leser der "Unz(w)eitgemäßen Betrachtungen" bei dieser Gelegenheit auf meinen letzten Globkult-Beitrag hinweisen, sofern sie ihn dort  nicht bereits gelesen haben: "Aus historischer Distanz: Eine Kritik der Vernünftigkeit des Wirklichen".



Freitag, 19. Juni 2015

Europäische Manöver

In den Feuilletons ging es dieser Tage um die letzte große Schlacht und Niederlage des Empereur bei Waterloo/Belle Alliance/Mont Saint Jean. Napoleons spezifisches Konzept zur Einigung Europas – so seine auf Sankt Helena konzipierte Selbstinterpretation – war an den Mächten Europas, de facto bereits am 22. Juni 1812 beim Angriff auf die zuvor noch verbündete europäische Großmacht Russland, gescheitert. Auf dem Wiener Kongress schufen die souveränen Mächte (einschließlich des besiegten Frankreichs) jene Friedensordnung, die ungeachtet mancherlei Erschütterungen, trotz diverser Revolutionen, trotz Krimkrieg, trotz der italienischen und deutschen Einigungskriege, insgesamt bis 1914 Bestand hatte.

Spätfolgen der von den „Schlafwandlern“ (Chistopher Clark) im August 1914 losgetretenen Katastrophe treten derzeit erneut in der Griechenlandkrise sowie in der Ukrainekrise hervor. Während Tspiras, angeblich ideologisch befeuert von seiner kommunistisch sozialisierten Jugendliebe und Lebensgefährtin, erneut nach Moskau reist, um Putins Unterstützung im Kampf gegen die antihellenische Verschwörung von Troika, Brüssel und Wolfgang Schäuble zu gewinnen, spielen einige Nato-Staaten (einschließlich deutscher Bundeswehr) auf dem dank der historischen Wechselfälle des 20. Jahrhunderts von Polen akquirierten preußisch-deutschen Militärgelände bei Sagan, Niederschlesien, Manöver. Die Blauen, die Verteidiger, also die Guten, sind naturgemäß in der Nato, wer der Feind, also die Roten oder die Bösen, sein soll, ist unschwer zu erraten. Im Gegenzug führen die  bösen Russen zusammen mit den derzeit wieder zweckverbündeten Chinesen ein Seemanöver im östlichen Mittelmeer vor.

Wenn Tspiras sich enger mit Putin liierte und dies die transatlantische community „nachhaltig“ erschüttern würde, dürfte am 30. Juni 2015, wenn erneut eine griechische Zinsrate fällig wird und/oder  der Staatsbankrott droht, ein weiterer Kredit/de facto Schuldenschnitt nachgeschoben werden. Den Grexit als beste Notlösung des Problems fordern nach wie vor nur ein paar ungeliebte Ökonomen wie Hans-Werner Sinn, andere halten mit Verve dagegen. Die Wissenschaft von der political economy gleicht wieder mal dem „schwarzen Schwan“. Man weiß nie, in welche Richtung er/sie schwimmen wird.

Eine Wette auf Euro oder Drachme möchte der Blogger nicht abschließen. Sein sensus politicus sagt ihm, dass die Wertegemeinschaft ein paar weitere Milliardenwerte für Hellas locker machen wird, „whatever it takes“(Draghi). Was irritiert, ist der Umgang unserer "Eliten“ mit dem Thema. Kaum einer spricht vom (macht-)politischen Kern der Sache. Von der komplexen ökonomischen Materie dürften ohnehin die meisten nicht allzu viel verstehen. Man hält sich lieber an die Experten – oder an die Medien. Die Experten wiederum denken nicht bloß ökonomisch, sondern eben auch politisch (s.o.)

Dem mündigen Bürger (und Steuerzahler) bleibt die Rolle des gequälten Zuschauers im neudeutschen Regietheater. Zum Amüsement gereicht immerhin der Auftritt der grünen Ko-Vorsitzenden Göring-Eckardt. Die unvollendete Theologin zeigt sich entrüstet, dass Bundeskanzlerin Merkel in diesen Euro-kritischen Tagen nicht ihren alternativlosen Standardsatz der letzten Jahre („Scheitert der Euro, scheitert Europa“) wiederholt hat. Doch vernimmt man aus der grünen Ecke auch noch andere Worte. Jürgen Trittin, ehedem "linke" Führungsfigur im engeren grünen Machtzirkel mit Aspirationen aufs Finanzministerium,  warnte angesichts des letzten Nato-Manövers vor der in Washington angekündigten Stationierung neuer Waffen - und Militäreinheiten? - in Ost- und Südosteuropa.

Montag, 15. Juni 2015

Notizen zum Berliner Richtfest sowie zu "Memories of Dachau"

I.
Das Berliner Schloss, in deutsch-kosmopolitischer Absicht zum Humboldt-Forum  erhoben, feierte vorgestern, Samstag, den 14.Juni 2015, sein Richtfest. Wenngleich der hellgraue Betonrohbau derzeit noch mehr durch massige Wucht denn durch schlichte Schönheit  beeindruckt, lässt er die erneuerte Barockgestalt immerhin schon erahnen. Und selbst jene, die sich mit historisch-ästhetischen Argumenten, genauer: aus ideologisch höchst unterschiedlichen Motiven gegen Francesco Stellas Rekonstruktion des Hohenzollern-Schlosses gesperrt haben,  müssen  eingestehen, dass die von der deutschen - nicht ausschließlich preußisch-deutschen -  Geschichte malträtierte Hauptstadt dabei ist, ihr Zentrum und Gesicht wiederzugewinnen.

Das Ziel des  Bloggers war am vergangenen Samstag indes nicht der große Publikumsauftrieb zur Bekränzung der von einem anyonymen Spender ermöglichten Kuppel des Betonbaus, sondern eine weniger spektakuläre Attraktion: das Monbijoutheater gegenüber dem Bodemuseum. Der als Freilichttheater konstruierte kleine Holzbau, mit nach oben gezogenen Zuschauerrängen  samt pit in der Mitte, mit einer  kleinen Bühne sowie der für Balkonszenen aller Art nutzbaren Galerie auf der Rückseite, ist  nicht zufällig Shakespeares Globe Theatre nachempfunden. Über dem mit rotem Plüsch verhängten Eingang ist eine mutmaßlich aus Plastik   "getriebene" Plakette mit dem Porträt des Dichters angebracht. Die kleine Theatertruppe -  ohne die Biertheke nebenan wären die Einnahmen gewiss noch bescheidener - spielt  mit derbem Enthusiasmus vornehmlich Shakespeares Komödien, demnächst indes auch Hamlet.

Auf dem Programm stand  Molières "Tartuffe", in deutsch verfremdeter (oder reformgemäß aktualisierter) Schreibweise "Tartüff". Pünktlich um 19.30 quälte sich eine mit prächtig rotem Kostüm  ausstaffierte Figur die hinteren Stufen zur Bühne hoch. Doch aus dem  Fest klassischer Komik wurde nichts. Als der längst dräuende Wolkenbruch  losbrach, fiel das Stück ins Wasser. Abbruch, Karten gültig für eine spätere Vorstellung!

II.
Die Flucht vor den Fluten führte in die Hackeschen Höfe. Dort war, terminlich gerade noch erreichbar,  in einem der Kinos  "Desert Inspiration" angekündigt. Der Film spiegelt die  Impressionen des Gypsy-Jazz-Gitarristen Lulo Reinhardt  von einer Reise zu den Berbern im Südosten Marokkos sowie von seiner Begegnung mit dem Musikerkollegen und Freund Cherif el Hamri.

Der Film zeigt die Wahrnehmungen des sich einer Nomaden-Kultur zurechnenden Reinhardt - er erinnert sich an  seine Kindheit im Wanderzirkus seiner Familie sowie an die Erzählungen der Alten - in der im Umbruch zur "Moderne", zur technisch-digitalen Gegenwart, begriffenen Lebenswelt der Bewohner der Wüstenregion. Was  die mit ihren Herden umherziehenden Hirten betrifft, so ist ihre Lebensweise nach wie vor die von Nomaden. Für die Bauern aus  der kleinen Oasenstadt Agdzh - mit einer unlängst restaurierten Kasbah -, die Reinhardt bei ihrer Feldarbeit in einer palmería angetroffen hat, scheint  der Begriff schwerlich  anwendbar. Immerhin sprach der  mit der Restauration betraute Historiker und  Architekt davon, das Innere der weitläufigen Burg (=Kasbah), wo die Räume ineinander übergehen und beliebig genutzt werden konnten, sei der Anordnung  von Nomadenzelten  nachgebildet.

In Azgdh findet seit einigen Jahren ein Musikfestival mit Gästen aus aller Welt statt. Die Freundschaft mit Cherif el Hamri, Musiker, Instrumentenbauer und Kalligraph, entstand bei solcher Begegnung. In der Berbern der Wüstenregion glaubt der Besucher Lulo Reinhardt  noch den  Einklang ihrer Existenzweise mit der Natur zu erkennen - eine Harmonie,  die  ihren Ausdruck in Musik und Tanz finde. Ob der ursprünglich religiöse Charakter der Tänze der Berbergemeinschaften mit dieser Deutung  getroffen wird, mag offenbleiben. Nicht anders sind  Zweifel angebracht, ob die von Reinhardt angenommene Synthese von Tradition, Popmusik und Handy-Moderne tatsächlich stattfindet und Frucht tragen wird.

III.
Statt einer bloßen Filmvorführung war vorweg jedoch ein Konzert mit Lulo Reinhardt, dem Großneffen des "großen" Django Reinhardt, zu erleben. Er spielte die Guitarre - sowie ein ihm von El Hamri  geschenktes Instrument  - teils solo, teils im Konzert mit El Hamri sowie einem Rhythmus-Instrumentalisten. In leicht rheinhessischem Tonfall gab der Künstler zu seinen Stücken - die  Motive durchziehen auch den Film  "Desert Inspiration"  - einige Erläuterungen.

 "Memories of Dachau" lautet der Titel von fünf Kompositionen, die  Lulo Reinhardt seinem Onkel gewidmet hat. Der Onkel, so war zu hören, kämpfte "unter Rommel bei El Alamein". Danach, offenbar  auf Heimaturlaub,  erhielt er ein Schreiben mit der Aufforderung  zum Erscheinen bei einer Dienststelle. Statt der erwarteten Ordensverleihung wurde er von zwei SS-Schergen  verhaftet und nach Dachau deportiert.

Wirklichkeit und Vorstellung eines Konzentrationslagers legten eine Komposition in Moll nahe, so Reinhardt. Diese fünf Stücke habe er jedoch in Dur geschrieben. Sein Onkel und seine Eltern hätten überlebt, die Dankbarkeit darüber habe er in Dur ausgedrückt. Doch seien auch  Passagen in Moll eingestreut...