Im
Gedenkjahr 2015: Zur Dialektik der Befreiung
I.
Gedenken vor dreißig Jahren
Die 70jährige Wiederkehr des Kriegsendes zum diesjährigen 8. Mai
2015 ist in Deutschland und anderen europäischen Ländern, in
Russland zum 9. Mai („Tag des Sieges“), wie gewohnt Gegenstand
großen Gedenkens. Tenor und Schwerpunkte der Gedenkreden haben sich
über die Jahrzehnte gewandelt. Seit der als „historisch“
klassifizierten Rede, gehalten am 8.Mai 1985 von Bundespräsident
Richard von Weizsäcker im Bonner Bundestag, steht das Faktum der
Befreiung von den Schrecken des Nationalsozialismus im Mittelpunkt
der geschichtspolitisch angestrebten kollektiven Erinnerung.
Übersehen wird heute der Satz in der Weizsäcker-Rede, der 8. Mai
sei für die Deutschen kein Tag zum Feiern. (Adnote: In seinem Aufsatz zur Geschichte des Gedenkens zum 8. Mai erwähnt der FAZ-Redakteur Rainer Blasius ("Bonn und der 8. Mai", in: FAZ v. 11.05.2015, S..6), dass Weizsäcker ursprünglich in seiner Rede einen Appell zur Begnadigung von Rudolf Heß vorgesehen hatte. Dieser Passus wurde vor allem aufgrund der Intervention seines Pressesprechers Friedbert Pflüger aus dem Manuskript gestrichen. Ob die Alliierten der Begnadigung von Heß zugestimmt hätten, ist fraglich. Im gegebenen Falle wäre es nicht anno 1987 zum Selbstmord des "lebenslänglich" in Berlin-Spandau einsitzenden 94jährigen Heß gekommen. Darüberhinaus wären uns die spektakulären Neonazi-Aufmärsche am - später eliminierten - Grab des mit seiner "Friedensmission" gen Großbritannien im Mai 1941 gescheiterten Hitler-Stellvertreters erspart geblieben.)
Der im dritten Teil des nachfolgenden Gedenkartikels präsentierte Aufsatz „Zur
Dialektik der Befreiung“ ist dreißig Jahre alt.
Gewisse Pointierungen, gezielt auf ein politisch „linkes“ Umfeld,
reflektieren den historisch-politischen Kontext der frühen 1980er
Jahre – vier Jahre vor dem Berliner Mauerfall - und mögen
heutigen Lesern antiquiert erscheinen. Manche Akzente – etwa
hinsichtlich der historischen Rolle der Arbeiterbewegung – würde
ich heute anders setzen. Gegenüber derheute vorherrschenden Tendenz, in den Gedenkreden die Kosten der Befreiung, sprich die menschlichen Leiden, auszublenden, würde ich den Aspekt individueller Leidenserfahrung und Verluste, die in begrifflichen Abstraktionen - wie etwa in der "Dialektik der Befreiung" - nicht zur Geltung kommen, noch stärker betonen.
Der Aufsatz – ehedem vor Erfindung des Internet unter Zeitdruck entstanden - enthielt auch einige ungenaue Details. Die zentrale Aussage zur „Dialektik der Befreiung“ hat indes nichts an Relevanz eingebüßt – weder im Rückblick auf die Realität des Jahres 1945 noch im Blick auf die anno 2015 immer deutlicher hervortretenden historischen Ungewissheiten.
Der Aufsatz – ehedem vor Erfindung des Internet unter Zeitdruck entstanden - enthielt auch einige ungenaue Details. Die zentrale Aussage zur „Dialektik der Befreiung“ hat indes nichts an Relevanz eingebüßt – weder im Rückblick auf die Realität des Jahres 1945 noch im Blick auf die anno 2015 immer deutlicher hervortretenden historischen Ungewissheiten.
Mein Aufsatz erschien 1985
auf Anfrage der Redaktion des Deutschen Freidenker-Verbandes - eine
ehedem bedeutsame, ins materialistische 19. Jahrhundert
zurückreichende, atheistische Strömung der deutschen
Arbeiterbewegung - im Freidenker Magazin (5.Jgg., nr. 2,
April-Juni 1985, S. 6-8)). Den Rang dieser außerhalb ihres Umkreises
mutmaßlich unbekannten Zeitschrift wird kaum jemand überschätzen.
Nichtsdestoweniger erweist sich das Heft mit dem Titel „Befreiung,
Niederlage oder »Stunde
Null«? Ende oder
Neuanfang der Arbeiterbewegung?“ im Hinblick auf die
deutsche „Gedenkkultur“, genauer: die Vergegenwärtigung der
Verbrechen des NS-Regimes und des darauf ausgerichteten
Geschichtsbildes der Bundesrepublik Deutschland,
als vielschichtiges, zeitgeschichtlich aufschlussreiches
Dokument.
II.
Gedenkartikel anno1985 zum 8. Mai 1945
Heinz Brandt:
Die Zeitschrift enthält ein Interview des Herausgebers Theo Schneid
mit Heinz Brandt (1909-1986), einem der Mitgründer der „Grünen“.
In dessen Biographie erscheint die deutsche Geschichte des 20.
Jahrhunderts wie in einem Brennspiegel. Aus einer deutsch-jüdischen
Familie in Posen stammend, schloss sich Heinz Brandt als Student der
Volkswirtschaftslehre in Berlin 1931 der KPD an. Dem
nicht-stalinistischen Flügel zugehörig, trat er als „Versöhnler“
für das Bündnis aller sozialistischen Kräfte gegen den
vordringenden Nazismus ein. Wegen Widerstandsaktivitäten 1934 zu
sechs Jahren Zuchthaus verurteilt, kam er nach Strafverbüßung 1940
ins KZ Sachsenhausen. Ab 1942 Häftling in Auschwitz, gehörte er
dort zu den Organisatoren des Widerstands im Lager. Beim Heranrücken
der Roten Armee im Januar 1945 von der SS „evakuiert“, gelangte
er nach Buchenwald. Dort erlebte er am 11. April die - von den
Kommunisten später als „Selbstbefreiung“ mythisch überhöhte –
Befreiung. „Denn unsere kleine Erhebung, die ja gar nicht so
gewaltig war, wie nachher in der Geschichtsklitterung der SED
glorifiziert wurde, diese kleine Erhebung war ja nur möglich auf der
Grundlage des Heranrückens der amerikanischen Armee.“ (S.9)
Als unabhängiger Kommunist glaubte Brandt an die historische Chance
des Aufbaus eines „neuen“ Deutschlands in der Sowjetischen
Besatzungszone und in der DDR. Seine Hoffnungen sah der
Ulbricht-Gegner schon vor dem 17. Juni 1953 enttäuscht. Nach dem die
Entstalinisierung signalisierenden XX. Parteitag der KPdSU im Februar
1956 fuhr Brandt, SED-Bezirkssekretär in Ost-Berlin, nach Moskau, um
Aufklärung über das Schicksal seiner Geschwister zu erlangen. Sein
Bruder war während der stalinistischen Säuberungen zu Tode
gekommen, seine Schwester nach Sibirien verbannt worden.
In jenem Jahr knüpfte Brandt Kontakte zum Ost-Büro der SPD. Im
September 1958 flüchtete er vor drohender Verhaftung nach
West-Berlin. Im Juni 1961, zwei Monate vor dem Mauerbau,
wurde er nach Ost-Berlin entführt und 1962 zu dreizehn Jahren
Zuchthaus verurteilt. Dank einer internationalen Kampagne kam es 1964
zu seiner Freilassung aus dem Zuchthaus Bautzen. Wieder im Westen,
setzte Brandt seine Karriere als Redakteur von „Metall“, der
Mitgliederzeitschrift der IG Metall, fort. Nach seiner Pensionierung
1974 zerfiel er mit den Funktionären der Gewerkschaft -, nicht
allein wegen deren Befürwortung der Atomenergie - sowie mit der SPD.
Als demokratischer Linkssozialist wurde er zum Freund Rudi Dutschkes
und engagierte sich im Umkreis der Zeitschrift „Langer Marsch“.
In der Gründungsphase der Grünen von vielen als biographisch
untadeliger Mitstreiter geschätzt, trat Brandt alsbald wegen der in
Teilen der Partei damals anzutreffenden unkritischen Haltung
gegenüber der Sowjetunion wieder aus.
In dem zitierten Interview bezeichnete sich Heinz Brandt, Cousin des Psychoanalytikers und Philosophen Erich Fromm, „nicht als Marxist,
sondern als Neo-Marxianer“. Er gab einige bemerkenswerte Sätze zu
Protokoll. Er sprach von dem „schiefen Bild“, das er und nicht
wenige seiner Kampfgefährten 1945 von der Sowjetunion hatten. Sie
hegten die Illusion - trotz „einer gewissen Distanz zum
stalinistischen System“ -, dass durch die „Begegnung der Menschen
der Sowjetunion mit dem europäischen Westen, mit der Demokratie,
auch eine Reformation in die Sowjet-Union (sic)
getragen würde“.
Zugleich glaubten sie an einen
demokratischen Neuaufbau in Deutschland nach der Befreiung:
„Andererseits kann also tatsächlich von Befreiung gesprochen
werden, insofern als das deutsche Volk, soweit es Anhänger oder
Mitläufer der Despotie Hitlers war, nun von seinem eigenen Wahn und
von diesem schrecklichen, mörderischen Regime befreit war, zwar
nicht aus eigener Kraft – dazu war es unfähig, aber es war doch
befreit von diesem Behemoth. Aber das gilt, aus heutiger Sicht, nur
für den westlichen Teil.“ In der SBZ sei zur gleichen Zeit eine
„andersartige Despotie eingepflanzt worden. Und ich selbst habe an
dieser Einpflanzung teilgenommen, besten Glaubens.“
Nicht allein für das Projekt einer neuen Gesellschaftsordnung, wie
es ihm nach der Befreiung vorgeschwebt habe, sei die Vorstellung
einer „Kollektivschuld“ „überhaupt nicht möglich gewesen“.
Brandt hatte als Jungförster erlebt, „wie meine Ersatzeltern,
dieses Försterehepaar, bei denen (sic) ich war, fast gesetzmäßig
dem Nationalsozialismus verfielen.“ Anno 2015, da vielfach
undifferenzierter zivilreligiöser Umgang mit Begriffen wie „Schuld“
und „Verantwortung“ gepflegt wird, gewinnen folgende Sätze aus
dem Munde eines KZ-Überlebenden historische Aussagekraft: „Ich
versuchte von vornherein zu differenzieren zwischen der persönlichen
Schuld eines jeden und dem gesellschaftlichen Beeinflussungsapparat,
der gesellschaftlichen Manipulation, der die Menschen erlegen waren.
Noch dazu in Zeiten der gewaltigen Arbeitslosigkeit, den aberwitzigen
Bedingungen des Versailler Vertrages, der Inflation, der weitgehenden
Vernichtung des Mittelstandes, und und und.“ (S.10)
Für manche Zeitgenossen von 1985 klangen Brandts Äußerungen über
die „reaktionäre, verhängnisvoll konterrevolutionäre Supermacht
Sowjet-Union, die ich im Zerfall sehe“ und die sich davon positiv
abhebende „progressive Supermacht in den USA“ höchst
provokativ. Brandt rügte den „heutigen krassen Antiamerikanismus,
und ich würde ganz kraß sagen, der Antiamerikanismus ist die
Grundtorheit des ausgehenden 20. Jahrhunderts“ (S.13) Ähnlich
unerhört empfanden manche „Linke“ Brandts Einschätzung der
DKP, die „nicht eine linke, sondern eine höchst reaktionäre,
recht Kraft ist“ (S.12) Der DKP sprach er ungeachtet ihrer
sonstigen Bedeutungslosigkeit unverhältnismäßig großen, getarnten
Einfluss in der Gewerkschaftsbewegung und in der evangelischen Kirche
zu (ibid.) – eine Überspitzung, aber in jener Zeit nicht
gänzlich abwegig.
Ossip Flechtheim:
Einen Beitrag (Der Nationalsozialismus – Einige Überlegungen
nach einem halben Jahrhundert) steuerte Ossip K. Flechtheim
(1909-1998) bei. Der als Begründer der "Futurologie" bekannte
Flechtheim, in den 1960er Jahren Mentor und Unterstützer des SDS,
anno 1985 längst Emeritus am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin,
schrieb als wohlwollender Wegbegleiter des als
„nationalneutralistisch“ einsortierten Flügels der „Alternativen
Liste“ in West-Berlin. Flechtheim äußerte Besorgnis über die
Demontage der Demokratie in der Bundesrepublik und die Verwandlung
„in einen A(Atom- und Armee-) und P(Plutonium- und Polizei-Staat)“.
Den Nationalsozialismus, den die restaurativen und reaktionären
Kräfte an die Macht gebracht hätten, bezeichnete er „anders als
den Stalinismus...zunächst einmal [als] eine deutsche (Hervorh.
im Text) Krankheit“. „Zusammenfassend sei der
Nationalsozialismus definiert als eine
extrem-destruktiv-nihilistische Gegenrevolution gegen die
»November-Republik«.“
Aus dieser Sicht attestierte er auch der „Bonner Republik“ seit
ihrer Gründung Züge der „Restauration“. So schief diese von
vielen Linken lange geteilte Wahrnehmung, so präzis erfasste
Flechtheim die mit „modernsten Methoden der Macht und Gewalt“
betriebenen destruktiven Dynamik des Nationalsozialismus.
Mit seiner Klassifizierung der
„nihilistisch-reaktiven Bewegung“ des Nationalsozialismus als
getragen vom gefährdeten Mittelstand und forciert von den
„Desperados aller Schichten“ als hartem Kern folgte Flechtheim
dem geläufigen Erklärungsmuster. Bemerkenswert sodann ein Satz
über die in der Judenvernichtung hervortretende „satanische
Komponente“ der nazistischen Gewaltpraxis: „Selbstverständlich
reicht weder die soziologische noch die psychologische Deutung der
nationalsozialistischen Bewegung zur vollen Erklärung dieses
unheimlichen Phänomens aus.“ (S. 15).
Helmut Gollwitzer:
Ein Beitrag mit »Gedanken
zum 8.Mai«
stammte von dem linksprotestantischen Theologen und Helmut
Gollwitzer (1908-1993). In biblischer Sprache, - zugleich in heute
ungewohntem patriotischen Ton - beschwor er „das Erbe der Schuld“,
das „die Eltern und Großeltern“ hinterlassen hätten. „In der
Geschichte der Völker“ gehe es um die Haftungsgemeinschaft der
Generationen. Aus dem Judenmord – der Titel „Holocaust“
der TV-Filmserie hatte sich als Begriff noch nicht allgemein
duchgesetzt - leitete Gollwitzer die besondere Beziehung der
Deutschen zu Israel ab. Immerhin gedachte der linksnationale
Gollwitzer „im Besonderen“ auch der „vielen Tausende von
Deutschen, die in den Gefängnissen und Konzentrationslagern die
ersten Opfer der braunen Herrschaft waren...“ Der 8. Mai 1945 war
„für uns Deutsche“ die Stunde der Wahrheit“. „Er war
zugleich ein Tag der Trauer und der Klage; denn wir mußten ernten,
was wir gesät hatten.“ Zu den Lehren des 8. Mai gehörte auch die
Wahrnehmung des Bedrohungszustands durch Vernichtungswaffen, mit
denen „die beiden deutschen Staaten so vollgestopft [seien] wie
kein anderes Land der Erde. Auch mit diesem Zustand ernten wir noch,
was wir gesät haben. Die Teilung Deutschlands und Europas sind
Folgen des Weges. für den sich unser Volk 1933 entschieden hat.“
(alle Zitate S.16)
Erhard Lucas-Busemann:
Unter
den anderen Beiträgen sind noch zwei hervorzuheben. Der eine (1945
– Welche Chancen hatte der Sozialismus?)
war dem Buch des früh verstorbenen Sozialhistorikers Erhard Lucas
(1937-1993) „Vom Scheitern der deutschen Arbeiterbewegung“, 1983)
entnommen. Lucas berichtete von den in seinem Freundeskreis erzählten
Kriegstraumata von Überlebenden, darunter die immer wieder
aufsteigende Erinnerung eines Mannes, der nach 1945 Alkoholiker
wurde: „Eines Tages liegt er in Rußland in einem Kornfeld, abseits
der Truppe, es ist Kampfpause, und er träumt; er ist gar nicht mehr
in Rußland, sondern er liegt in einem Kornfeld seiner ostfriesischen
Heimat. Plötzlich taucht wenige Meter vor ihm ein Russe auf. Der
Russe sieht ihn, er lacht über das ganze Gesicht, er breitet die
Arme aus, laß dich umarmen, Bruder, aber in dem Deutschen löst das
Unerwartete den eingedrillten Reflex aus, er reißt der Gewehr hoch
und schießt dem auf ihn zulaufenden Russen in den Bauch.“ (S.24)
Lucas empfand angesichts der
schmerzlichen, von vielen noch lange – auch als Überlebenstechnik
- verweigerten Konfrontation mit der Wahrheit der NS-Verbrechen den
von dem Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich geprägte Vorstellung
von der „Unfähigkeit zu trauern“ - ein ehedem häufig zitierter Buchtitel - als „unzulänglich“. Die
furchtbare Wahrheit hätte zum „Verrücktwerden“ führen müssen.
„Verrücktwerden ist mehr als Trauerarbeit.“ (S.25)
Der
„Achtundsechziger“ Lucas, dessen Thema nicht nur die von
revolutionären Fehlschlägen gekennzeichnete Arbeiterbewegung war,
sondern – nachzulesen in dem posthum
veröffentlichten, aus Fragmenten entstandenen Buch – eben auch das
eigene, von Flucht und Heimatverlust geprägte Lebensschicksal
(Erhard Lucas-Busemann: So fielen Königsberg und Breslau.
Nachdenken über eine Katastrophe ein halbes Jahrhundert danach,
1994;
s. dazu meine Besprechung „Beklagen verboten“ in: FAZ
nr.
103 v. 04.05.1995, S. 9) schließt seine Klage über die verpassten
und verhinderten Chancen nach 1945 mit bemerkenswerten, aus heutiger
Perspektive befremdlich "inkorrekt" klingenden Sätzen: „Die innere
Bewegung von Versailles nach Potsdam: von einem Körper mit
abgeschnittenen Gliedern (Elsaß-Lothringen, Saargebiet,
Oberschlesien usw.) zu einem geteilten Körper. Endlich die gelungene
Spaltung, die alles Böse und Zerreißende in den abgetrennten
Gebieten ließ und alles Gute und das Leben Stützende hier. Die
Teilung Deutschlands war die beste Versicherung gegen das
Verrücktwerden – alles Verrücktmachende war »drüben«.
Insgeheim waren die Westdeutschen glücklich mit dieser Teilung. Sie
ist die Basis ihrer Entwicklung zu einer relativen (und für Deutsche
schon ganz beachtlichen) Friedfertigkeit. Sie ist auch die Basis
dafür, daß es bei uns eine alternative Gesellschaftsordnung auf
absehbare Zeit nicht geben wird.“ (S.26)
Unbekanntes über „Die
Moorsoldaten“
Im
Blick auf die - in zunehmender historischer Distanz praktizierte –
Gedenkkultur bleibt zu fragen, inwieweit für die Nachgeborenen die
zwischen Jubel und Schrecken, Faszination und Grauen changierenden
Bilder der NS-Zeit die Wahrnehmung der gesamten Realität des
NS-Regimes, insbesondere auch die Wahrnehmung einzelner
Lebensschicksale nicht oft verdunkeln. Dazu gehört die so banale
wie richtige Erkenntnis von der Komplexität der historischen
Wirklichkeit. Sie tritt exemplarisch in der Kurzbiographie von
Johann Esser hervor (Werner Röhrich: Johann
Esser – Poet, Patriot und Freidenker,
S.27-28) hervor. Von ihm, dem namentlich kaum bekannten Dichter,
stammt die Urfassung der berühmten antifaschistischen Kampfhymne
„Die Moorsoldaten“. Sie entstand in dem im Frühjahr 1933
errichteten KZ Börgermoor bei Papenburg, wo sie zum ersten Mal unter
der Anleitung von Wolfgang Langhoff, dem späteren Intendanten des
Deutschen Theaters in Ost-Berlin eingeübt, von einem neunhundert
Mann starken Chor den SS-Bewachern entgegenschallte - mit der
provokanten Schlusszeile: „Dann zieh´n die Moorsoldaten nie mehr
mit dem Spaten ins Moor!“
Der Arbeiterdichter Johann Esser
(1896-1971) wuchs in einem Waisenhaus auf, arbeitete nach der
Schulentlassung als Weber, kehrte als Frontsoldat verwundet aus dem
I. Weltkrieg zurück und wurde Bergmann im niederrheinischen Revier.
Dort schloss er sich als Gewerkschafter der KPD an, wurde in den
Betriebsrat seiner Zeche sowie in den Stadtrat von Rheinhausen
gewählt. 1933 wurde er von der Straße weg verhaftet, wegen
Hochverrats angeklagt, inhaftiert, sodann in die Konzentrationslager
Börgermoor und Oranienburg gesteckt. Nach seiner Entlassung musste
er sich und seine Familie jahrelang als Arbeitsloser durchschlagen.
Zu welchem Zeitpunkt sich der Freidenker Esser von der
stalinistischen KPD trennte, geht aus dem erwähnten Artikel nicht
hervor. Nach dem II. Weltkrieg „fühlte er sich fortan mehr zur
Sozialdemokratie hingezogen“, ohne sich parteipolitisch zu
betätigen.
Als „des Vaterlands treueste
Söhne“ pries zu Beginn des I. Weltkriegs der Nürnberger
Arbeiterdichter Karl Bröger die sozialistisch gesinnten Arbeiter. Diese Worte
treffen offenbar auch auf den Verfasser der „Moorsoldaten“ zu:
„Johann Esser fühlte, dachte und schrieb immer mehr als deutscher
Patriot“, heißt es in dem zitierten biographischen Artikel, der
1980 in dem „Heimatkalender Kreis Wesel“ erschien (S.27).
Bereits in den Nachkriegsjahren
war der Name des in einer Bergarbeiterkolonie in Moers lebenden, am
Küchentisch schreibenden Dichter Johann Esser verblasst. Er war
insbesondere bei den Aktivisten des „Vereins der Verfolgten des
Naziregimes“ (VVN) in Ungnade gefallen. Ein Grund dürfte seine
Abkehr von der KPD gewesen sein. Einen anderen fanden die Genossen in
Essers Haltung nach der Entlassung aus dem Konzentrationslager. Er
hatte nicht nur – wie alle anderen Leidensgefährten - einen Revers
unterschrieben, der ihn zu politischer Abstinenz verpflichtete,
sondern während des „Dritten Reiches“ Gedichte geschrieben,
„die den braunen Allgewaltigen so genehm waren, daß sie diese in
ihren Publikationsorganen abgedruckt hatten. Tatsache ist aber auch,
daß der arbeitslose, bis aufs Blut verfolgte Johann Esser in
unbeschreiblichem Maße unter der unmenschlichen Notlage [seiner
Familie] litt. [ …] Um den Hunger von seinen Kindern abzuhalten,
brauchte er jede Mark. Johann Esser wußte, wie diese seine anderen
Verse auf seine Freund wirken mußten, und er bat sie um Verständnis“
(S.28).
III.
Zur Dialektik der Befreiung (H.A. 1985)
„Ein
Volk muß seine Freiheit selbst erobern, nicht zum Geschenk
erhalten“, schrieb 1798 der Jakobiner Georg Friedrich Rebmann
angesichts der deutschen Zustände in der Revolutionsära. An diese
aufklärerischen Worte gilt es zu erinnern, wenn wir die aufwendigen
Veranstaltungen zum Gedenken des 8. Mai 1945 - »vierzig
Jahre danach«
- betrachten. In ganz Deutschland begeht man den Gedenktag nach
eigenem politischen Geschmack und mit mehr oder minder großem
politischen Geschick. In der BRD, dem westlichen Nachkriegsstaat
besinnt man sich so richtig auf den Gedenktag zum erstenmal in seiner
Geschichte. Da feiern Reagan und Kohl gemeinsam die Befreiung
(West-)Deutschlands zur freiheitlichen Demokratie und laden
westdeutsche Jugendliche zum schuldkomplexfreien Mitfeiern aufs
Hambacher Schloß, die Pflanzstätte der deutschen Demokratie, ein,
um in Wirklichkeit den Eintritt der BRD in die NATO am 5. Mai 1955 -
»zehn
Jahre danach«-
zu feiern. Bei der Gegenveranstaltung der SPD in Nürnberg, dem
Schauplatz der NS-faschistischen Massenrituale und des alliierten
Tribunals über die Nazi-Verbrecher, bleibt der im deutschen
»Volksempfinden«
verankerte
Widerspruch zwischen »Niederlage«
und »Befreiung«
eher verdeckt.
Hingegen
feiert die DDR seit ihrer Staatsgründung von Skrupeln ungetrübt,
den 8. Mai nicht nur als Tag der
»Befreiung«,
sondern auch als Tag des Sieges: An der Seite der Sowjetunion, ohne
deren Rote Armee die Befreiung Europas vom Hitlerfaschismus nicht
möglich gewesen wäre, fühlt sich der ostdeutsche Staat nach
Vorstellung seiner staatstragenden Einheitspartei zu den Siegern
gehörig. So überlagert hüben wie drüben der Wunsch die
Wirklichkeit, die (tages-)politische Absicht verdeckt den Zugang zur
historischen Kausalität.
Die Befreiung von außen
Am
Faktum der Befreiung kann und darf es keinen Zweifel geben. Befreit
wurden die Völker Europas von Okkupation und Terror des
nationalsozialistischen Deutschlands und seiner faschistischen
Kollaborateure. In Osteuropa brachte allein das Vorrücken der Roten
Armee die Mordmaschinerie der Vernichtungslager zum Stillstand, im
Zuge der Besetzung Deutschlands durch die Armeen der
Anti-Hitler-Koalition wurden die Überlebenden des Terrors aus den
Konzentrationslagern und Zuchthäusern befreit. Befreit durch die
Niederlage und Kapitulation der Wehrmacht wurde schließlich auch die
deutsche Bevölkerung, die in den letzten Kriegsmonaten in wachsender Angst vor dem Terror der SS gegen
»Defätisten«
lebte. Als – nur wenige Tage nach dem Selbstmord Hitler – die
Kapitulation der Wehrmacht bekannt wurde, als die Waffen endlich
schwiegen, ging wohl ein Aufatmen durch die Bevölkerung, gerade auch
bei jenen Menschen, die inmitten der Verwüstungen der letzten
Kriegsphase nur noch mit dem nackten Leben davongekommen waren:
Hatte der Schrecken zuletzt auch die Deutschen eingeholt, die in den
Kriegsjahren zuvor in vielfach ungeordneten Stimmungs- und
Bewußtseinslagen nationaler Hybris und Siegeseuphorie, Zweifel und
Ungewißheit, Anpassungsbereitschaft und Opportunismus, nicht
eingestandener Schuldkomplizenschaft und Angst vor Rache der Sieger,
innerer Distanz zum Regime und offener Widerstandshaltung – das
NS-Regime unterstützt bzw. ertragen hatten, so spürte man beim Ende
des Schreckens Erleichterung – mit Ausnahme jener relativ großen
Minderheit von Durchhaltefanatikern.
Doch die Befreiung kam von außen
durch die Heere der Siegermächte, und die Kosten der Befreiung waren
immens: Hatte die großdeutsche Wehrmacht bei ihrem Vernichtungskrieg
in Polen und in der Sowjetunion eine Trümmerwüste hinterlassen, so
lagen jetzt die deutschen Städte in Schutt und Asche.
Flüchtlingsströme zogen über die Chausseen, Hunderttausende von
Wehrmachtsangehörigen wanderten in die Gefangenenlager. Die
Bevölkerung wurde vielfach Objekt der Siegerwillkür, wobei
Vergewaltigungen keineswegs nur das Monopol einer Armee waren.
Schließlich wurde auf der Potsdamer Konferenz, die als Ereignis kaum
wahrgenommen wurde, die Abtretung der preußischen Ostprovinzen
dekretiert und weitere Vertreibungen von Deutschen aus ganz
Ostmitteleuropa abgesegnet.
Vom Umgang mit der Befreiung
von außen
Vor
diesem konkreten Erfahrungshintergrund vieler Deutscher, in der die
Anteilnahme am Leid der anderen Völker nur selten Platz fand, kommt
man dem Verständnis jener in Deutschland noch heute vorherrschenden,
starrsinnigen Bewußtseinslage nahe – der Weigerung, den
»Zusammenbruch«
als Befreiung zu begreifen.
An der kollektiven Erinnerung der
Deutschen, die im Grunde eine selektive – subjektiv eingefärrbt,
nicht schlechterdings falsch – ist, scheitert noch heute das
Bestreben der antifaschistischen Aufklärung, den 8. Mai als Tag der
Befreiung im deutschen Bewußtsein zu verankern. Hinzu kommt eine
entscheidender historischer Faktor, den gerade viele westdeutsche
Linke in ihrer eindimensionalen Betrachtung des antifaschistischen
Widerstands selbst nicht wahrhaben wollen: nach der kampflosen
Niederlage gegenüber dem NS-Faschismus in den Jahren 1932/33 und der
Zerschlagung der Arbeiterbewegung in den Jahren nach der
Machtergreifung schlugen alle Ansätze zur deutschen Selbstbefreiung
vom Verbrecher-Regime fehl. Mit Bitterkeit gedenken wir des
Scheiterns des 20. Juli 1944 – zu dem sich viele Linke, teils aus
unzureichender Faktenkenntnis, teils aus Aversion gegenüber der
langjährigen Monopolisierung durch die konservative Rechte in der
BRD – kaum bekennen wollen. Selbst in der Endphase des NS-Regimes
schlugen noch Unternehmungen wie die „Freiheitsaktion Bayern“ des
Hauptmanns Gerngroß in München fehl, wo es nur noch darum ging,
unsinnige Opfer und Zerstörungen durch geordnete Übergabe zu
vermeiden.
Angesichts
des Fehlens eines politisch erfolgreichen Antifaschismus gegen den
deutschen Nazi-Faschismus herrscht in der jüngeren westdeutschen
Linken mancherorts die Tendenz, Umfang und Qualität des
antifaschistischen Widerstands generell abzuwerten und sich in
Verlängerung der Kollektivschuld-These von der historischen
Verantwortung für die deutsche Nation überhaupt zu distanzieren.
Dahinter steckt das Bestreben, sich in vermeintlich
antifaschistischem Bewußtsein der in die Gegenwart hineinwirkenden
Realität – dem Faktum der Befreiung von außen, nicht aus eigener
Kraft – zu entziehen. In vertrackter Dialektik verbindet diese
nicht eingestandene Scham über die Befreiung von außen jene
westdeutschen Linken mit dem Teil des deutschen Volkes, der –
anscheinend unbelehrbar – Mitläufertum und Anpassung aus der
NS-Vergangenheit in den Alltagsopportunismus der Gegenwart übersetzt
hat. Ohne den angepaßten Bundesbürger, der sich weigert, sich den
Schrecken der Vergangenheit und der Frage nach dem Sinn der Befreiung
von außen zu stellen, verliert der verengte westdeutsche
Antifaschismus, der sich weigert , sich der heutigen Realität –
ein geteiltes Land mit vielfach gebrochenen Traditionen – zu
stellen, seine Legitimation.
Anders
in der DDR. Hier wird mit der Erinnerung an den Widerstand der
deutschen Antifaschisten eine Tradition gepflegt, die es den
Deutschen jenseits der Teilungslinie erlaubt, sich in die Kontinuität
des antifaschistischen Kampfes zu stellen, die Belastung durch die
deutsche Geschichte – durch Nazismus und Befreiung von außen –
leichter zu ertragen. Über die Konsequenzen der
DDR-Nationalpädagogik berichtet der Regisseur Adolf Dresen. Sein
Sohn fand
»klar«,
daß es in seinem Heimatdorf kein Kriegerdenkmal für den 2.
Weltkrieg gebe.
»Das
sei klar, weil wir den 2. Weltkrieg an der Seite der Roten Armee
gewonnen hätten. - Wer ihn verloren hätte? - Die Deutschen. - Und
wo seien die Deutschen? - Drüben.«
Die historischen Kosten von
Befreiung und Besetzung
Das
Scheitern der Selbstbefreiung vom Faschismus verbindet sich für die
deutsche Linke mit der Erinnerung an ihre Niederlagen. Die letzte
dieser Niederlagen fällt in die Zeit nach
dem
8. Mai 1945. Sie resultiert aus der Tatsache, daß die Befreiung
Deutschlands identisch mit der Besetzung war. Heute, da es zur
staatstragenden, auch vermeintlich
linken«
Pädagogik in der BRD gehört, die deutsche Teilung als notwendige,
unausweichliche Folge des Hitler-Faschismus zu begreifen, bedürfen
die Fakten der deutschen Nachkriegsgeschichte der Aufklärung.
Die vernichtenden Worte August
Thalheimers über die Potsdamer Beschlüsse, die immerhin noch von
der Einheit Deutschlands ausgingen, können das kämpferische
Selbstbewußtsein der antifaschistischen deutschen Linken erhellen:
„Deutschlands Teilung in vier Besatzungszonen auf unbegrenzte Zeit
ist gleichbedeutend mit der faktischen Aufhebung der nationalen
Einheit eines großen Volkes. Kein lebendes Volk...kann freiwillig
seine Zustimmung zu seiner eigenen Vierteilung geben... Diese
Vierteilung kann nur ein Aufmarsch sein zu einer kommenden
Auseinandersetzung unter den Besatzungsmächten um die Herrschaft
über ganz Deutschland. […] Der Hauptzweck der Okkupation und
Entwaffnung ist gerade, die sozialistische Revolution zu verhindern.“
Nicht in allen Punkten sollte der
unabhängige Kommunist (KPO) Thalheimer recht behalten. Zwar mündete
der Konflikt zwischen den Siegermächten in den Kalten Krieg, aber
dieser führte über die Zweiteilung Deutschlands und Berlins, über
die Gründung der beiden Teilstaaten in die Militärblöcke, auf
einigen Umwegen zu dem von den beiden Supermächten schließlich als
ihren Hegemonialinteressen durchaus dienlich empfundenen Patt. Diese
Patt definiert den heutigen Status quo in Deutschland und Europa.
Thalheimers Prognose vom
September 1945 kennzeichnet hingegen treffend das politische
Schicksal des Sozialismus in Deutschland. Mit unterschiedlichen
Druckmitteln wurde in allen vier Zonen die Aktivität der überall
entstandenen Antifaschistischen Aktionsausschüsse, die in Betrieben
und Kommunen in den Tagen nach der Befreiung die demokratische
Selbstverwaltung organisiert hatten, von den Besatzungsbehörden
wieder rückgängig gemacht. Im Zeichen der Besatzungsrealität
schwanden die Hoffnungen der nationalen antifaschistischen Linken in
Deutschland – nachzulesen etwa in Hans Werner Richters Zeitschrift
»Der Ruf«, die 1947 von der amerikanischen Lizenzbehörde verboten
wurde.
Gewiss
steht zu bezweifeln, ob eine einige Linke in der Nachkriegsphase zu
vereintem Handeln im Sinne eines eigenen »deutschen Weges zum
Sozialismus« (so die in der Ostzone bis 1948 gültige These Anton
Ackermanns) fähig gewesen wäre. Auf dem »Buchenwalder Manifest«
vom 13. April 1945 fehlten die Unterschriften der deutschen
Kommunisten. Symbolhaft für die Spaltung der deutschen
Arbeiterbewegung wirkt heute noch der Flaggenappell der Häftlinge
aller Nationen im befreiten KZ Buchenwald zum 1.Mai 1945: Die
KPD-Angehörigen versammelten sich hinter der roten Fahne, die
übrigen deutschen Sozialisten hinter den republikanischen Farben
Schwarz-Rot-Gold. Dennoch: ohne die durch die Entzweiung der
Siegermächte bewirkte Spaltung Deutschlands wäre es nicht zu der
entschlossenen Parteinahme unter den Zeichen von »Freiheit und
demokratischer Sozialismus« hüben, von »Frieden und Sozialismus«
drüben, in Wirklichkeit für die beiden Staatsoktrois der
Siegermächte, gekommen.
Im
Zeichen des vermeintlich unausweichlichen Ost-West-Konflikts waren
die Einheitsschwüre aus den Jahren nach 1933 schnell vergessen. Die
ideologisch-organisatorische Spaltung der Arbeiterparteien nahm die
Spaltung des Landes vorweg, begleitete, ergänzte und vertiefte sie.
So kam die im 1. Weltkrieg und in den Geburtsjahren der Weimarer
Republik begründete Verfeindung der Flügel der deutschen
Arbeiterbewegung erneut verhängnisvoll zum Tragen. Heute wird im
Zeichen beiderseitiger Hinnahme, ja Verteidigung des
»deutsch-deutschen« Status quo der geographische Riß durch die
eigene linke Traditionsgeschichte pragmatisch verdrängt. Häufig
nach wie vor untereinander spinnefeind in der BRD, praktizieren
Kommunisten und Sozialdemokraten im Blick auf die groteske
»deutsch-deutsche« Grenze den Grundsatz des Augsburger
Religionsfriedens (1555): Cuius regio, eius et religio. Wie damals
der Gewissensbegriff der Reformation, so bleibt heute das
demokratische Selbstverständnis auf der Strecke. Wem´s nicht paßt,
kann (vielleicht) gehen. Die Zahl der Ausreisen aus der DDR gilt
sodann als Gradmesser der Liberalität des » anderen deutschen
Staates«...
Dass die bürgerlichen Parteien
in Deutschland in den Jahren 1947/48 ebenso leicht entlang der
west-östlichen Zonengrenze separiert wurden, vermag nur die Folgen
der Befreiung von außen zu illustrieren: die Kräfte, die aus
antifaschistischem Patriotismus an der Einheit Deutschlands
festzuhalten bestrebt waren wie Jakob Kaiser (CDU), Wilhelm Külz
(LDPD) u.a., scheiterten sowohl an den politischen Absichten der
Besatzungsmacht als auch an den innerparteilichen Strategien der
Befürworter der jeweiligen Staatsgründung (Adenauer-Nuschke,
Dieckmann-Heuß).
Vor
dem Hintergrund der Zerstörung und des Nachkriegselends vielleicht
verständlich, obsiegte allenthalben die Bereitschaft zur Anpassung
über den Impuls der nationalen Selbstbehauptung. Ein vergebliches
Opfer brachten diejenigen bürgerlichen und sozialistischen
Antifaschisten, die sich den Jahren des Kalten Krieges vor und nach
der doppelten Staatsgründung – nicht zuletzt um der Erhaltung der
Einheit Deutschlands willen – auf verschiedenen Ebenen in die
Ost-West-Intrigen einspannen ließen: Angehörige des SPD-Ostbüros
dort, die früher oder später in Lager und Zuchthäuser wanderten,
Linkssozialisten und Nationalneutralisten hier, die häufig mit
Berufsverboten, teilweise auch mit Gefängnisstrafen belegt wurden
(wie z.B. der Gewerkschaftstheoretiker Viktor Agartz). [Anm.:
Dieser Satz enthielt einen Irrtum: Agartz wurde am 13.12.1957 vom
Bundesgerichtshof von der Anklage des Landesverrats mangels an
Beweisen freigesprochen. Zu Agartz s. den Aufsatz von Christoph
Jünke: „Das dritte Leben des Viktor Agartz, in: Globkult v.
06.12.2014;
http://www.globkult.de/geschichte/personen/973-das-dritte-leben-des-viktor-agartz.
]
Im
bundesdeutschen Bemühen um die
»Bewältigung« der Nazi-Vergangenheit sind diese Fakten der
Nachkriegsgeschichte in den Hintergrund gedrängt worden. Nicht von
ungefähr: die Reflexion der keineswegs geradlinigen Geschichte der
deutschen Teilung könnte Zweifel an der in der Ära Adenauer
durchgesetzten westdeutschen Grundentscheidung – die militärische
und politische Westintegration um den Preis der deutschen Einheit –
wecken.
Hingegen war man sich in der
westdeutschen Linken bis in die 60er Jahre der politischen Kosten des
Verzichts auf die nationale Einheit durch die Adenauer-Regierung noch
vollauf bewußt. Der repressive Charakter des DDR-Regimes, der
politische Alltag des Realsozialismus Ulbrichtscher Prägung,
minderte einerseits die Chancen sozialistischer Reform, einer
Gesellschaft jenseits des Kapitalismus, im Westen, andererseits
bedurfte die Adenauersche Westintegration des abschreckenden
Gegenbildes der »Zone«. Die
Wiedervereinigungspolitik der SPD in den 50er Jahren, die mit
»nationalneutralistischer« Stoßrichtung aus der Kritik der
militärischen Blockbildung entwickelt wurde – zuletzt im
Deutschlandplan der SPD von 1959 – hatte immer auch eine
ideologisch-programmatische Dimension. »Sozialismus in einem halben
Land« (D. Staritz), so wußte man damals noch in der
Sozialdemokratie, ließ sich nicht verwirklichen. [Anm: Der
hier genannte Dietrich Staritz wurde nach dem Mauerfall als
Stasi-Agent an der FU Berlin enttarnt.]
So ist die Geschichte der
kapitalistischen Rekonstruktion der Bundesrepublik – eine
beispiellose Geschichte des Erfolgs eines kapitalistischen
Wachstumsmodells – zugleich die Geschichte des Niedergangs der
sozialistischen Alternative in der Bundesrepublik. Das »Modell
Deutschland«, mit dem SPD in der Ära Schmidt reüssierte,
repräsentierte die Anwendung Keynesianischer Lehren in der Phase
enormen Wachstums seit Ende der 60erJahre. [Anm.: Gegenüber
den 1950er Jahren waren die im Zuge des Aufschwungs nach der
Strukturkrise 1966/1967 erzielten Wachstumsraten deutlich geringer.
Im Gefolge der Ölkrise 1973 mündete der Aufschwung in eine Phase
relativer Stagnation, die sodann in den 1980er Jahren wieder durch
moderates Wachstum abgelöst wurde.]
Nicht
zufällig fällt in jene Zeit, da die BRD als westlicher Musterstaat
geschätzt wurde, die Aufgabe der Zielvorstellung der Ostpolitik in
der Ära Bahr-Brandt, die noch auf Wiedervereinigung [Anm.;
besser „Neuvereinigung“]
gerichtet war, während der »demokratische Sozialismus« in der SPD
zum Gegenstand von Festreden bzw. pietätvoller Programmdiskussion
erstarrte, vollzog die Partei den realen Abschied von der Nation.
Zuweilen hält man noch am deutschen Selbstbestimmungsrecht fest,
aber realiter bejaht man das Faktum der endgültigen Teilung. Nicht
zufällig sekundierte Horst Ehmke de italienischen Christdemokraten
Andreotti, als dieser die Zweiteilung der »germanischen Staaten«
für unaufhebbar erklärte. „Die Einheit der Nation ...ist nicht
identisch mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten erklärte
die SPD-Bundestagsfraktion einstimmig im November 1984. „Die Idee
eines deutschen Sonderwegs – sei es eines vereinten Deutschlands
oder nur für die Bundesrepublik ist unrealistisch. Er würde die
politische Stabilität in Europa gefährden und ist deshalb
ausgeschlossen.“
40 Jahre Frieden?
In der Erklärung Helmut Schmidt
zur »Lage der Nation« hieß es 1979, „daß die deutsche
Teilung...ein Element des europäischen Friedens ist, das den Frieden
sichert.“ Schon lange vor jener Zeit, in der der
NATO-Doppelbeschluß vom Dezember 1979 vorbereitete wurde, bestimmte
dieses aus dem Gleichgewichtsaxiom und der west-östlichen Blocklogik
abgeleitete Dogma den sicherheits- und außenpolitischen Grundkonsens
der BRD. Doch zumindest zielte die Konzeption der Ostpolitik in ihrer
Eröffnungsphase noch auf die Überwindung der Blockstruktur und in
deren Gefolge auf die Wiedergewinnung der deutschen Einheit. Heute
ist davon keine Rede mehr. Die Schlagworte der beiden großen
staatstragenden Parteien in der BRD ergänzen sich: für die CDU geht
nach wie vor »Freiheit vor Einheit«, für die SPD geht »Frieden
vor Einheit«. Mit Ausnahme einzelner Vorkämpfer der Grünen wird
die Blocklogik hierzulande nicht in Frage gestellt.
Nicht
zufällig rückt bei dem von allerlei Kalamitäten begleiteten
Gedenken des 8. Mai 1945 die These in den Vordergrund, seit dem Ende
des 2. Weltkrieges sei dem Kontinent Europa eine einzigartige
Friedensperiode beschert worden. Angesichts der offenkundigen
politischen, sozialen und menschlichen Kosten des europäischen
Friedens unter dem »System von Jalta« sind Zweifel an dieser These
angebracht. Vollends fragwürdig wird die These vor dem Hintergrund
der Bedrohung des Kontinents durch die Blockkonfrontation und die
kontinuierliche Anhäufung von atomaren Massenvernichtungswaffen auf
deutschem Boden beiderseits der Blockgrenze. Zu Recht hieß es im
Havemann-Brief vom Herbst 1981 auf dem Höhepunkt der
Friedensbewegung; »Die Teilung Deutschlands schuf nicht Sicherheit,
sondern wurde Voraussetzung der tödlichsten Bedrohung, die es in
Europa jemals gegeben hat.«
Daß die Gefahren der
Konfrontation an der Blockgrenze nicht ins Bewußtsein gehoben
werden, daß die Forderung nach einem Friedensvertrag, nach Abzug der
fremden Truppe und Herstellung der deutschen Einheit bei den
Gedenkfeiern zum 8. Mai nicht zur Sprache kommen, ist von der Regie
der Veranstaltungen – auch so mancher im Umkreis der
Friedensbewegung – durchaus beabsichtigt. Die Gedenkfeiern in
beiden deutschen Teilstaaten dienen der Befestigung des Status quo.
Wie die Kernsätze des Havemann-Briefes in den zurückliegenden
Jahren von den politischen Kräften der BRD teils ignoriert, teils
zurückgedrängt wurden, fehlt es heute - »vierzig Jahre danach« -
vor allem im westlichen Deutschland an Zivilcourage, vom realen
Unfrieden aufgrund der deutschen Teilung, von der Herbeiführung des
europäischen Friedens durch die Lösung der Deutschen Frage, zu
sprechen – auch dies gehört zum Erbe des 8. Mai 1945, zur
Dialektik der Befreiung von außen.
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