Samstag, 9. Mai 2015

Im Gedenkjahr 2015: Zur Dialektik der Befreiung

Im Gedenkjahr 2015: Zur Dialektik der Befreiung 
 
I. Gedenken vor dreißig Jahren

Die 70jährige Wiederkehr des Kriegsendes zum diesjährigen 8. Mai 2015 ist in Deutschland und anderen europäischen Ländern, in Russland zum 9. Mai („Tag des Sieges“), wie gewohnt Gegenstand großen Gedenkens. Tenor und Schwerpunkte der Gedenkreden haben sich über die Jahrzehnte gewandelt. Seit der als „historisch“ klassifizierten Rede, gehalten am 8.Mai 1985 von Bundespräsident Richard von Weizsäcker im Bonner Bundestag, steht das Faktum der Befreiung von den Schrecken des Nationalsozialismus im Mittelpunkt der geschichtspolitisch angestrebten kollektiven Erinnerung. Übersehen wird heute der Satz in der Weizsäcker-Rede, der 8. Mai sei für die Deutschen kein Tag zum Feiern. (Adnote: In seinem Aufsatz zur Geschichte des Gedenkens zum 8. Mai erwähnt der FAZ-Redakteur Rainer Blasius ("Bonn und der 8. Mai", in: FAZ v. 11.05.2015, S..6), dass Weizsäcker ursprünglich in seiner Rede einen Appell zur Begnadigung von Rudolf Heß vorgesehen hatte. Dieser Passus wurde vor allem aufgrund der Intervention seines Pressesprechers Friedbert Pflüger aus dem Manuskript gestrichen. Ob die Alliierten der Begnadigung von Heß zugestimmt hätten, ist fraglich. Im gegebenen Falle wäre es nicht anno 1987 zum Selbstmord des "lebenslänglich" in Berlin-Spandau einsitzenden 94jährigen Heß gekommen. Darüberhinaus wären uns die spektakulären Neonazi-Aufmärsche am - später eliminierten - Grab des mit seiner "Friedensmission" gen Großbritannien im Mai 1941 gescheiterten Hitler-Stellvertreters erspart geblieben.)

Der im dritten Teil des nachfolgenden  Gedenkartikels präsentierte Aufsatz „Zur Dialektik der Befreiung“ ist dreißig Jahre alt. Gewisse Pointierungen, gezielt auf ein politisch „linkes“ Umfeld, reflektieren den historisch-politischen Kontext der frühen 1980er Jahre – vier Jahre vor dem Berliner Mauerfall - und mögen heutigen Lesern antiquiert erscheinen. Manche Akzente – etwa hinsichtlich der historischen Rolle der Arbeiterbewegung – würde ich heute anders setzen. Gegenüber derheute vorherrschenden Tendenz, in den Gedenkreden die Kosten der Befreiung, sprich die menschlichen Leiden, auszublenden, würde ich den Aspekt individueller Leidenserfahrung und Verluste, die in begrifflichen Abstraktionen - wie etwa in der "Dialektik der Befreiung" - nicht zur Geltung kommen, noch stärker betonen.

Der Aufsatz – ehedem vor Erfindung des Internet unter Zeitdruck entstanden - enthielt auch einige ungenaue Details. Die zentrale Aussage zur „Dialektik der Befreiung“ hat indes nichts an Relevanz eingebüßt – weder im Rückblick auf die Realität des Jahres 1945 noch im Blick auf die anno 2015 immer deutlicher hervortretenden historischen Ungewissheiten.

Mein Aufsatz erschien 1985 auf Anfrage der Redaktion des Deutschen Freidenker-Verbandes - eine ehedem bedeutsame, ins materialistische 19. Jahrhundert zurückreichende, atheistische Strömung der deutschen Arbeiterbewegung - im Freidenker Magazin (5.Jgg., nr. 2, April-Juni 1985, S. 6-8)). Den Rang dieser außerhalb ihres Umkreises mutmaßlich unbekannten Zeitschrift wird kaum jemand überschätzen. Nichtsdestoweniger erweist sich das Heft mit dem Titel „Befreiung, Niederlage oder »Stunde Null«? Ende oder Neuanfang der Arbeiterbewegung?“ im Hinblick auf die deutsche „Gedenkkultur“, genauer: die Vergegenwärtigung der Verbrechen des NS-Regimes und des darauf ausgerichteten Geschichtsbildes der Bundesrepublik Deutschland, als vielschichtiges, zeitgeschichtlich aufschlussreiches Dokument.

II. Gedenkartikel anno1985 zum 8. Mai 1945

Heinz Brandt:
Die Zeitschrift enthält ein Interview des Herausgebers Theo Schneid mit Heinz Brandt (1909-1986), einem der Mitgründer der „Grünen“. In dessen Biographie erscheint die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts wie in einem Brennspiegel. Aus einer deutsch-jüdischen Familie in Posen stammend, schloss sich Heinz Brandt als Student der Volkswirtschaftslehre in Berlin 1931 der KPD an. Dem nicht-stalinistischen Flügel zugehörig, trat er als „Versöhnler“ für das Bündnis aller sozialistischen Kräfte gegen den vordringenden Nazismus ein. Wegen Widerstandsaktivitäten 1934 zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt, kam er nach Strafverbüßung 1940 ins KZ Sachsenhausen. Ab 1942 Häftling in Auschwitz, gehörte er dort zu den Organisatoren des Widerstands im Lager. Beim Heranrücken der Roten Armee im Januar 1945 von der SS „evakuiert“, gelangte er nach Buchenwald. Dort erlebte er am 11. April die - von den Kommunisten später als „Selbstbefreiung“ mythisch überhöhte – Befreiung. „Denn unsere kleine Erhebung, die ja gar nicht so gewaltig war, wie nachher in der Geschichtsklitterung der SED glorifiziert wurde, diese kleine Erhebung war ja nur möglich auf der Grundlage des Heranrückens der amerikanischen Armee.“ (S.9)

Als unabhängiger Kommunist glaubte Brandt an die historische Chance des Aufbaus eines „neuen“ Deutschlands in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR. Seine Hoffnungen sah der Ulbricht-Gegner schon vor dem 17. Juni 1953 enttäuscht. Nach dem die Entstalinisierung signalisierenden XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 fuhr Brandt, SED-Bezirkssekretär in Ost-Berlin, nach Moskau, um Aufklärung über das Schicksal seiner Geschwister zu erlangen. Sein Bruder war während der stalinistischen Säuberungen zu Tode gekommen, seine Schwester nach Sibirien verbannt worden.

In jenem Jahr knüpfte Brandt Kontakte zum Ost-Büro der SPD. Im September 1958 flüchtete er vor drohender Verhaftung nach West-Berlin. Im Juni 1961, zwei Monate vor dem Mauerbau,  wurde er nach Ost-Berlin entführt und 1962 zu dreizehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Dank einer internationalen Kampagne kam es 1964 zu seiner Freilassung aus dem Zuchthaus Bautzen. Wieder im Westen, setzte Brandt seine Karriere als Redakteur von „Metall“, der Mitgliederzeitschrift der IG Metall, fort. Nach seiner Pensionierung 1974 zerfiel er mit den Funktionären der Gewerkschaft -, nicht allein wegen deren Befürwortung der Atomenergie - sowie mit der SPD. Als demokratischer Linkssozialist wurde er zum Freund Rudi Dutschkes und engagierte sich im Umkreis der Zeitschrift „Langer Marsch“. In der Gründungsphase der Grünen von vielen als biographisch untadeliger Mitstreiter geschätzt, trat Brandt alsbald wegen der in Teilen der Partei damals anzutreffenden unkritischen Haltung gegenüber der Sowjetunion wieder aus.

In dem zitierten Interview bezeichnete sich Heinz Brandt, Cousin des Psychoanalytikers und Philosophen Erich Fromm, „nicht als Marxist, sondern als Neo-Marxianer“. Er gab einige bemerkenswerte Sätze zu Protokoll. Er sprach von dem „schiefen Bild“, das er und nicht wenige seiner Kampfgefährten 1945 von der Sowjetunion hatten. Sie hegten die Illusion - trotz „einer gewissen Distanz zum stalinistischen System“ -, dass durch die „Begegnung der Menschen der Sowjetunion mit dem europäischen Westen, mit der Demokratie, auch eine Reformation in die Sowjet-Union (sic) getragen würde“. Zugleich glaubten sie an einen demokratischen Neuaufbau in Deutschland nach der Befreiung: „Andererseits kann also tatsächlich von Befreiung gesprochen werden, insofern als das deutsche Volk, soweit es Anhänger oder Mitläufer der Despotie Hitlers war, nun von seinem eigenen Wahn und von diesem schrecklichen, mörderischen Regime befreit war, zwar nicht aus eigener Kraft – dazu war es unfähig, aber es war doch befreit von diesem Behemoth. Aber das gilt, aus heutiger Sicht, nur für den westlichen Teil.“ In der SBZ sei zur gleichen Zeit eine „andersartige Despotie eingepflanzt worden. Und ich selbst habe an dieser Einpflanzung teilgenommen, besten Glaubens.“

Nicht allein für das Projekt einer neuen Gesellschaftsordnung, wie es ihm nach der Befreiung vorgeschwebt habe, sei die Vorstellung einer „Kollektivschuld“ „überhaupt nicht möglich gewesen“. Brandt hatte als Jungförster erlebt, „wie meine Ersatzeltern, dieses Försterehepaar, bei denen (sic) ich war, fast gesetzmäßig dem Nationalsozialismus verfielen.“ Anno 2015, da vielfach undifferenzierter zivilreligiöser Umgang mit Begriffen wie „Schuld“ und „Verantwortung“ gepflegt wird, gewinnen folgende Sätze aus dem Munde eines KZ-Überlebenden historische Aussagekraft: „Ich versuchte von vornherein zu differenzieren zwischen der persönlichen Schuld eines jeden und dem gesellschaftlichen Beeinflussungsapparat, der gesellschaftlichen Manipulation, der die Menschen erlegen waren. Noch dazu in Zeiten der gewaltigen Arbeitslosigkeit, den aberwitzigen Bedingungen des Versailler Vertrages, der Inflation, der weitgehenden Vernichtung des Mittelstandes, und und und.“ (S.10)

Für manche Zeitgenossen von 1985 klangen Brandts Äußerungen über die „reaktionäre, verhängnisvoll konterrevolutionäre Supermacht Sowjet-Union, die ich im Zerfall sehe“ und die sich davon positiv abhebende „progressive Supermacht in den USA“  höchst provokativ. Brandt rügte den „heutigen krassen Antiamerikanismus, und ich würde ganz kraß sagen, der Antiamerikanismus ist die Grundtorheit des ausgehenden 20. Jahrhunderts“ (S.13) Ähnlich unerhört empfanden manche „Linke“ Brandts Einschätzung der DKP, die „nicht eine linke, sondern eine höchst reaktionäre, recht Kraft ist“ (S.12) Der DKP sprach er ungeachtet ihrer sonstigen Bedeutungslosigkeit unverhältnismäßig großen, getarnten Einfluss in der Gewerkschaftsbewegung und in der evangelischen Kirche zu (ibid.) – eine Überspitzung, aber in jener Zeit nicht gänzlich abwegig.

Ossip Flechtheim:
Einen Beitrag (Der Nationalsozialismus – Einige Überlegungen nach einem halben Jahrhundert) steuerte Ossip K. Flechtheim (1909-1998) bei. Der als Begründer der "Futurologie" bekannte Flechtheim, in den 1960er Jahren Mentor und Unterstützer des SDS, anno 1985 längst Emeritus am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin, schrieb als wohlwollender Wegbegleiter des als „nationalneutralistisch“ einsortierten Flügels der „Alternativen Liste“ in West-Berlin. Flechtheim äußerte Besorgnis über die Demontage der Demokratie in der Bundesrepublik und die Verwandlung „in einen A(Atom- und Armee-) und P(Plutonium- und Polizei-Staat)“. Den Nationalsozialismus, den die restaurativen und reaktionären Kräfte an die Macht gebracht hätten, bezeichnete er „anders als den Stalinismus...zunächst einmal [als] eine deutsche (Hervorh. im Text) Krankheit“. „Zusammenfassend sei der Nationalsozialismus definiert als eine extrem-destruktiv-nihilistische Gegenrevolution gegen die »November-Republik«.“ Aus dieser Sicht attestierte er auch der „Bonner Republik“ seit ihrer Gründung Züge der „Restauration“. So schief diese von vielen Linken lange geteilte Wahrnehmung, so präzis erfasste Flechtheim die mit „modernsten Methoden der Macht und Gewalt“ betriebenen destruktiven Dynamik des Nationalsozialismus.

Mit seiner Klassifizierung der „nihilistisch-reaktiven Bewegung“ des Nationalsozialismus als getragen vom gefährdeten Mittelstand und forciert von den „Desperados aller Schichten“ als hartem Kern folgte Flechtheim dem geläufigen Erklärungsmuster. Bemerkenswert sodann ein Satz über die in der Judenvernichtung hervortretende „satanische Komponente“ der nazistischen Gewaltpraxis: „Selbstverständlich reicht weder die soziologische noch die psychologische Deutung der nationalsozialistischen Bewegung zur vollen Erklärung dieses unheimlichen Phänomens aus.“ (S. 15).

Helmut Gollwitzer:
Ein Beitrag mit »Gedanken zum 8.Mai« stammte von dem linksprotestantischen Theologen und Helmut Gollwitzer (1908-1993). In biblischer Sprache, - zugleich in heute ungewohntem patriotischen Ton - beschwor er „das Erbe der Schuld“, das „die Eltern und Großeltern“ hinterlassen hätten. „In der Geschichte der Völker“ gehe es um die Haftungsgemeinschaft der Generationen. Aus dem Judenmord – der Titel „Holocaust“ der TV-Filmserie hatte sich als Begriff noch nicht allgemein duchgesetzt - leitete Gollwitzer die besondere Beziehung der Deutschen zu Israel ab. Immerhin gedachte der linksnationale Gollwitzer „im Besonderen“ auch der „vielen Tausende von Deutschen, die in den Gefängnissen und Konzentrationslagern die ersten Opfer der braunen Herrschaft waren...“ Der 8. Mai 1945 war „für uns Deutsche“ die Stunde der Wahrheit“. „Er war zugleich ein Tag der Trauer und der Klage; denn wir mußten ernten, was wir gesät hatten.“ Zu den Lehren des 8. Mai gehörte auch die Wahrnehmung des Bedrohungszustands durch Vernichtungswaffen, mit denen „die beiden deutschen Staaten so vollgestopft [seien] wie kein anderes Land der Erde. Auch mit diesem Zustand ernten wir noch, was wir gesät haben. Die Teilung Deutschlands und Europas sind Folgen des Weges. für den sich unser Volk 1933 entschieden hat.“ (alle Zitate S.16)

Erhard Lucas-Busemann:
Unter den anderen Beiträgen sind noch zwei hervorzuheben. Der eine (1945 – Welche Chancen hatte der Sozialismus?) war dem Buch des früh verstorbenen Sozialhistorikers Erhard Lucas (1937-1993) „Vom Scheitern der deutschen Arbeiterbewegung“, 1983) entnommen. Lucas berichtete von den in seinem Freundeskreis erzählten Kriegstraumata von Überlebenden, darunter die immer wieder aufsteigende Erinnerung eines Mannes, der nach 1945 Alkoholiker wurde: „Eines Tages liegt er in Rußland in einem Kornfeld, abseits der Truppe, es ist Kampfpause, und er träumt; er ist gar nicht mehr in Rußland, sondern er liegt in einem Kornfeld seiner ostfriesischen Heimat. Plötzlich taucht wenige Meter vor ihm ein Russe auf. Der Russe sieht ihn, er lacht über das ganze Gesicht, er breitet die Arme aus, laß dich umarmen, Bruder, aber in dem Deutschen löst das Unerwartete den eingedrillten Reflex aus, er reißt der Gewehr hoch und schießt dem auf ihn zulaufenden Russen in den Bauch.“ (S.24)

Lucas empfand angesichts der schmerzlichen, von vielen noch lange – auch als Überlebenstechnik - verweigerten Konfrontation mit der Wahrheit der NS-Verbrechen den von dem Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich geprägte Vorstellung von der „Unfähigkeit zu trauern“ - ein ehedem häufig zitierter Buchtitel -  als „unzulänglich“. Die furchtbare Wahrheit hätte zum „Verrücktwerden“ führen müssen. „Verrücktwerden ist mehr als Trauerarbeit.“ (S.25)

Der „Achtundsechziger“ Lucas, dessen Thema nicht nur die von revolutionären Fehlschlägen gekennzeichnete Arbeiterbewegung war, sondern – nachzulesen in dem posthum veröffentlichten, aus Fragmenten entstandenen Buch – eben auch das eigene, von Flucht und Heimatverlust geprägte Lebensschicksal (Erhard Lucas-Busemann: So fielen Königsberg und Breslau. Nachdenken über eine Katastrophe ein halbes Jahrhundert danach, 1994; s. dazu meine Besprechung „Beklagen verboten“ in: FAZ nr. 103 v. 04.05.1995, S. 9) schließt seine Klage über die verpassten und verhinderten Chancen nach 1945 mit bemerkenswerten, aus heutiger Perspektive befremdlich "inkorrekt" klingenden Sätzen: „Die innere Bewegung von Versailles nach Potsdam: von einem Körper mit abgeschnittenen Gliedern (Elsaß-Lothringen, Saargebiet, Oberschlesien usw.) zu einem geteilten Körper. Endlich die gelungene Spaltung, die alles Böse und Zerreißende in den abgetrennten Gebieten ließ und alles Gute und das Leben Stützende hier. Die Teilung Deutschlands war die beste Versicherung gegen das Verrücktwerden – alles Verrücktmachende war »drüben«. Insgeheim waren die Westdeutschen glücklich mit dieser Teilung. Sie ist die Basis ihrer Entwicklung zu einer relativen (und für Deutsche schon ganz beachtlichen) Friedfertigkeit. Sie ist auch die Basis dafür, daß es bei uns eine alternative Gesellschaftsordnung auf absehbare Zeit nicht geben wird.“ (S.26)

Unbekanntes über „Die Moorsoldaten“
Im Blick auf die - in zunehmender historischer Distanz praktizierte – Gedenkkultur bleibt zu fragen, inwieweit für die Nachgeborenen die zwischen Jubel und Schrecken, Faszination und Grauen changierenden Bilder der NS-Zeit die Wahrnehmung der gesamten Realität des NS-Regimes, insbesondere auch die Wahrnehmung einzelner Lebensschicksale nicht oft verdunkeln. Dazu gehört die so banale wie richtige Erkenntnis von der Komplexität der historischen Wirklichkeit. Sie tritt exemplarisch in der Kurzbiographie von Johann Esser hervor (Werner Röhrich: Johann Esser – Poet, Patriot und Freidenker, S.27-28) hervor. Von ihm, dem namentlich kaum bekannten Dichter, stammt die Urfassung der berühmten antifaschistischen Kampfhymne „Die Moorsoldaten“. Sie entstand in dem im Frühjahr 1933 errichteten KZ Börgermoor bei Papenburg, wo sie zum ersten Mal unter der Anleitung von Wolfgang Langhoff, dem späteren Intendanten des Deutschen Theaters in Ost-Berlin eingeübt, von einem neunhundert Mann starken Chor den SS-Bewachern entgegenschallte - mit der provokanten Schlusszeile: „Dann zieh´n die Moorsoldaten nie mehr mit dem Spaten ins Moor!“

Der Arbeiterdichter Johann Esser (1896-1971) wuchs in einem Waisenhaus auf, arbeitete nach der Schulentlassung als Weber, kehrte als Frontsoldat verwundet aus dem I. Weltkrieg zurück und wurde Bergmann im niederrheinischen Revier. Dort schloss er sich als Gewerkschafter der KPD an, wurde in den Betriebsrat seiner Zeche sowie in den Stadtrat von Rheinhausen gewählt. 1933 wurde er von der Straße weg verhaftet, wegen Hochverrats angeklagt, inhaftiert, sodann in die Konzentrationslager Börgermoor und Oranienburg gesteckt. Nach seiner Entlassung musste er sich und seine Familie jahrelang als Arbeitsloser durchschlagen. Zu welchem Zeitpunkt sich der Freidenker Esser von der stalinistischen KPD trennte, geht aus dem erwähnten Artikel nicht hervor. Nach dem II. Weltkrieg „fühlte er sich fortan mehr zur Sozialdemokratie hingezogen“, ohne sich parteipolitisch zu betätigen.

Als „des Vaterlands treueste Söhne“ pries zu Beginn des I. Weltkriegs der Nürnberger Arbeiterdichter Karl Bröger die sozialistisch gesinnten Arbeiter. Diese Worte treffen offenbar auch auf den Verfasser der „Moorsoldaten“ zu: „Johann Esser fühlte, dachte und schrieb immer mehr als deutscher Patriot“, heißt es in dem zitierten biographischen Artikel, der 1980 in dem „Heimatkalender Kreis Wesel“ erschien (S.27).

Bereits in den Nachkriegsjahren war der Name des in einer Bergarbeiterkolonie in Moers lebenden, am Küchentisch schreibenden Dichter Johann Esser verblasst. Er war insbesondere bei den Aktivisten des „Vereins der Verfolgten des Naziregimes“ (VVN) in Ungnade gefallen. Ein Grund dürfte seine Abkehr von der KPD gewesen sein. Einen anderen fanden die Genossen in Essers Haltung nach der Entlassung aus dem Konzentrationslager. Er hatte nicht nur – wie alle anderen Leidensgefährten - einen Revers unterschrieben, der ihn zu politischer Abstinenz verpflichtete, sondern während des „Dritten Reiches“ Gedichte geschrieben, „die den braunen Allgewaltigen so genehm waren, daß sie diese in ihren Publikationsorganen abgedruckt hatten. Tatsache ist aber auch, daß der arbeitslose, bis aufs Blut verfolgte Johann Esser in unbeschreiblichem Maße unter der unmenschlichen Notlage [seiner Familie] litt. [ …] Um den Hunger von seinen Kindern abzuhalten, brauchte er jede Mark. Johann Esser wußte, wie diese seine anderen Verse auf seine Freund wirken mußten, und er bat sie um Verständnis“ (S.28).

III. Zur Dialektik der Befreiung (H.A. 1985)

Ein Volk muß seine Freiheit selbst erobern, nicht zum Geschenk erhalten“, schrieb 1798 der Jakobiner Georg Friedrich Rebmann angesichts der deutschen Zustände in der Revolutionsära. An diese aufklärerischen Worte gilt es zu erinnern, wenn wir die aufwendigen Veranstaltungen zum Gedenken des 8. Mai 1945 - »vierzig Jahre danach« - betrachten. In ganz Deutschland begeht man den Gedenktag nach eigenem politischen Geschmack und mit mehr oder minder großem politischen Geschick. In der BRD, dem westlichen Nachkriegsstaat besinnt man sich so richtig auf den Gedenktag zum erstenmal in seiner Geschichte. Da feiern Reagan und Kohl gemeinsam die Befreiung (West-)Deutschlands zur freiheitlichen Demokratie und laden westdeutsche Jugendliche zum schuldkomplexfreien Mitfeiern aufs Hambacher Schloß, die Pflanzstätte der deutschen Demokratie, ein, um in Wirklichkeit den Eintritt der BRD in die NATO am 5. Mai 1955 - »zehn Jahre danach«- zu feiern. Bei der Gegenveranstaltung der SPD in Nürnberg, dem Schauplatz der NS-faschistischen Massenrituale und des alliierten Tribunals über die Nazi-Verbrecher, bleibt der im deutschen »Volksempfinden« verankerte Widerspruch zwischen »Niederlage« und »Befreiung« eher verdeckt.

Hingegen feiert die DDR seit ihrer Staatsgründung von Skrupeln ungetrübt, den 8. Mai nicht nur als Tag der »Befreiung«, sondern auch als Tag des Sieges: An der Seite der Sowjetunion, ohne deren Rote Armee die Befreiung Europas vom Hitlerfaschismus nicht möglich gewesen wäre, fühlt sich der ostdeutsche Staat nach Vorstellung seiner staatstragenden Einheitspartei zu den Siegern gehörig. So überlagert hüben wie drüben der Wunsch die Wirklichkeit, die (tages-)politische Absicht verdeckt den Zugang zur historischen Kausalität.

Die Befreiung von außen

Am Faktum der Befreiung kann und darf es keinen Zweifel geben. Befreit wurden die Völker Europas von Okkupation und Terror des nationalsozialistischen Deutschlands und seiner faschistischen Kollaborateure. In Osteuropa brachte allein das Vorrücken der Roten Armee die Mordmaschinerie der Vernichtungslager zum Stillstand, im Zuge der Besetzung Deutschlands durch die Armeen der Anti-Hitler-Koalition wurden die Überlebenden des Terrors aus den Konzentrationslagern und Zuchthäusern befreit. Befreit durch die Niederlage und Kapitulation der Wehrmacht wurde schließlich auch die deutsche Bevölkerung, die in den letzten Kriegsmonaten in wachsender Angst vor dem Terror der SS gegen »Defätisten« lebte.  Als – nur wenige Tage nach dem Selbstmord Hitler – die Kapitulation der Wehrmacht bekannt wurde, als die Waffen endlich schwiegen, ging wohl ein Aufatmen durch die Bevölkerung, gerade auch bei jenen Menschen, die inmitten der Verwüstungen der letzten Kriegsphase nur noch mit dem nackten Leben davongekommen waren: Hatte der Schrecken zuletzt auch die Deutschen eingeholt, die in den Kriegsjahren zuvor in vielfach ungeordneten Stimmungs- und Bewußtseinslagen nationaler Hybris und Siegeseuphorie, Zweifel und Ungewißheit, Anpassungsbereitschaft und Opportunismus, nicht eingestandener Schuldkomplizenschaft und Angst vor Rache der Sieger, innerer Distanz zum Regime und offener Widerstandshaltung – das NS-Regime unterstützt bzw. ertragen hatten, so spürte man beim Ende des Schreckens Erleichterung – mit Ausnahme jener relativ großen Minderheit von Durchhaltefanatikern.

Doch die Befreiung kam von außen durch die Heere der Siegermächte, und die Kosten der Befreiung waren immens: Hatte die großdeutsche Wehrmacht bei ihrem Vernichtungskrieg in Polen und in der Sowjetunion eine Trümmerwüste hinterlassen, so lagen jetzt die deutschen Städte in Schutt und Asche. Flüchtlingsströme zogen über die Chausseen, Hunderttausende von Wehrmachtsangehörigen wanderten in die Gefangenenlager. Die Bevölkerung wurde vielfach Objekt der Siegerwillkür, wobei Vergewaltigungen keineswegs nur das Monopol einer Armee waren. Schließlich wurde auf der Potsdamer Konferenz, die als Ereignis kaum wahrgenommen wurde, die Abtretung der preußischen Ostprovinzen dekretiert und weitere Vertreibungen von Deutschen aus ganz Ostmitteleuropa abgesegnet.

Vom Umgang mit der Befreiung von außen

Vor diesem konkreten Erfahrungshintergrund vieler Deutscher, in der die Anteilnahme am Leid der anderen Völker nur selten Platz fand, kommt man dem Verständnis jener in Deutschland noch heute vorherrschenden, starrsinnigen Bewußtseinslage nahe – der Weigerung, den »Zusammenbruch« als Befreiung zu begreifen.

An der kollektiven Erinnerung der Deutschen, die im Grunde eine selektive – subjektiv eingefärrbt, nicht schlechterdings falsch – ist, scheitert noch heute das Bestreben der antifaschistischen Aufklärung, den 8. Mai als Tag der Befreiung im deutschen Bewußtsein zu verankern. Hinzu kommt eine entscheidender historischer Faktor, den gerade viele westdeutsche Linke in ihrer eindimensionalen Betrachtung des antifaschistischen Widerstands selbst nicht wahrhaben wollen: nach der kampflosen Niederlage gegenüber dem NS-Faschismus in den Jahren 1932/33 und der Zerschlagung der Arbeiterbewegung in den Jahren nach der Machtergreifung schlugen alle Ansätze zur deutschen Selbstbefreiung vom Verbrecher-Regime fehl. Mit Bitterkeit gedenken wir des Scheiterns des 20. Juli 1944 – zu dem sich viele Linke, teils aus unzureichender Faktenkenntnis, teils aus Aversion gegenüber der langjährigen Monopolisierung durch die konservative Rechte in der BRD – kaum bekennen wollen. Selbst in der Endphase des NS-Regimes schlugen noch Unternehmungen wie die „Freiheitsaktion Bayern“ des Hauptmanns Gerngroß in München fehl, wo es nur noch darum ging, unsinnige Opfer und Zerstörungen durch geordnete Übergabe zu vermeiden.

Angesichts des Fehlens eines politisch erfolgreichen Antifaschismus gegen den deutschen Nazi-Faschismus herrscht in der jüngeren westdeutschen Linken mancherorts die Tendenz, Umfang und Qualität des antifaschistischen Widerstands generell abzuwerten und sich in Verlängerung der Kollektivschuld-These von der historischen Verantwortung für die deutsche Nation überhaupt zu distanzieren. Dahinter steckt das Bestreben, sich in vermeintlich antifaschistischem Bewußtsein der in die Gegenwart hineinwirkenden Realität – dem Faktum der Befreiung von außen, nicht aus eigener Kraft – zu entziehen. In vertrackter Dialektik verbindet diese nicht eingestandene Scham über die Befreiung von außen jene westdeutschen Linken mit dem Teil des deutschen Volkes, der – anscheinend unbelehrbar – Mitläufertum und Anpassung aus der NS-Vergangenheit in den Alltagsopportunismus der Gegenwart übersetzt hat. Ohne den angepaßten Bundesbürger, der sich weigert, sich den Schrecken der Vergangenheit und der Frage nach dem Sinn der Befreiung von außen zu stellen, verliert der verengte westdeutsche Antifaschismus, der sich weigert , sich der heutigen Realität – ein geteiltes Land mit vielfach gebrochenen Traditionen – zu stellen, seine Legitimation.

Anders in der DDR. Hier wird mit der Erinnerung an den Widerstand der deutschen Antifaschisten eine Tradition gepflegt, die es den Deutschen jenseits der Teilungslinie erlaubt, sich in die Kontinuität des antifaschistischen Kampfes zu stellen, die Belastung durch die deutsche Geschichte – durch Nazismus und Befreiung von außen – leichter zu ertragen. Über die Konsequenzen der DDR-Nationalpädagogik berichtet der Regisseur Adolf Dresen. Sein Sohn fand »klar«, daß es in seinem Heimatdorf kein Kriegerdenkmal für den 2. Weltkrieg gebe. »Das sei klar, weil wir den 2. Weltkrieg an der Seite der Roten Armee gewonnen hätten. - Wer ihn verloren hätte? - Die Deutschen. - Und wo seien die Deutschen? - Drüben.«

Die historischen Kosten von Befreiung und Besetzung

Das Scheitern der Selbstbefreiung vom Faschismus verbindet sich für die deutsche Linke mit der Erinnerung an ihre Niederlagen. Die letzte dieser Niederlagen fällt in die Zeit nach dem 8. Mai 1945. Sie resultiert aus der Tatsache, daß die Befreiung Deutschlands identisch mit der Besetzung war. Heute, da es zur staatstragenden, auch vermeintlich linken« Pädagogik in der BRD gehört, die deutsche Teilung als notwendige, unausweichliche Folge des Hitler-Faschismus zu begreifen, bedürfen die Fakten der deutschen Nachkriegsgeschichte der Aufklärung.

Die vernichtenden Worte August Thalheimers über die Potsdamer Beschlüsse, die immerhin noch von der Einheit Deutschlands ausgingen, können das kämpferische Selbstbewußtsein der antifaschistischen deutschen Linken erhellen: „Deutschlands Teilung in vier Besatzungszonen auf unbegrenzte Zeit ist gleichbedeutend mit der faktischen Aufhebung der nationalen Einheit eines großen Volkes. Kein lebendes Volk...kann freiwillig seine Zustimmung zu seiner eigenen Vierteilung geben... Diese Vierteilung kann nur ein Aufmarsch sein zu einer kommenden Auseinandersetzung unter den Besatzungsmächten um die Herrschaft über ganz Deutschland. […] Der Hauptzweck der Okkupation und Entwaffnung ist gerade, die sozialistische Revolution zu verhindern.“

Nicht in allen Punkten sollte der unabhängige Kommunist (KPO) Thalheimer recht behalten. Zwar mündete der Konflikt zwischen den Siegermächten in den Kalten Krieg, aber dieser führte über die Zweiteilung Deutschlands und Berlins, über die Gründung der beiden Teilstaaten in die Militärblöcke, auf einigen Umwegen zu dem von den beiden Supermächten schließlich als ihren Hegemonialinteressen durchaus dienlich empfundenen Patt. Diese Patt definiert den heutigen Status quo in Deutschland und Europa.

Thalheimers Prognose vom September 1945 kennzeichnet hingegen treffend das politische Schicksal des Sozialismus in Deutschland. Mit unterschiedlichen Druckmitteln wurde in allen vier Zonen die Aktivität der überall entstandenen Antifaschistischen Aktionsausschüsse, die in Betrieben und Kommunen in den Tagen nach der Befreiung die demokratische Selbstverwaltung organisiert hatten, von den Besatzungsbehörden wieder rückgängig gemacht. Im Zeichen der Besatzungsrealität schwanden die Hoffnungen der nationalen antifaschistischen Linken in Deutschland – nachzulesen etwa in Hans Werner Richters Zeitschrift »Der Ruf«, die 1947 von der amerikanischen Lizenzbehörde verboten wurde.

Gewiss steht zu bezweifeln, ob eine einige Linke in der Nachkriegsphase zu vereintem Handeln im Sinne eines eigenen »deutschen Weges zum Sozialismus« (so die in der Ostzone bis 1948 gültige These Anton Ackermanns) fähig gewesen wäre. Auf dem »Buchenwalder Manifest« vom 13. April 1945 fehlten die Unterschriften der deutschen Kommunisten. Symbolhaft für die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung wirkt heute noch der Flaggenappell der Häftlinge aller Nationen im befreiten KZ Buchenwald zum 1.Mai 1945: Die KPD-Angehörigen versammelten sich hinter der roten Fahne, die übrigen deutschen Sozialisten hinter den republikanischen Farben Schwarz-Rot-Gold. Dennoch: ohne die durch die Entzweiung der Siegermächte bewirkte Spaltung Deutschlands wäre es nicht zu der entschlossenen Parteinahme unter den Zeichen von »Freiheit und demokratischer Sozialismus« hüben, von »Frieden und Sozialismus« drüben, in Wirklichkeit für die beiden Staatsoktrois der Siegermächte, gekommen. 
 
Im Zeichen des vermeintlich unausweichlichen Ost-West-Konflikts waren die Einheitsschwüre aus den Jahren nach 1933 schnell vergessen. Die ideologisch-organisatorische Spaltung der Arbeiterparteien nahm die Spaltung des Landes vorweg, begleitete, ergänzte und vertiefte sie. So kam die im 1. Weltkrieg und in den Geburtsjahren der Weimarer Republik begründete Verfeindung der Flügel der deutschen Arbeiterbewegung erneut verhängnisvoll zum Tragen. Heute wird im Zeichen beiderseitiger Hinnahme, ja Verteidigung des »deutsch-deutschen« Status quo der geographische Riß durch die eigene linke Traditionsgeschichte pragmatisch verdrängt. Häufig nach wie vor untereinander spinnefeind in der BRD, praktizieren Kommunisten und Sozialdemokraten im Blick auf die groteske »deutsch-deutsche« Grenze den Grundsatz des Augsburger Religionsfriedens (1555): Cuius regio, eius et religio. Wie damals der Gewissensbegriff der Reformation, so bleibt heute das demokratische Selbstverständnis auf der Strecke. Wem´s nicht paßt, kann (vielleicht) gehen. Die Zahl der Ausreisen aus der DDR gilt sodann als Gradmesser der Liberalität des » anderen deutschen Staates«...

Dass die bürgerlichen Parteien in Deutschland in den Jahren 1947/48 ebenso leicht entlang der west-östlichen Zonengrenze separiert wurden, vermag nur die Folgen der Befreiung von außen zu illustrieren: die Kräfte, die aus antifaschistischem Patriotismus an der Einheit Deutschlands festzuhalten bestrebt waren wie Jakob Kaiser (CDU), Wilhelm Külz (LDPD) u.a., scheiterten sowohl an den politischen Absichten der Besatzungsmacht als auch an den innerparteilichen Strategien der Befürworter der jeweiligen Staatsgründung (Adenauer-Nuschke, Dieckmann-Heuß).

Vor dem Hintergrund der Zerstörung und des Nachkriegselends vielleicht verständlich, obsiegte allenthalben die Bereitschaft zur Anpassung über den Impuls der nationalen Selbstbehauptung. Ein vergebliches Opfer brachten diejenigen bürgerlichen und sozialistischen Antifaschisten, die sich den Jahren des Kalten Krieges vor und nach der doppelten Staatsgründung – nicht zuletzt um der Erhaltung der Einheit Deutschlands willen – auf verschiedenen Ebenen in die Ost-West-Intrigen einspannen ließen: Angehörige des SPD-Ostbüros dort, die früher oder später in Lager und Zuchthäuser wanderten, Linkssozialisten und Nationalneutralisten hier, die häufig mit Berufsverboten, teilweise auch mit Gefängnisstrafen belegt wurden (wie z.B. der Gewerkschaftstheoretiker Viktor Agartz). [Anm.: Dieser Satz enthielt einen Irrtum: Agartz wurde am 13.12.1957 vom Bundesgerichtshof von der Anklage des Landesverrats mangels an Beweisen freigesprochen. Zu Agartz s. den Aufsatz von Christoph Jünke: „Das dritte Leben des Viktor Agartz, in: Globkult v. 06.12.2014; http://www.globkult.de/geschichte/personen/973-das-dritte-leben-des-viktor-agartz. ]

Im bundesdeutschen Bemühen um die »Bewältigung« der Nazi-Vergangenheit sind diese Fakten der Nachkriegsgeschichte in den Hintergrund gedrängt worden. Nicht von ungefähr: die Reflexion der keineswegs geradlinigen Geschichte der deutschen Teilung könnte Zweifel an der in der Ära Adenauer durchgesetzten westdeutschen Grundentscheidung – die militärische und politische Westintegration um den Preis der deutschen Einheit – wecken.

Hingegen war man sich in der westdeutschen Linken bis in die 60er Jahre der politischen Kosten des Verzichts auf die nationale Einheit durch die Adenauer-Regierung noch vollauf bewußt. Der repressive Charakter des DDR-Regimes, der politische Alltag des Realsozialismus Ulbrichtscher Prägung, minderte einerseits die Chancen sozialistischer Reform, einer Gesellschaft jenseits des Kapitalismus, im Westen, andererseits bedurfte die Adenauersche Westintegration des abschreckenden Gegenbildes der »Zone«. Die Wiedervereinigungspolitik der SPD in den 50er Jahren, die mit »nationalneutralistischer« Stoßrichtung aus der Kritik der militärischen Blockbildung entwickelt wurde – zuletzt im Deutschlandplan der SPD von 1959 – hatte immer auch eine ideologisch-programmatische Dimension. »Sozialismus in einem halben Land« (D. Staritz), so wußte man damals noch in der Sozialdemokratie, ließ sich nicht verwirklichen. [Anm: Der hier genannte Dietrich Staritz wurde nach dem Mauerfall als Stasi-Agent an der FU Berlin enttarnt.]

So ist die Geschichte der kapitalistischen Rekonstruktion der Bundesrepublik – eine beispiellose Geschichte des Erfolgs eines kapitalistischen Wachstumsmodells – zugleich die Geschichte des Niedergangs der sozialistischen Alternative in der Bundesrepublik. Das »Modell Deutschland«, mit dem SPD in der Ära Schmidt reüssierte, repräsentierte die Anwendung Keynesianischer Lehren in der Phase enormen Wachstums seit Ende der 60erJahre. [Anm.: Gegenüber den 1950er Jahren waren die im Zuge des Aufschwungs nach der Strukturkrise 1966/1967 erzielten Wachstumsraten deutlich geringer. Im Gefolge der Ölkrise 1973 mündete der Aufschwung in eine Phase relativer Stagnation, die sodann in den 1980er Jahren wieder durch moderates Wachstum abgelöst wurde.]
Nicht zufällig fällt in jene Zeit, da die BRD als westlicher Musterstaat geschätzt wurde, die Aufgabe der Zielvorstellung der Ostpolitik in der Ära Bahr-Brandt, die noch auf Wiedervereinigung [Anm.; besser „Neuvereinigung“] gerichtet war, während der »demokratische Sozialismus« in der SPD zum Gegenstand von Festreden bzw. pietätvoller Programmdiskussion erstarrte, vollzog die Partei den realen Abschied von der Nation. Zuweilen hält man noch am deutschen Selbstbestimmungsrecht fest, aber realiter bejaht man das Faktum der endgültigen Teilung. Nicht zufällig sekundierte Horst Ehmke de italienischen Christdemokraten Andreotti, als dieser die Zweiteilung der »germanischen Staaten« für unaufhebbar erklärte. „Die Einheit der Nation ...ist nicht identisch mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten erklärte die SPD-Bundestagsfraktion einstimmig im November 1984. „Die Idee eines deutschen Sonderwegs – sei es eines vereinten Deutschlands oder nur für die Bundesrepublik ist unrealistisch. Er würde die politische Stabilität in Europa gefährden und ist deshalb ausgeschlossen.“

40 Jahre Frieden?

In der Erklärung Helmut Schmidt zur »Lage der Nation« hieß es 1979, „daß die deutsche Teilung...ein Element des europäischen Friedens ist, das den Frieden sichert.“ Schon lange vor jener Zeit, in der der NATO-Doppelbeschluß vom Dezember 1979 vorbereitete wurde, bestimmte dieses aus dem Gleichgewichtsaxiom und der west-östlichen Blocklogik abgeleitete Dogma den sicherheits- und außenpolitischen Grundkonsens der BRD. Doch zumindest zielte die Konzeption der Ostpolitik in ihrer Eröffnungsphase noch auf die Überwindung der Blockstruktur und in deren Gefolge auf die Wiedergewinnung der deutschen Einheit. Heute ist davon keine Rede mehr. Die Schlagworte der beiden großen staatstragenden Parteien in der BRD ergänzen sich: für die CDU geht nach wie vor »Freiheit vor Einheit«, für die SPD geht »Frieden vor Einheit«. Mit Ausnahme einzelner Vorkämpfer der Grünen wird die Blocklogik hierzulande nicht in Frage gestellt.

Nicht zufällig rückt bei dem von allerlei Kalamitäten begleiteten Gedenken des 8. Mai 1945 die These in den Vordergrund, seit dem Ende des 2. Weltkrieges sei dem Kontinent Europa eine einzigartige Friedensperiode beschert worden. Angesichts der offenkundigen politischen, sozialen und menschlichen Kosten des europäischen Friedens unter dem »System von Jalta« sind Zweifel an dieser These angebracht. Vollends fragwürdig wird die These vor dem Hintergrund der Bedrohung des Kontinents durch die Blockkonfrontation und die kontinuierliche Anhäufung von atomaren Massenvernichtungswaffen auf deutschem Boden beiderseits der Blockgrenze. Zu Recht hieß es im Havemann-Brief vom Herbst 1981 auf dem Höhepunkt der Friedensbewegung; »Die Teilung Deutschlands schuf nicht Sicherheit, sondern wurde Voraussetzung der tödlichsten Bedrohung, die es in Europa jemals gegeben hat.«

Daß die Gefahren der Konfrontation an der Blockgrenze nicht ins Bewußtsein gehoben werden, daß die Forderung nach einem Friedensvertrag, nach Abzug der fremden Truppe und Herstellung der deutschen Einheit bei den Gedenkfeiern zum 8. Mai nicht zur Sprache kommen, ist von der Regie der Veranstaltungen – auch so mancher im Umkreis der Friedensbewegung – durchaus beabsichtigt. Die Gedenkfeiern in beiden deutschen Teilstaaten dienen der Befestigung des Status quo. Wie die Kernsätze des Havemann-Briefes in den zurückliegenden Jahren von den politischen Kräften der BRD teils ignoriert, teils zurückgedrängt wurden, fehlt es heute - »vierzig Jahre danach« - vor allem im westlichen Deutschland an Zivilcourage, vom realen Unfrieden aufgrund der deutschen Teilung, von der Herbeiführung des europäischen Friedens durch die Lösung der Deutschen Frage, zu sprechen – auch dies gehört zum Erbe des 8. Mai 1945, zur Dialektik der Befreiung von außen.













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