Dienstag, 17. Dezember 2013

Revisionismus: Chr. Clark, Fritz Fischer, Egmont Zechlin

Nachdem zur (post-)christlichen Weihnachtszeit das ewige Gedenkjahr 2013 endlich abgefeiert ist, steht das 100jährige Gedenken der europäischen "primordial catastrophe" (G.F. Kennan) bevor. Die Debatte steht  schon jetzt im Zeichen von Christopher Clarks Bestseller "Die Schlafwandler"  (The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914, erstmals 2012). Das Buch des in Cambridge lehrenden australischen Historikers  über den Ausbruch des 1. Weltkriegs und dessen komplexes Ursachengeflecht, in welchem dem Deutschen Reich kein anderer Anteil als der der anderen Beteiligten am Kriegsausbruch zugeschrieben wird, hat die geschichtsideologischen Grundfesten der bundesrepublikanischen classe discutante erschüttert.

Natürlich hat der ZEIT-Redakteur  Volker Ullrich ("Zündschnur und Pulverfass", in: Die Zeit, 17.09.2013) in seiner Rezension derlei Revision(ismus) bereits für unzulässig erklärt und den Schwarzen Peter wieder  an die Deutschen zurückgeschoben. Die  "Akteure in Berlin" in Berlin hätten allein Österreich-Ungarn "von der militärischen Aktion gegen Serbien zurückhalten [können], die nach Lage der Dinge den großen Krieg nach sich ziehen musste." Damit fällt die  Hauptverantwortung in der Sicht des Redakteurs wie gehabt auf das Deutsche Reich zurück. Für Ullrich besteht auch nach dem Buch von Christopher Clark kein Anlass, "diese Erkenntnis" zu revidieren. Wenngleich er  - gleichsam zur Kaschierung seiner eigenen Überzeugung - einleitend behauptet, die Kriegsschuldthesen Fritz Fischers hätten sich keineswegs allgemein durchgesetzt, geht es Ullrich  in seiner Kritik an Christopher Clark um nichts anderes als um die Behauptung eben dieser Position. Er ficht gegen die "Revision der Revision" und glaubt anscheinend noch immer an den historischen Endsieg in der Schlacht um die deutsche Haupt-, wenn nicht Alleinschuld. Emphatisch  hatte Ullrich zwei Jahren zuvor geschrieben: "Noch heute empfinde ich uneingeschränkte Bewunderung für die Courage, mit der Fischer der historischen Wahrheit eine Gasse gebahnt hat." (http://www.zeit.de/2011/44/Fischer-Kontroverse). Die für die Historiographie grundlegende Pilatus-Frage scheint für Historiker wie Ullrich keine Frage zu sein. 

Fritz Fischers "Griff nach der Weltmacht" (1961/1967) bestimmte - nach   ersten Aufsätzen  zur deutschen Kriegszielpolitik 1914-1918 (HZ 188/1959) und zur "Kontinuität des Irrtums" (HZ 191/1960) - seit Beginn der 1960er Jahre das westdeutsche Geschichtsbild. (Für die DDR war ohnehin schön abstrakt - und dessen ungeachtet nicht gar so fern der historischen Wirklichkeit - "der Imperialismus" an allem schuld.) Fischers ausschließlich aus deutschen Akten abgeleiteten Thesen hinderten mehrere Generationen - vor und nach "1968" -an nüchterner, vorurteilsfreier  Betrachtung des Weges in den "Selbstmord Europas" (Paul Ricoeur). Angemerkt sei, dass selbst Fischers Schüler Imanuel Geiss schon vor dem Epochenjahr 1989 zu einer etwas anderen Sicht der Dinge gelangte.

Inzwischen gelten Fischers Thesen - von den naturgemäß ausufernden, von Siegesaussichten inspirierten Kriegszielen in Bethmann-Hollwegs Septemberprogramm von 1914 schlossen Fischer und seine Adepten rückwirkend (post hoc ergo propter hoc) auf zielgerichtete deutsche Kriegstreiberei während der Julikrise - unter jüngeren in- und ausländischen Historikern als kaum noch diskutabel. In einer Diskussion mit dem Journalisten Peter Voß (in 3Sat am 16.12.2013) attestierte Herfried Münkler, der seinerseits soeben ein Buch über den 1. Weltkrieg ("Der Große Krieg. Die Welt 1914-1918", 2013) geschrieben hat, den Arbeiten Fischers  Niveau und Qualität von "Proseminararbeiten".

Ob sich im Gefolge der "revisionistischen" Werke über den mit der " Kriegsschuld" (von John Foster Dulles, dem jungen New Yorker Rechtsanwalt in Woodrow Wilsons  Friedensdelegation, formulierten Art. 231 des Versailler Vertrages) verwobenen Ursachenkomplex auch das  deutsche zivilreligiöse Dogma der zwiefachen Schuld aufgehoben wird, bleibt abzuwarten. Insofern wir es  mit einem hochpolitischen Credo einer vom säkularisierten Protestantismus imprägnierten Nation - oder im Blick auf Ideologie und Demographie Post-Nation - zu tun  haben, der infolge der Weltkriege, insbesondere durch die Nazi-Katastrophe, politische Urteilskraft und/oder geistige Selbstbestimmung  abhanden gekommen ist, verdient ein Aspekt der Jahrzehnte zurückliegenden Fischer-Kontroverse Beachtung: Zu den Hauptgegnern der "Kriegsschuldthese" zählte neben Gerhard Ritter,  dem  Goerdeler-Widerstandskreis zugehörigen konservativ-protestantischen Historiker, Fischers Hamburger Kollege Egmont Zechlin.

Wie Ritter war Zechlin ein Repräsentant des Widerstandes. Wenngleich seit 1933 NSDAP-Mitglied, gehörte er zu den Freunden Arvid Harnacks (1901-1942), des vom religiösen Sozialismus geprägten Protagonisten der "Roten Kapelle". Unmittelbar bevor  die Gestapo Anfang September 1942 gegen die Gruppe um Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack zuschlug, verbrachte er noch Urlaubstage mit Arvid und Mildred Harnack in Ostpreußen.

Umgekehrt trug der aus dem fränkischen Protestantismus stammende Kriegsschuldforscher Fischer (1908-1999) eine sehr spezifische persönliche Schuldbelastung mit sich herum. Von Haus aus Theologe, gehörte er in  jungen Jahren im Umfeld des Nationalsozialismus dem "Bund Oberland" an. Um 1933 zählte er zu den Anhängern der "Deutschen Christen". Seine Karriere als Historiker begann er 1939 an dem außerhalb der Universität angesiedelten "Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschland" in Braunschweig unter der Leitung von Walter Frank (1905-1945). Dieser Mann brachte sich NS-politisch korrekt beim Finale des Hitler-Reiches um. Zur Ironie der deutschen Nachkriegsgeschichte gehört das Faktum, dass aus diesem Nazi-Institut das Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung hervorgehen sollte.

Dass die Fischer-Thesen das bundesrepublikanische Bewußtsein über Jahrzehnte hin prägen konnten und noch heute in der politischen Liturgie (und in den Predigten) des " progressiven" Protestantismus zu vernehmen sind, war kein Zufall, sondern Teil der deutschen Geschichtsmisere. Die aus dem Mauerfall 1989 erwachsene Hoffnung auf Regeneration erlebte in der Ära Schröder eine kurze Renaissance, hat sich seither wieder verflüchtigt. Vielleicht erleben wir im Gedenkjahr 2014 eine wundersame Wende zum Besseren, zur ideologiefreien Betrachtung und Analyse der historisch-politischen Wirklichkeit.

P.S. 27.12.2013
Die heutige FAZ  (v. 27.12.2013, S. 31) widmet die ganze erste Seite des Feuilletons dem bevorstehenden Gedenken an 1914. In seinem kurzen Beitrag preist der deutsch-englische Historiker John C.G. Röhl (geb. 1938 in London als Sohn eines deutschen Vaters), Autor einer  dreibändigen Biographie über Wilhelm II. (worin der Kaiser mit  allen nur denkbaren negativen Zügen ausgestattet erscheint) Fritz Fischer erneut als denjenigen, der in seinem "bahnbrechenden Werk"   die entscheidende Antwort auf die Frage gebracht habe, warum sich "mein Mutterland genötigt [fühlte], meinem Vaterlande gleich zwei Mal den Krieg zu erklären". Fischer habe anhand der  Kriegsziel-Denkschrift Bethmann-Hollwegs vom 9. September 1914 die lange verhüllte Ursache ans Licht gebracht. Das auf kontinentale Expansion und Suprematie gerichtete deutsche Kriegszielprogramm sei für "die ozeanische Supermacht Großbritannien" unerträglich gewesen. "Eine derartige gewaltsame Revolutionierung des europäischen Staatssystems (sic!, womöglich Übersetzungsfehler für "system of states") war 1914 für Großbritannien ebenso unerträglich wie 1940."

Immerhin argumentiert Röhl hier real-, id est machtpolitisch, nicht moralpolitisch. Doch  ignoriert er die Chronologie: Die englische Kriegserklärung an das Deutsche Reich erfolgte am 4. August 1914.


Zur Illustration der "Kriegsschuld" und ihrer Zwecknutzung nachfolgend ein (minimal redigierter) online-Kommentar zur Behandlung der Thematik im Zentralorgan der Bundesrepublik:
  1. Kommentar zu Volker Ullrichs [ ZEIT- Rezension vom 17.09.2013] von Ch. Clark

    Während deutsche Historiker immer entsprechend dem Zeitgeist gearbeitet haben ( im Kaiserreich deutschnational, im 3.Reich nationalsozialistisch, in der Bundesrepublik entsprechend den Vorgaben der Sieger) muss man auf einen Australier warten, der neutral an die Geschichte herangeht. Deutsche Historiker sind dazu nicht fähig.
    Die "Zeit" beginnt das Gespräch mit [dem polnischen Publizisten Adam] Krzeminski über die Aussagen von Clark mit dem Satz, wen interessiert diese altmodische Frage über den Beginn des 1.Weltkrieges überhaupt noch?
    Diese Frage ist aber im Ausland noch von Bedeutung. In der "Zeit" vom 15.3.2012 hat Eugenio Scalfari ("Repubblica" in Italien) die Aussage gemacht, wenn Deutschland nicht die italienischen Schulden übernimmt, dann lädt Deutschland sich die vierte Schuld auf. Die vierte Schuld nach den letzten drei wie da sind : 1.Weltkrieg, 2.Weltkrieg und der Holocaust.
    Sollte es also gelingen, die Alleinschuld am 1.Weltkrieg in Frage zu stellen, dann hat es für uns heute Bedeutung, wir haben möglicherweise wieder eine Schuld gut. Und möglicherweise Bürgschaften vermieden.
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