Donnerstag, 27. Juni 2013

Geopolitische und demokratische Praxis

Warum wir Demokraten weiter hoffen dürfen 

Wer sich selbst zitiert, begibt sich unter sein Niveau, heißt es bei Ernst Jünger. Nichtsdestotrotz erachte ich einen  Verstoß gegen die Jüngersche Maxime für hinnehmbar, angesichts der Tatsache, dass man manche Dinge gar nicht oft genug wiederholen kann, um sich Gehör zu verschaffen,   "to hammer home a simple truth". Aus gegebenem Anlass:

Die EU-Mächtigen haben soeben, angespornt durch die beachtlichen demokratischen  Fortschritte Erdogans in Istanbul, die Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei angekündigt - für den Herbst d.J., nach einer als pädagogische Maßnahme gedachten Scham- und Sommerpause. Wann der Beitritt der anatolischen Musterdemokraten stattfinden soll, bleibt terminlich  zwar weiterhin offen, aber wir Demokratinnen und Demokraten dürfen unverzagt  hoffen, dass sich die im EU-Sternenkreis vereinte Wertegemeinschaft ungebremst erweitert, verdichtet und pluralistisch bereichert. Fraglos erfüllt diese Vision auch den US-Präsidenten Obama, wie es seiner Rede hinter/vor - je nach Perspektive - dem Brandenburger Tor -  an die deutsche Nation, sich ihrer Verantwortung für die Schwulenehe  in und für Europa stärker bewusst zu werden, zu entnehmen war. Der nach dem großen Aufbruch 1813  abgeschiedene Johann Gottlieb Fichte hätte es nicht besser sagen können.

Die von Obama beschworene Verantwortung der Deutschen spiegelt sich bereits seit langem deutlich  in Guido Westerwelles Liebe zum starken Mann am Bosporus, während sich Frau Merkel in ihrer Gefühlslage bislang anscheinend noch im unklaren ist. Im Blick auf die von allen -  derzeit von allen 27-28  EU-Regierungen außer den Niederländern (und Merkel?) -  angestrebte schöne neue Welt in und für Europa zitiere ich nachfolgend die Schlusspassagen aus einem 2009 in Iablis veröffentlichten, aus einem Referat für Kondiaf  (Kondylis Institut für Alterationsforschung) hervorgegangenen Essay zum Thema "Geopolitik": http://www.iablis.de/iablis_t/2009/ammon09.html.



8) Unsere Überlegungen münden in skeptische Fragen: Ist entgegen allen bürokratisch verfolgten Bestrebungen in Richtung ›Vereinigte Staaten von Europa‹ ein politisch handlungsfähiges Subjekt ›Europa‹ eine realistische Zielvorstellung? Was bedeutet der von den Eliten angestrebte EU-Beitritt der Türkei für das historisch-kulturelle und geopolitische Selbstverständnis des alten Kontinents? Ist ein solches Europa unweigerlich den global-politischen Ambitionen der USA (sowie ihrer geostrategischen und geopolitischen Interessenallianz mit der Türkei und Israel) ausgesetzt? Wie könnte sich ein solches Europa den – panturanisch motiviert und ideologisiert – nach Zentralasien ausgreifenden Machtprojektionen der Türkei widersetzen? 

9) Im Falle des Misslingens einer Integration unter deutsch-französischer und/oder französisch-deutscher Führung: Welche Achsenbildungen sind innerhalb EU-Europas abzusehen, was bedeutete die ›Balkanisierung‹ des Kontinents für ein Land wie Deutschland?

10) Ist ein Europa, in dem sich dank dem geschichtlichen Reduktionismus der (west-)deutschen Deutungseliten die Funktionseliten des Landes in der Mitte ihrer Geschichtsverantwortung entledigt haben, im Mächtefeld des 21. Jahrhundert noch handlungsfähig? Welches Interesse für die historisch-kulturellen Grundlagen und die geopolitischen Koordinaten Europas ist bei den multiethnisch geprägten Eliten der nächsten Generation zu erwarten? Was sollte ihnen an einem – trotz oder wegen des epochalen Umbruchs 1989 – anscheinend historisch widerlegten Land gelegen sein? Wieviel Zeit bleibt dem Land, einst »reich an Gedanken« (Hölderlin), zur Bestimmung seiner Zukunft im mutmaßlich konfliktreichen Pluriversum des 21. Jahrhunderts?

Die obigen Thesen zur Zukunft Europas und Deutschlands - auch im Kontext meiner Europa-Betrachtungen  in Globkult (03.03.2013) http://www.globkult.de/politik/europa/849-betrachtungen-zur-realen-verfassung-der-eu  zu lesen  - bedürfen hinsichtlich der türkischen Politik einer gewissen Modifikation:  Die Machtprojektionen eines Tayip Erdogan und/oder Abdullah Gül zielen in osmanischer Tradition sowohl in Richtung Europa wie in den arabischen Raum. Inwieweit außerdem die von Erdogans Ziehvater Erbakan verfolgten panturanischen Konzepte maßgeblich  sind, bedarf der Überprüfung. Immerhin pflegt Ankara bemerkenswert enge,  hierzulande unbeachtete Beziehungen zur Autonomen Republik Tatarstan mit der  historisch bedeutsamen Hauptstadt Kasan. In der mitten in der Russischen Föderation gelegenen Tatarenrepublik ist seit einigen Jahren eine deutliche Islamisierung zu beobachten.

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