Die NS-Ära in einem Vorort von
München
An Literatur über die NS-Ära ist
wahrhaftig kein Mangel. Gleichwohl verdient in ahistorischer
Gegenwart, da die rituellen Beschwörungen des „Nie wieder!“ auf
eine gänzlich andere politisch-soziale und kulturelle Wirklichkeit
treffen, ein aus umfangreicher Archivarbeit hervorgegangenes Buch
Interesse, welches die Realität von damals anhand der
Lokalgeschichte eines Ortes in Oberbayern anschaulich macht.
Gröbenzell war seit Anfang des 20.
Jahrhunderts als Siedlung, angrenzend an den Münchner Vorort Pasing
an der Bahnstrecke nach Bruck (Fürstenfeldbruck) entstanden. Ohne
den Status einer selbständigen Gemeinde, verteilten sich um 1930 die
ca. 1200 Bewohner auf fünf andere Gemeinden, die Mehrheit gehörten
zum Dorf Olching. Ähnlich wie in anderen vor und nach dem I.
Weltkrieg in der Nähe großer Industriestädte entstandenen
Siedlungen, bestritten die Besitzer der Siedlungshäuser ihren
Unterhalt als Arbeiter, Angestellte oder als kleine Selbständige
sowie durch intensive Nutzung ihrer auf ehedem unfruchtbarem
Moorgebiet erworbenen Grundstücke. Kennzeichnend für die
örtlichen Lebensverhältnisse war die Zucht von hörnerlosen Ziegen,
für die ein regsamer „Bocksverein“ auf entsprechenden
Ausstellungen mehrfach prämiert wurde.
Von den umliegenden
katholisch-konservativen Dörfern unterschied sich die traditionslose
Siedlung – immerhin gab es eine katholische Kirche - durch die
geringe kirchliche Bindung ihrer Bewohner. Hingegen existierte ein
reges Vereinsleben, obenan der Interessenverein Gröbenzell (IVG), in
dem aktivistische Mitglieder für die Selbständigkeit der Siedlung
eintraten.
Zur Erhellung der politischen
Ausgangslage - in der Phase relativer Stabilisierung der Weimarer
Republik - können die Landtags- und Reichstagswahlen 1924 (Grafik 2,
S.33) dienen, als der Völkische Block in Bayern (VBI) fluktuierend
zwischen 17,1 und 5,1 Prozent der Stimmen erzielte. (Rainer Probst:
Völkischer Block in Bayern (VBl), 1924/25, http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Völkischer_Block_in_Bayern_(VBl),_1924/25)
Auf kommunaler Ebene traten anno 1924 SPD und KPD noch gemeinsam als
„Linksblock“ siegreich hervor. (S.16, 33)
Bei den Reichstagswahlen am 20.5.1928
kam die NSDAP in Gröbenzell - bei mit 47,4 Prozent ungewöhnlich
hohen Stimmenthaltungen - bereits auf über 20 Prozent. (S.21, 33)
Als erste am Ort firmierende Partei trat sie am 19. September 1929
nach Gründung in der Bahnhofswirtschaft in Erscheinung. Soziologisch
aufschlussreich ist das Personal der frühen Gröbenzeller NSDAP. Zu
den Gründern und den kurz danach eingetretenen Aktivisten gehörten
- als erster Vorsitzender - ein aus Bamberg zugezogener,
frühpensionierter Postsekretär sowie dessen als „SA-Mutter“
gerühmte Ehefrau, der Protagonist der Sezessionisten im IVG, ein
Dentist und Obmann des Schachklubs, Alois E. Drexler, der Bruder von
Anton Drexler, dem Gründer der Münchner NS-Kernzelle DAP, ein
entlassener Polizeioffizier aus Hessen, ein Bildhauer sowie –
als Teilnehmer am Hitlerputsch 1923 und „Blutordensträger“ -
fünf weitere Nationalsozialisten der ersten Stunde. Als
machtgieriger Ortsgruppenleiter fungierte von 1932 bis 1945 der
Buchhalter Martin Steger.(S. 32)
Am 14. September 1930 signalisierten
die Reichstagswahlen mit 18,3 Prozent der Stimmen den Durchbruch der
Hitler-Partei und die Krise der Republik. Deutlich abweichend vom
Wahlverhalten sowohl im Bezirk Bruck sowie in der Gemeinde Olching,
blieb die konservative Bayerische Volkspartei (BVP) in Gröbenzell
mit nur 66 Stimmen (=10,7 %) unter den für das katholische Bayern
gewohnten Zahlen. (20) Hingegen feierte die Gröbenzeller NSDAP mit
35,2 Prozent - wenngleich noch mit weniger Stimmen als für die SPD -
einen spektakulären Erfolg. Im Krisenjahr 1932 schwankten in der
politisch scharf gespaltenen Siedlung die Zahlen für die NSDAP bei
Landtags- und Reichstagswahlen zwischen 29,4 und 27,9 Prozent. (S.
32, 29, 30)
Weltwirtschaftskrise,
Arbeitslosenziffern, Notstandsküchen und
politische Gewalt – nicht nur seitens der Nazis - liegen als
Erklärung nahe. Zu Recht rückt der Autor Kurt Lehnstaedt den
Evangelischen Verein ins Bild. Dessen Vorsitzender, der Pasinger
Stadtvikar Werner Pürckbauer, legte bei seinem ersten Gottesdienst
im April 1930 Flugblätter aus, in denen er die Gefahren des
Bolschewismus und seitens der KPD beschwor. Den Evangelischen Verein
stimmte er mit „Schallplatten aus dem Sowjetparadies mit ihren
satanischen Melodien“ ein. (S. 23) Im Herbst 1933 annoncierte der
Vorstand des Vereins die Einladung zu einem Vortrag des Vikars über
„Die Sendung Adolf Hitlers im Lichte des Evangeliums“ im
Schulhaus Gröbenzell. Ob derlei Botschaft auch antisemitische Töne
enthielt, geht aus der Darstellung nicht hervor. (S.78)
Bei der Reichstagswahl am 5. März 1933
– im Gefolge von Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, der
„Verordnung zum Schutz des Deutsches Volkes“ (4. Februar 1933)
und des Reichstagsbrands - lag die NSDAP in der Münchner
Vorortsiedlung zwei Prozent über dem Ergebnis im Reich von 43,9
Prozent. (S.37). Die eigentliche „Machtergreifung“ bestand in der
Übertragung der Regierungsgewalt in den Ländern an
Reichskommissare, in Bayern an den General Franz von Epp als
Generalstaatskommissar. Innenminister wurde der Münchner Gauleiter
Adolf Wagner, der Himmler als Münchner Polizeipräsidenten
installierte.
Wie im gesamten Reich, exekutierten im
Bezirk Bruck die zur „Hilfspolizei“ ernannten SA-Leute die
„nationale Revolution“ mit terroristischer Gewalt. Nicht wenige
Sozialdemokraten und Kommunisten kamen in „Schutzhaft“ oder
landeten im frisch etablierten KZ Dachau. Zu den Opfern gehörte der
SPD-Gemeinderat Josef Schäflein, ein Zimmermann. Der SA-Mann, der
ihn mit einer Eisenstange zum arbeitsunfähigen Invaliden geprügelt
hatte, wurde nach dem Krieg zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt.
(S.42)
Die „Gleichschaltung“ begann mit
der Verhaftung der bisherigen Amtsträger. Gebrochen von „Schutzhaft“
oder KZ, unterwarfen sich frühere Nazi-Opponenten der Diktatur,
andere wählten den Weg der Anpassung bis hin zum Eintritt in die
Partei. Mit Ausnahme des Gartenbauvereins, wo der mit einer jüdischen
Frau verheiratete, evangelische Schreinermeister Hans Bär bis Herbst
1937 noch als Kassier und Zuchtwart walten konnte (S.38), besetzten
im Trachtenverein, in der IVG, in der Freiwilligen Feuerwehr usw.
Parteigenossen die Vorstandsposten. Von der KPD organisierter
Widerstand im Bezirk Fürstenfeldbruck wurde im Sommer 1934
zerschlagen. Die gleichzeitigen SS-Mordaktionen während der
sogenannten Röhm-Affäre erregten in der Gegend offenbar kaum
Unruhe. (S.91) Der erwähnte Ex-Polizeioffizier überlebte seine Nähe
zu Röhm und machte später bei der SS Karriere. Er fiel Ende 1941
als SS-Brigadeführer bei „Säuberungsaktionen“ gegen Partisanen
in der Sowjetunion. (S.166f.)
Bis zum Kriegsbeginn 1939 erlebte die
Siedlung einen regelrechten Bauboom mit wachsenden Einwohnerzahlen.
Den banalen Alltag akzentuierten Propagandaveranstaltungen, Filme im
neu errichteten Kino, nicht zuletzt die ideologisch aufgeladenen
Festtage wie „Heldengedenktag“, Hitlers Geburtstag, Maifest,
Sonnwendfeier usw. Am 6. November 1938 wurde in der Ortsmitte ein
von dem ortsansässigen NS-Bildhauer entworfenes Mahnmal enthüllt,
gewidmet „den Toten des Weltkrieges und der Bewegung“. Der große
Festakt endete mit einem „kameradschaftlichen Zusammensein“ in
der Bahnhofswirtschaft mit Blasmusik, Einlagen von HJ und BDM sowie
Schuhplattlern des Trachtenvereins.
Das Mahnmal (Abbildung S.118) erregte
den Spott („Teller mit Pudding“) der weniger Gläubigen.
Aufschlussreich ist das Kapitel über regimekritisches Verhalten. Was
sich in abfälligen Bemerkungen oder in spontanen Ausbrüchen des
Unmuts manifestierte, inspirierte zu vielfältiger Denunziation.
Bemerkenswert sind dabei die relativ „milden“ Strafurteile, die
– zum Teil bis in die ersten Kriegsjahre hinein – von den bereits
im März 1933 auf der Grundlage des „Heimtücke“-Gesetzes
etablierten Sondergerichten gefällt wurden. Im Oktober 1942 zeigte
ein Architekt den staatenlosen Kaufmann Waldemar (Wladimir)
Rennenkampf, einen aus der namhaften deutsch-russischen Familie
stammenden Emigranten, wegen Defätismus und Schwarzschlachtens an.
Der in der Bauplattenproduktion tätige Unternehmer wurde zwar zu 15
Monaten Gefängnis verurteilt, das Verfahren jedoch eingestellt, da
Rennenkampf – am Ort ein offenes Geheimnis - als V-Mann der
Gestapo fungierte. (S. 145-149)
In erschütternden, sorgfältig
recherchierten biographischen Details tritt in dem Kapitel
„Ausgeschlossen aus der Volksgemeinschaft“ das Wesen des
Nationalsozialismus – die Mischung aus Wahn und „Wissenschaft“,
Bürokratie und Verbrechen – hervor. Unter den zahllosen Menschen,
die in die Mühlen der „Rassehygiene“ - Sterilisation und
Euthanasie - gerieten, sticht das Schicksal einer jungen, aus
Düsseldorf stammenden Frau hervor. Die Hausärztin der Familie
notierte Verhaltensauffälligkeiten und meldete den „Fall“ dem
Amtsarzt des Bezirks, der eine „schwere geistige Störung“
diagnostizierte und die Einweisung in eine Heil- und Pflegeanstalt
veranlasste. Die 18jährige Eva Link entging bei mehrfachen
Verlegungen der „Aktion T“, wurde aber im Zuge der „wilden
Euthanasie“ am 28. Mai 1943 in der Anstalt von Meseritz-Obrawalde
getötet. In der bei Posen gelegenen Nervenklinik wurden mehr als 18
000 Menschen ermordet, bevor im Januar 1945 die Rote Armee das Areal
besetzte. (S.184)
Der antisemitische Rassenwahn erfasste
vier in Gröbenzell ansässige, aus „Mischehen“ hervorgegangene
Familien. Dr. Kurt Schroeter, ein international anerkannter
Heilpädagoge, emigrierte im Oktober 1937 nach Amsterdam, während
seine „arische“ Frau, ausgebildet als Lehrerin, ihren
Lebensunterhalt am Ort mit Nachhilfeunterricht, dem Verkauf von
Wertgegenständen, Grundstücksteilen und Vermieten bestritt. Anfang
1943 wurde er ins Amsterdamer Ghetto umgesiedelt, Mitte August auf
offener Straße verhaftet und am 15. November– unter Assistenz
niederländischen Hilfspersonals - nach Auschwitz deportiert. Anfang
Januar 1944 wurde sein Name – unter „Nr. 76 Holl. Jude 163397
Schroeter Kurt Isr., geb. 5.3.82“ - auf der Todesliste des
Krematoriums registriert.
Im Hause ihres Schwagers Hans Bär
suchte im Frühjahr 1939 die zum Katholizismus konvertierte Irma
Löwenstein Zuflucht. Sie wurde am 1. April 1940 von zwei SS-Männeren
mit einem Spürhund „abgeholt“ und in das bis Anfang Mai 1942
noch bestehende Israelitische Krankenhaus in München gebracht, von
wo sie am „5.6.42 nach dem Osten abgeschoben“ wurde. Sie starb
am 18. Januar 1943 als eine von 87 Toten auf der Quarantänestation
in Theresienstadt. (S.204-6)
Aufschluss über das Verhalten der
Bevölkerung während der Kriegsjahre vermitteln die Aufzeichnungen
des katholischen Pfarrers Josef Auer. Nach der Kriegswende 1943
demonstrierten nur noch überzeugte Nazis wie der Ortsgruppenleiter
Steger heldische Siegeszuversicht. Für das Finale des Dritten
Reiches typische Szenen erlebte der Ort gegen Ende April 1945.
Während eine versprengte Wehrmachtskohorte - nicht etwa
SS-Einheiten – den Pfarrer zwang, eine weiße Fahne vom Kirchturm
zu entfernen, gelang es einer mit weißer Fahne ausgerüsteten Gruppe
unter Führung des jungen Martin Hatzinger in letzter Minute, den Ort
kampflos an die Amerikaner zu übergeben. Nach Kriegsende rankte sich
um die nächtliche Aktion Hatzingers - in Unkenntnis seiner
NSDAP-Mitgliedschaft machten ihn die Amerikaner nach der Befreiung
zum örtlichen Bürgermeister – die Legende, sie sei mit der –
am 28. April blutig gescheiterten - Widerstandsgruppe der
„Freiheitsaktion Bayern“ (FAB) koordiniert gewesen. (S.247)
Erhellt wird das dunkle Bild der NS-Ära
in einem Ort der oberbayerischen Provinz durch wenige Beispiele
menschlichen Anstands, auch seitens zweier gemäßigter
Nationalsozialisten. Loyalität gegenüber seiner jüdischen Frau
bewies der völkisch-nationale Gerhard von Branca, nach Kriegsende
aktives Mitglied der CSU. (S. 187f., 195-7, 259). Bei einem der
Elendszüge („Todesmärsche“) von Häftlingen des KZ-Außenlagers
Kaufering nach Dachau verteilte die Lebensmittelhändlerin Viktoria
Kiefl – offenbar ungehindert von den spärlichen SS-Bewachern -
Brot an die Häftlinge.
Aus unserer Inhaltsskizze geht die
Qualität des Buches – als eine über den lokalen Rahmen weit
hinausreichende Geschichtsquelle – hervor. Was das Begriffsklischee
vom deutschen „Tätervolk“ betrifft, so leistet das Buch in
seiner faktenreichen Präzision einen Beitrag zur Differenzierung
hinsichtlich der bedrückenden Wirklichkeit. Die historische Grauzone
– die zwischen Einverständnis, Nichtwissenwollen/Verdängung und
tatsächlicher Unkenntnis angesiedelten Bewusstseinslagen der
Deutschen in den Kriegsjahren – wird indes an der Stelle verlassen,
wo der Autor den Holocaust als „gewissermaßen eine Art offenes
Geheimnis“ bezeichnet. (S.211)
Kurt
Lehnstaedt: Gröbenzell in den Jahren 1933 bis 1945. Die
fünfteilige Siedlung im Nationalsozialismus, Volk Verlag München
2015, 296 Seiten