Montag, 31. Oktober 2022

Gedanken zum Reformationstag

Im Berliner Hauptstadtkalender ist – anders als im umliegenden, kaum weniger atheistischen Bundesland Brandenburg - der 31.Oktober, der Reformationstag, als gesetzlicher und arbeitsfreier Feiertag nicht mehr enthalten. Er wurde – nach demokratischer Abstimmung im Abgeordnetenhaus - irgendwann gestrichen. Immerhin wird das Reformationsgedenken in der öffentlich-rechtlichen Moralanstalt RBB, wo unlängst einige Aufregung über Traumgehälter, ehelich und materiell segensreiche Beziehungen u.ä. herrschte und die Ehesegen spendende Pröpstin Friederike von Kirbach, ehedem Generalsekretärin des Evangelischen Kirchentages, vom Vorsitz im Rundfunkrat zurücktrat, im Vormittagsprogramm sowie mutmaßlich auch in den Abendnachrichten noch gepflegt.

Ich bekenne – Protestanten sind die geborenen Bekenner -, dass mich, aufgewachsen und „sozialisiert“ in der ehedem noch stockkonservativen evangelisch-lutherischen Landeskirche Bayerns, der dort in Kirche und Schule gepflegte Lutherkult nie sonderlich beeindruckt hat. Dazu mag die preußisch-distanzierte Grundhaltung meiner Mutter, ehedem Mitglied der Bekennenden Kirche in der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union, beigetragen haben. Luther spielte in ihrem Glaubenshaushalt keine hervorragende Rolle. Auch hielt sie nicht viel von dem von Lutheranern demonstrierten Hochmut gegenüber Katholiken. Darüberhinaus setzte sie sogar einmal bei dem erzlutherischen Ortspfarrer durch, dass dieser einen Jungen aus einer Baptistenfamilie zum Konfirmandenunterricht zuließ.

Die Suche nach einem gnädigen Gott – die den jungen Augustinermönch Luther, einst ein allzu „fröhlicher Gesell“, bedrängende Frage – war trotz intensiver Unterrichtung in der Biographie des Reformators für uns evangelische Jugendliche kein vorrangiges Thema. Die Sünde überließ man mit Spott den Katholiken im Beichtstuhl, wo sie hingehörte. Sodann stieß ich – parallel zur Wahrnehmung der alsbald alles überschattenden Naziverbrechen – bereits in der Gymnasialzeit darauf, dass der vielgerühmte Reformator in späteren Lebensjahren wütende Schriften wie die „Wider die Jüden und ihre Lügen“ verfasst hatte.

Die Problematik des deutschen Nationalprotestantismus und des Lutherkultes im 19. und 20. Jahrhundert - bis hin zur Perversion der Deutschen Christen – rückte erst nach und nach ins Bewusstsein. Dazu gehört die bittere Ironie in der an Widersprüchen reichen protestantischen Ideengeschichte: Ausgehend von der lutherischen Gnadenlehre, verläuft sie in sich oft überschneidenden Linien über Pietismus, Aufklärung, Romantik, Idealismus, Neupietismus, liberale Theologie – mit der Seitenlinie der Bayreuther Ideologie – und Neoorthodoxie in die geistig-geistliche Ratlosigkeit der Gegenwart. Auf dem Hintergrund der Nazi-Katastrophe durchwirkt der säkularisierte Protestantismus - in maßgeblich grüner - Einfärbung die politische Landschaft der Gegenwart.

Der Komplexität des Politischen – in all seinen materiellen, machtpolitischen, kulturellen und ideologischen Aspekten – kann die skizzierte Tradition schwerlich gerecht werden. Für katholische Traditionalisten, die sich seit der Französischen Revolution der Komplexität des Geschichtsprozesses verschließen, gilt die Reformation als die satanische Ursünde der Revolution. Derlei Idee entspricht der Flucht aus der Realität. Umgekehrt birgt die einst so stolze protestantische Tradition immer weniger Hoffnung auf befreiende „Gnade“, in christlichem Glauben begründeten Lebenssinn. Es ist dies die Frage, die in Deutschland, wo die Austrittszahlen aus beiden Kirchen alljährlich neue Höchstzahlen erreichen, wo die Indifferenz gegenüber christlicher Glaubenstradition einhergeht mit einem Amalgam aus  Hedonismus, „Selbstverwirklichung“, Schuldpsychologie, Aktivismus und Apokalypse, nicht nur am Reformationstag zu stellen ist.



Samstag, 22. Oktober 2022

Leseempfehlung zum deutschen Doppelwumms

Die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine sind allenthalben spürbar, in concreto ablesbar an den Gaspreisen. Laut Annalena Baerbock befinden auch "wir" uns bereits - offenbar kein Versprecher - im Krieg. In seiner blutigen Realität spielt sich dieser noch ca.1200 km entfernt und  weiter östlich ab. Gleichwohl befinden wir uns in der ungewissen Zone des politisch-militärischen Geschehens, insofern die Bundesregierung nicht nur - wenngleich etwas zögerlich oder indirekt über Tschechien  -  die von Selenskyi geforderten Waffen (Waffensysteme) liefert, sondern demnächst auch ukrainische Soldaten in deutscher Kriegskunst unterweisen wird. So entsetzlich die Bilder, die uns tagtäglich erreichen - ein Waffenstillstand, geschweige denn ein Frieden, ist nicht abzusehen. Beide Seiten steigern den Einsatz und spielen auf Sieg. Was daraus in den kommenden Wintermonaten noch erwachsen kann, ist eine spekulative Frage.

Die Sache selbst ist - jenseits der berechtigten Entrüstung über Putin und der geforderten Parteinahme für Selenskyi - hoch komplex. Eine tiefergehende, über die Evidenz eines Stellvertreterkrieges hinausweisende Analyse - aus der wiederum kein realisierbares Konzept für eine Beendigung des Krieges abzuleiten wäre - ist hier nicht zu leisten. Überdies wäre es vermessen, der deutschen classe politica (grün rot-schwarz-gelb) ein Konzept zur Herbeiführung eines "Friedens" anzuempfehlen. Ein solches gibt es nicht, schon gar nicht als deutsche Blaupause. 

Anstelle eines eigenen Kommentars beschränke ich mich auf eine Leseempfehlung zu einem Globkult-Aufsatz, der sich mit den Aspekten der unsere Gaspreissorgen verschärfenden - unvollständigen - Zerstörung von Nord Stream I und II beschäftigt. Dieser Lesehinweis ist keineswegs als Verharmlosung des mörderischen Geschehens zwischen Don und Dnipro/Dnjepr gedacht, sondern - als bitter-ironische - Anleitung zum besseren Verstehen des Kriegsensembles. Auch diejenigen Leser (sc. -innen), welche die hier präsentierte Analyse des mit Scholzens "Doppelwumms" - eine volksnahe (id est populistische) Formel für 200 Milliarden Schuldenaufnahme -  zu deckelnden Gaspreises aus ästhetisch-moralischen Gründen abweisen, sollten den Text im Hinblick auf den vor uns liegenden Krisenwinter zur Kenntnis nehmen:
https://globkult.de/politik/welt/2246-viel-feind-viel-ehr-einige-bemerkungen-zu-deutschlands-zweifronten-wirtschaftskrieg-gegen-russland-und-china