Sonntag, 9. Mai 2021

Stellenausschreibung. Satura non est.

Im Leben gilt es Widersprüche auszuhalten, etwa im Umgang mit den social media – wir nutzen sie, obgleich wir sie aus prädigital anerzogenem Bildungshochmut heraus verachten mögen. Auch verdanken wir ihnen Informationen, die in den Qualitätsmedien kaum Beachtung finden. Gewiss: Wer sich in das Netz von Facebook begeben hat, kommt schwer wieder heraus. Auch muss man im Umgang mit den friends (genderfrei) vorsichtig sein, es könnten unter den „Freunden“ (oder Freund:innen) einige fragwürdige Existenzen auftauchen.

Und doch: Die Mehrzahl meiner Fb friends erscheint mir als seriös, viele sogar liebenswert. Einer von ihnen übermittelte folgende Stellenanzeige im Bereich „Politische Bildung“, die mir als leidlich versorgter Pensionär – deutlich unter den Besoldungssätzen der unlängst  in den Ministerien der ausgehenden Großen Koalition beförderten Referenten – entgangen wäre.

Es handelt sich um die Stelle einer Referentin / Referent (w/m/d) für den Fachbereich L "Politische Bildung und plurale Demokratie" (FBL) in Gera.

Die Stellenbeschreibung lautet wie folgt:

Am Standort Gera baut die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb eine neue Außenstelle auf. Hier sucht die bpb für den Fachbereich L "Politische Bildung und plurale Demokratie" (FBL) zum Aufbau und zur Übernahme des Aufgabenbereichs "intersektionales Erinnerungs- und Transformationswissen" zum nächstmöglichen Zeitpunkt eine Referentin / einen Referenten (w/m/d). Das Beschäftigungsverhältnis ist unbefristet, das Entgelt bemisst sich vorbehaltlich einer noch durchzuführenden Arbeitsplatzbeschreibung nach Entgeltgruppe 13 TVöD.

Die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) ist eine moderne und innovative Behörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat (BMI) und orientiert sich mit ihrem Bildungsangebot an den Grundfragen der demokratischen Entwicklung und des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Hauptdienstsitz der bpb ist in Bonn, weitere Standorte sind in Berlin und in Gera. Weitere Informationen über die bpb finden Sie im Internet unter www.bpb.de.

Der Fachbereich "Politische Bildung und plurale Demokratie" (FBL) hat die Aufgabe, die sich entwickelnden demokratischen Aushandlungsprozesse in einer diverser werdenden Gesellschaft im Kontext sozialer Strategien zum Thema politischer Bildung zu machen. Die Hauptaufgaben bestehen in der Auseinandersetzung mit Dimensionen der Politisierung und Dekolonisierung von Erinnerung, sowie der Erarbeitung von Erkenntnissen, Formaten und Didaktiken einer intersektionalen politischen Bildung. In den aktuellen Erinnerungsdebatten zeichnet sich immer deutlicher die Notwendigkeit ab, kollektive Erinnerungen zu dekolonisieren und damit zu diversifizieren. Gegenstand der ausgeschriebenen Stelle ist u.a. die kritische Auseinandersetzung feministischer Theorie, Gender Studies, postkolonialem Erinnern und deren Übersetzung in politische Bildungsansätze in Auseinandersetzung mit sozialer Ungleichheit und der Abschwächung von Machtasymmetrien im Bildungsprozess (sic!). Ungleichheit und Ungleichbehandlung im Bildungssystem ist nicht nur das Ergebnis so genannter "sozialer" Benachteiligung und Deprivation, sondern geht auf Diskriminierungserfahrungen von Rassismus, Klassismus, Geschlechterdiskriminierung oder Behindertendiskriminierung zurück, die erhebliche Konsequenzen auch für politische Partizipationserfahrungen generieren. Mit verschiedenen Veranstaltungs- und Publikationsformaten setzt der FBL vorrangig an den Alltags- und Erfahrungswelten der Menschen in Transformationsregionen an und korreliert sie mit den pluralen Lebensentwürfen einer diverser werdenden Gesellschaft, insbesondere marginalisierter Gruppen und Communitys.“

Keine Frage: Die "Auseinandersetzung mit Dimensionen der Politisierung und Dekolonisierung von Erinnerung" ist - vor allem im Hinblick auf die "Dimensionen" - überfällig. Die „Ossis“ in Gera und Umgebung werden sich über die ihnen endlich eröffneten westdeutschen Bildungschancen freuen. Die älteren und weniger Bildungsfernen unter ihnen werden sich gleichwohl an den Phrasenkatalog erinnern, mit dem sie während des Studiums im Pflichtfach „Gesellschaftswissenschaften“ gefüttert wurden.

Merke: Der obige Text ist über das Netz aufzurufen. Satura non est.


 

Dienstag, 4. Mai 2021

Lesefrucht: Eine Kritik unserer neuen Säkularreligion

I.

"Umstritten" ist die im deutschen Haltungsjournalismus übliche Vokabel, um nonkonforme, nicht-Merkel-grüne, real kritische Stimmen aus den vermeintlich liberalen "Diskursen" herauszuhalten. Ähnlich negativ aufgeladen ist das Adjektiv "fragwürdig".  Als "fragwürdige Medien" bezeichnete die Journalistin Liane Bednarz als Gastautorin im "Spiegel" unlängst »Tichys Einblick«, »reitschuster.de«, die »Achse des Guten« sowie die »Epoch Times«. (https://www.spiegel.de/politik/deutschland/hans-georg-massen-kandidiert-fuer-die-cdu-wenn-die-grenzschuetzer-der-partei-versagen-a-72dd097e-15ce-4da3-9227-6aa0aa8a191a

Das Adjektiv "fragwürdig" lässt sich semantisch auch ins Positive wenden, was ich - als Gastautor auf der "Achse" und "TE" -  keineswegs  als Selbstverteidigung verstanden wissen will. Im Gegenteil: "Fragwürdig" ist alles, was - anstatt fraglos akzeptiert zu werden - in kritischer Analyse in Frage zu stellen ist. Wer Kritik an den Dogmen der Zivilreligion, wer kritisches Fragen - anno 1968 erfand man dafür das scheußliche Modewort "Hinterfragen" - für "fragwürdig" befindet, stellt die Tradition der Aufklärung in Frage.   

Nach dieser kurzen Vorrede zitiere ich - anstelle eines eigenen Blog-Eintrags - Passagen aus einem Aufsatz des Autors Markus Vahlefeld auf dem "fragwürdigen" Medium "Achse des Guten". Ich empfehle meinem Blog-Publikum  zur Lektüre den ganzen Aufsatz mit dem provokativen Titel

"Willkommen im Überwachungs-Kapitalismus und im Millionärs-Sozialismus" (https://www.achgut.com/artikel/willkommen_im_ueberwachungskapitalismus_und_millionaerssozialismus)

II.

"Mit dem Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus sourcte der Kapitalismus seinen inneren Widerspruch, der ihm durch ein funktionierendes Staats- und Gemeinwesen auferlegt war, einfach aus. Seine billigen Arbeitskräfte findet er nun nicht mehr im Inland, sondern in entfernten Regionen mit erheblich schwächer ausgeprägten staatlichen Strukturen. Dafür hat sich der Begriff Globalisierung durchgesetzt, und bis vor wenigen Jahren war es genau diese Globalisierung, gegen die die Linke Sturm lief. Regelmäßige bürgerkriegsartige Zustände bei G7-, G8- oder G20-Gipfeln waren die Folge. Inzwischen ist es merkwürdig still geworden um die Globalisierungsgegner von der Linken, was mit deren üppiger Förderung durch diverse Hochfinanz-Stiftungen und ihre Einbindung in eben diese Gipfeltreffen, ins Davoser Weltwirtschaftsforum und viele andere Zusammenkünfte zu tun haben dürfte.

  [...]

So rast der Zug der Geschichte auf ein System zu, das beide Ideologien in ein harmonisches Zusammenspiel zu bringen scheint. Unter die Räder ist dabei nur die Freiheit gekommen. Staat und Kapitalismus haben sich genauso versöhnt wie Sozialismus und Privateigentum. Allen vieren geht es schon lange nicht mehr um bürgerliche Freiheitsrechte, sondern nur noch um Ausdehnung und Herrschaftsakkumulation. Entstanden ist etwas, das historisch wirklich neu ist und für das noch kein geeigneter Begriff existiert. In ihrem 2018 auf Deutsch erschienen Buch prägt die Harvard-Ökonomin Shoshana Zuboff den Begriff vom "Überwachungskapitalismus“, und er dürfte die bisher wohl passendste Umschreibung sein für die Kehrtwende, die die freie Wirtschaft seitdem vollzogen hat.

[...]

Dass die gewählten Regierungen in den westlichen Demokratien sich nicht anschicken –oder schon lange angeschickt haben –, die Macht der Tech-Giganten zu begrenzen und ihre entstandenen Monopole zu zerschlagen, ist dem Umstand geschuldet, dass neben Gewinnmaximierung die Hauptagenda der Giganten weiterhin „die Rettung der Welt“ ist. Und mit diesem falschen Pathos kann sich die Politik wunderbar arrangieren und lässt so die Aushöhlung der Demokratie durch immer gigantischere Monopole zu. 

 [...]

Historisch interessant ist, dass sich zeitgleich mit dem Umstülpen des Gutenberg-Zeitalters ins digitale Zeitalter, das Ende der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts von Kalifornien aus begann, in Mitteleuropa eine neue romantische Religion gründete. Sie hatte große Vorbehalte gegen Technik, kultivierte die Angst und wünschte sich Frieden und ein Zurück zur Natur. Gespeist war diese neue Religion aus dem Unbehagen in der Kultur und einer sozialistischen Kollektivsehnsucht. 

[...]

Inzwischen hat der durch die Ereignisse des 20. Jahrhundert verunsicherte Geist des christlichen Abendlandes in der grünen Religion zu seiner gottlosen Vollendung gefunden. Schuldgefühl, Selbstabschaffung („Ich muss abnehmen, damit er zunehmen kann“) und mittelalterlicher Ablasshandel sind wieder die wirkmächtigsten Parameter dieser neuen Religiosität, in der Wald, Natur, Klima zu Codes des neuen Gottes geworden sind. Der Staat avancierte dabei zum Stellvertreter Gottes auf Erden. Und wir Deutschen sind zu den Vorreitenden dieser Religion geworden."


 

 

Montag, 3. Mai 2021

Maibowle, angereichert mit unsortierten Lesefrüchten

Der Mai ist gekommen, doch die lang ersehnten Freuden des Wonnemonds bleiben uns gesetzestreuen Bundesbürgern verwehrt. Anders als die Schweiz, jetzt auch Frankreich und Portugal, verharrt unser Land im Lockdown, inklusive der von Merkel verhängten, um eine Stunde demokratisch abgemilderten Ausgangssperre. Die Proteste aller auf ihre Freiheitsrechte pochenden Bürger - letzte polit-orthographisch korrekte Schreibweise: Bürger:innen - konnten dank Präsenz sinistrer (etym. lat.: "links"), d.h. "rechter",  als "Querdenker" auftretender Elemente bis dato neutralisiert werden. Wir dürfen hoffen, dass die den Klimawandel verzögernden Temperaturen endlich steigen und das vor Covid geschützte Volk endlich in die Freiheit und ins Freizeitvergnügen entlassen wird.

Um ihre Freiheitsrechte ging es auch den mit roten Fahnen samt goldenem Stern als "Linke" auftretenden, vermeintlich Covid-resistenten Anti-Lockdown-Demonstranten in Berlin-Lichtenberg (oder sonstwo), die es - verdächtig als linke Symbole missbrauchende "Rechte" -  am 1.Mai immerhin in die TV-Nachrichten schafften. Mehr mediale Aufmerksamkeit erzielten naturgemäß die genuin linken Massen, die zum Berliner Klassenkampf in Kreuzberg und Neukölln aufmarschierten, sowie die mehr als 10 000 roten und grünen Radler, die - nach dem Scheitern des Berliner Mietendeckels vor dem BVerfG - unter der linkslingualen Parole "MyGruni" den Villen besitzenden Kapitalisten in Grunewald einen Begriff von Gerechtigkeit nahebrachten. 

Wie gewohnt erlebten die Berliner Maifestspiele ihren Höhepunkt in den Traditionsbezirken Kreuzberg und Neukölln.  Die von der Polizei erzwungene Zweiteilung des Schwarzen Blocks trieb die Wut der "linken und linksradikalen Demonstranten" - darunter offenbar keine "Linksextremisten"  - zum Widerstand: Wieder mal brannten Mülltonnen und die aus Paletten und Bauholz errichteten Barrikaden, dazu  (nur) ein Auto.  Die aus mehreren Bundesländern, auch aus Bayern, aufgebotenen 5500 Polizisten (sc. -innen) kamen mit etwa 50 Verletzten davon. Zu den Opfern der "linken" Wut gehörte auch ein in der Nase beringter Mann, der sich als linker, antirassistischer Skinhead bezeichnet, was ihm aber nichts nützte, da er zuerst "rechte" Ska-Rhythmen aufgelegt hatte, ehe er zu "linken" Punk-Klängen wechselte. Er wurde verprügelt, vielleicht auch, weil er nach eigenem Bekenntnis in den 1990er Jahren im Ruhrpott noch in einer Neonazi-Skinhead-Band musiziert hatte.

Die Klage über Polizeibrutalität gehört zum Standard-Repertoire "linken" Bewusstseins. Der Berliner Innensenator Geisel (SPD) attestiert zwar der Polizei, sie habe ihre Pflicht vorbildlich erfüllt und sei den - teilweise mit Corona-Masken ausgestatteten, aber die Corona-Abstandsregeln missachtenden -   Demonstranten mit großer Zurückhaltung entgegengetreten. Gewalt sei in politischen Auseinandersetzungen nicht hinnehmbar. Oder so ähnlich. Der Mann kann reden, was er will, sagt Tante Antifa: ACAB.

Was den deutschen Lockdown betrifft, so besteht angesichts der Wettervorhersagen für diese erste Maiwoche wenig Hoffnung auf höhere Temperaturen und eine Ausweitung der cancel culture auf Merkels Lockdown. All unsere Hoffnungen auf Freiheit unter dem urdemokratischen Maibaum richten sich jetzt auf die FDP. Der Verf. dieses Blogs hat Covid 19 bereits hinter sich. Er hofft auf lokale Erwärmung in den kommenden Wochen sowie auf die demokratische Erhitzung im Wahlkampf. Dann besteht wieder Aussicht auf ein Bier - keine benebelnde Maibowle - in einem Biergarten oder auf ein Glas Wein unter freiem Himmel ("Außenbereich")