I.
Noch ein Kommentar zum heutigen Staatsfeiertag, zu einem nahezu defunkten, zum 500jährigen Jubiläum einmalig wiederbelebten dies festus - muss das sein? Ja, es muss sein, es ist die Pflicht eines Bundesbürgers und Kirchensteuerzahlers, dem der Kommentar (auf Globkult und anderswo) - mit oder ohne Luther - zur Gewissenspflicht geworden ist. Den letzten Anstoß zur Kommentierung des heute vollendeten Jubeljahres gab der Besuch eines Kirchenkonzerts zum Reformationstag.
An der Seitenfront der stattlichen, um 1900 in neugotischem Stil errichteten Kirche klärt ein gelbes Schild über einen mächtig aufragenden Baum auf: "Lutherbuche, gepflanzt 1917". Anderswo ist zu lesen, dass man in der Kirchgemeinde - und wohl auch anderswo - "Apfelbäumchen" gepflanzt hat - gemäß Luthers Wort im Hinblick auf die Apokalypse.
Beginn: Punkt 15.17 h. Auf dem Programm steht die Bach-Kantate "Ein feste Burg ist unser Gott" (BWV 80) sowie eine Uraufführung der Kantate "Unser Gott" des Komponisten Frank Schwemmer. Skepsis erregt vor der Lektüre des Programms das beigelegte farbige Beiblatt, beidseitig farbig bedruckt, zwei Kriegsbilder. auf der einen Seite oben Lorbeerkranz mit Schwert, daneben in Fraktur "Ein feste Burg ist unser Gott". Darunter in winterlicher Landschaft Feldgottesdienst ein segnender kreuzloser Prediger mit großem runden Hut - doch nicht etwa katholisch? - vor andächtig stehenden Soldaten, dazu ein paar sitzende und ein knieender.
Auf der Rückseite (oder Vorderseite, je nachdem) dieselbe Aufschrift in Jugendstillettern, dazu drei Strophen des Luthertextes unter Verzicht auf die vierte ("Das Wort sie sollen lassen stahn") über dem Feldprediger - mit Kreuz auf der Brust und zum Schwur erhobener Hand - und am Oberarm offenbar eine Rotkreuz-Binde? - im Kreise feldgrauer Soldaten mit Pickelhaube, barhäuptig oder mit Feldmütze. Auch einer mit roten Hosen und prächtigem Helm (Husar) ist dabei. Die Botschaft ist klar: Missbrauch der guten Luther-Botschaft für kriegerische - und deutsche - Zwecke. Als interpretatorische Anleitung steht unter dem Bild eine weitere "feste-Burg"-Strophe von dem leider unbekannten Dichter Ernst Lausch (1836-1888): "/.../Erfülle uns mit Muth,/Daß wir für Ehr´und Gut/ siegreich im Felde streiten/".
An der Darbietung der alten und der neuen Kantate ist nichts auszusetzen. Orchester, Chor, Solistinnen und Solisten - makellos. In Ausdruck und Klang so gar nicht "modern", und darum - außer wie üblich der Wortlaut des ursprünglich Luthers Lied inspirierenden 46. Psalms - immerhin verständlich. Der Komponist hat den Psalm-Text in sechs EU-Sprachen ins Programm gedruckt - auch hier ist die Botschaft klar: "Unser Gott" ist europäisch-universal, nicht deutschnational. Spätestens bei den spanischen Psalmversen regt sich Zweifel: Ist der "Senor Todopoderoso" (der Allmächtige) semantisch völlig identisch mit dem Herrn Zebaoth (dt. Wiedergabe des hebr. Wortes für den Herrn der himmlischen Heerscharen)? Mehr noch: Wie wäre es angesichts der - noch immerhin unblutigen - Konfliktlage zwischen Madrid und Barcelona mit einer zusätzlichen Version auf katalanisch? Slawische Sprachen, erst recht Russisch, fehlen gänzlich.
Auf einer Innenseite des Programmblattes tut der Komponist seine Gedanken zu seiner Kantate kund. Luthers Possessivpronomen "Unser" sei geeignet, den "Gottesbegriff für Fehlinterpretation und Missbrauch zu öffnen." Die Kollektivaneignung "Unser Gott" erschwere "dem Individuum den Aufbau einer persönlichen Beziehung". Zugleich solle die Kantate "zu einer Art globale Ökumene" anregen (unter anderem durch den Gebrauch vielfältigster Sprachen), die die Abrahamitische (sic) Ökumene der monotheistischen Großreligionen überschreitet." Der Islamrat sowie Ditib werden solche Sätze nicht gerne lesen. Vielleicht hat der Autor in seiner "spirituellen, pazifistischen Sichtweise auf ´unser aller Gott´" auch an den Dalai Lama gedacht. Jedenfalls ging´s ihm mit seiner Komposition (und den "vielfältigsten Sprachen") darum, das einstige "nationale Kampflied" - immerhin griffen "nicht nur deutsche Komponisten dieses Lied auf, um auch DAS DEUTSCHE zu markieren" - in gemäßigter Form zu exorzieren.
II.
Vom Konkreten zum Allgemeinen: Das mit großem Aufwand begangene Reformationsjubiläum brachte nur bescheidenen Ertrag. Trotz zahlreicher Veranstaltungen - angefangen von Margot Käßmanns mit CO2-Rabatt unternommenem Flug zur Datumsgrenze zu Jahresbeginn bis zu den großen Festgottesdiensten am heutigen 31. Oktober - gelang es nicht, der säkularisierten, zusehends religiös indifferenten deutschen Gesellschaft ein überzeugendes Bild von der historischen - und religiösen - Bedeutung des "Thesenanschlags" - falsch: der Reformation in ihrem weitgefächerten Kontext (König Heinrich VIII. geriet m.W. nicht ins Blickfeld) - zu vermitteln. Stattdessen rückten die negativen Aspekte des vom "deutschen Mann Luther" vollbrachten Werkes in den Vordergrund: Kirchenspaltung, hassvolle Pamphlete gegen die Juden, Eröffnung des Zeitalters der Konfessionskriege.
Zuletzt rief Thomas Schmid, ehemaliger Chefredakteur der "Welt", in studentischen Jugendjahren Mitkämpfer im "neulinken" Frankfurter Revolutionszirkus von Joschka Fischer, wieder den versöhnlichen Humanisten Erasmus gegen den intransigenten Egozentriker Luther, sächsischer Provinzler inmitten aufblühender Renaissance, auf den Plan: Was wäre Europa, der Welt nicht alles erspart geblieben! Historisch und politisch gut gemeint, gewiss, leider ahistorisch.
Die bedrängenden Grundprobleme blieben in all dem Festgetriebe weithin ausgeblendet: Das Verhältnis des Christentums - nicht zuletzt des säkularisierten postchristlichen Europa - zum von Generation zu Generation anwachsenden Islam, die trotz aller "abrahamitischen" Einheitsbeschwörungen grundverschiedene Symbolik von Kreuz und Schwert. Zum anderen geht es um die Rolle des halb oder - etwa in Bezug auf die Trinitätslehre, im Hinblick auf Kant, Schleiermacher, Hegel und Troeltsch - zu mehr als zwei Drittel - säkularisierten Protestantismus zur gründeutschen Zivilreligion.
Postscriptum: In Bremen wurde gestern eine Kirche von unbekannter Hand völlig verwüstet. Schmierereien an Kirchen ("Grafitti") gehören in Deutschland längst zum Alltag. Der Verkauf von ungenutzten Kirchen gehört zur kirchlichen Praxis.
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