Montag, 20. März 2017

Untauglich für die moralische Agenda

I.
Die bundesrepublikanische Medienwelt ist empört über Erdogan, der a) seine mit oder ohne Doppelpass ausgestatteten Landsleute (w/m, m/w) in der EU zu noch höherer Kinderproduktion stimulieren will und b) uns, die Ethnodeutschen, vorneweg unsere Kanzlerin, mit Nazi-Vergleichen eindeckt - ein Vorgehen, das geeignet ist, die Allzweckwaffe des Nazi-Vorwurfs im tagespolitischen Nahkampf nachhaltig zu entwerten. Als Antwort auf Erdogans Beleidigungen unseres deutsch-demokratischen Bewusstseins ist zu verstehen, dass in diesen Tagen der mutmaßliche Satiriker Böhmermann - er gelangte mit zotigen Spottversen auf Erdogan zu nationalem Ruhm - mit dem einst für mediale Verdienste um die Nachkriegsdemokratie gestifteten Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet wurde.

Unberührt von derlei Verletzungen des unter Nato-Verbündeten gebotenen Stils zeigt das im März 2016 zwischen Merkel und Erdogan geschlossene, europäisch verschönerte Abkommen (der "Deal") zur Eindämmung des Migrantenstroms über die Ägäis bis dato Bestand. Drohungen aus der Türkei, man sei der Beleidigungen aus Berlin leid und werde bei Bedarf pro Monat 15 000 Migrationswillige auf die Reise schicken, werden zwar mit Besorgnis registriert. Dennoch sollte man aus demokratischer Verantwortung die Empörung über derlei Erpressung lieber nicht zu laut äußern - nicht einmal in Zeiten des Wahlkampfes, wo es gälte, mit starken Worten der AfD Stimmen abzujagen. Man darf aber davon ausgehen, dass Martin Schulz das Thema "soziale Gerechtigkeit" aus Rücksicht auf die EZB und Mario Draghi nicht mit währungspolitischen Grundsatzfragen - Merkels Flüchtlinge erschienen ihm im Herbst 2015 noch "wertvoller als Gold" - verknüpft.

II.
Wo es um die Wächterrolle der Medien geht, so bleibt Trumps Bedrohung für die amerikanische Demokratie und sein plumpes Benehmen gegenüber unserer sensiblen Kanzlerin das beherrschende Thema. Nur mit der Sorge um das Wohl Amerikas und um die deutschen Wahlumfragen ist daher zu erklären, dass in den Medien ein  Buch zum leidigen Thema "Flüchtlingskrise" bislang eher geringe Beachtung gefunden hat. https://www.welt.de/politik/deutschland/article162582074/Fast-haette-Merkel-die-Grenze-geschlossen.html Anders beim Publikum: Die 1. Auflage des Buches "Die Getriebenen", in dem der  "Welt"-Journalist Robin Alexander das Agieren der "Entscheider" in der Anfangsphase der "Flüchtlingskrise" offengelegt hat, ist nach einer Woche bereits vergriffen.

Warum die Zurückhaltung in den meinungsbildenden Medien?  Offenbar erweist sich das Thema für eine breiter angelegte Diskussion als ungeeignet. Denn was der Autor bezüglich der von Merkel proklamierten Grenzöffnung am 4. September 2015 recherchiert hat, widerlegt das bis dato gepflegte  Bild der unter ihrer Ägide vollbrachten  moralischen Großtat. Bereits eine Woche später, am 12. September 2015, um 17.30 h, wurde in einer Telefonkonferenz mit Merkel, ihrem Kanzleramtschef Altmeier, Innenminister de Maizière, Ministerpräsident Seehofer (CSU), Außenminister Steinmeier und SPD-Chef Gabriel, beschlossen, am folgenden Tag (Sonntag, 18.00h) allenthalben Grenzkontrollen vorzunehmen und Flüchtlinge/Migranten "auch im Falle eines Asylgesuchs" zurückzuweisen. Daraufhin bezogen aus ganz Deutschland aufgerufene  Einheiten der Bundespolizei an den hauptsächlich bayerischen Grenzübergängen Posten. Just in diese Phase waren den "Entscheidern" Merkel und de Maizère Bedenken gekommen, wenngleich keine moralischen: Man wollte erstmal prüfen, ob eine solche Anordnung juristisch wasserfest sei, zum anderen fürchtete Kanzlerin Merkel um ihr Image als "Mother Merkel", wenn es an der Grenze - d.h. in den Medien - "unvermittelbare Bilder" zu sehen gäbe. Die bereits umfassend vorbereitete Aktion wurde wieder abgeblasen, die Grenzen standen monatelang weit offen, Deutschland sonnte sich im Wohlgefühl seiner "Willkommenskultur". 

III.
Aus der Rekonstruktion des tatsächlichen Geschehens im September 2015 ergibt sich das Bild politischen Versagens der politischen Klasse. Unter "normalen" Umständen hätte die SPD unter Gabriel und Steinmeier  aus politischer Verantwortung unverzüglich Merkel und ihren Führungszirkel zum Vollzug der vereinbarten Maßnahmen auffordern müssen, andernfalls die Koalitionsfrage stellen müssen. Nichts dergleichen ist geschehen. Stattdessen erlebten wir im Gefolge des Nichthandelns der laut Amtseid zum "Wohle des deutschen Volkes" verpflichteten "Entscheider" einen massiven Einwanderungsschub von Menschen, deren Bereitschaft und/oder Befähigung zur "Integration" in die westlich-europäische Gesellschaft in Frage steht. Fürwahr keine neue Erkenntnis - evident schon lange vor Merkels Einladung an alle Welt am 4. September 2015.

Richtig: eine Neuauflage des Themas "Flüchtlingskrise", eine öffentlich ausgetragene Debatte über die Fehler und Folgen einer als moralisch alternativlos gepriesenen Politik, passt nicht in den Wahlkampf. Eine breite Diskussion über Robin Alexanders Buch wäre zudem der von unseren Medien verfolgten politisch moralischen Agenda abträglich.


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