Montag, 6. Februar 2017

Neusprech. Zeitungsschau an einem trüben Tag im deutschen Februar 2017

I.
Beginnen wir mit der "Zeit", dem Zentralorgan des bundesrepublikanischen Zeitgeistes. Die Zeiten, in denen ich das Paket mit über 60 Seiten gewissenhaft durchackerte, sind längst vorüber. Zwischenzeitlich, gar über Jahre hin, boykottierte ich das Hamburger Druckerzeugnis ob seiner allwöchentlichen Aufbereitung des Ewiggleichen.  Heutzutage genügen ein bis maximal zwei Stunden zum Durchblättern. Die meisten der ellenlangen Artikel, in denen belehrender Kommentar und womöglich doch noch informativer Bericht zur Bundes-, EU-, US- und Weltlage (inklusive von Putins Russia today) in grünmilchiger Emulsion durchmischt erscheinen, kann man getrost überschlagen. Nichts, was man nicht auch anderswo - beispielsweise in der  FAZ  oder der SZ  alltäglich zu lesen bekäme. Das "Zeit-Magazin" kann man ohnehin von vornherein ungelesen beiseitelegen, nicht anders als das zu Monatsbeginn dem Zentralorgan sowie den "Qualitätszeitungen" beigelegte, vom Kirchensteuerzahler finanzierte, salbungsvolle - nomen est omen - Käßmann-Blättchen Chrismon.


Ab und zu trifft der widerwillige Leser auf eine Überraschung. In der Nummer vom 2. Februar
(Nr. 6, S.17) - ein ehedem nicht nur in katholischen Regionen unter "Mariä Lichtmeß" bekanntes Datum - widmet sich der Chefredakteur Josef Joffe dem  allgemein als "rechts" rubrizierten Thema "Political Correctness", abgekürzt PC.  Joffe erkennt dem auf liberalem Mutterboden gediehenen, längst in allen gesellschaftlichen Bereichen wuchernden Gewächs seine ursprüngliche Berechtigung zu: "Am Anfang war alles gut, richtig und notwendig. Ethnische, religiöse (?!?) und sexuelle Minderheiten mussten aus dem Ghetto der Ausgrenzung befreit werden - so durch die Abschaffung des Paragrafen 175, der  Homosexualität unter Strafe stellte. Das war 1968." Joffe verteidigt auch die aus den USA - dort rückten sie unter dem Signum "affirmative action" alsbald an die Stelle der von der Bürgerrechtsbewegung ursprünglich proklamierten und durchgesetzten  "civil rights" -,  importierten Gleichstellungspraktiken, nicht zuletzt die Änderung des Staatsbürgerschaftsrechtes. (Nota bene, auch das alte deutsche Staatsbürgerschaftsrecht von 1913 beruhte nicht ausschließlich auf dem verpönten ius sanguinis ["Blutrecht", wie schrecklich!], sondern enthielt - ganz abgesehen von der Eheschließung - sprachlich-kulturelle Kriterien zur Einbürgerung.)

Mit einiger Verwunderung lesen wir bei Joffe nunmehr Passagen wie diese: "Den Zustand der gebotenen Antidiskriminierung hat PC längst verlassen. Sie ist zum politischen Entwurf geworden, der Staat und Gesellschaft umkrempeln soll - realer geht´s nicht. Wie es programmatisch...funktioniert, zeigt der Koalitionsvertrag [Wo gab´s derlei "Verträge" zu Zeiten einer funktionstüchtigen parlamentarischen Demokratie?, H.A.] des Berliner Rot-Rot-Grün-Senats: ´Christ´oder ´christlich´ kommen null Mal vor; die LSBTTIQ* (Lesben, Schwule...) 27 Mal. Deren ´Förderung´- Berlin als ´Regenbogenhauptstadt´ - werde die ´Arbeit der Koaliton´ bestimmen. Dieses Faktum lässt sich ironisieren, nicht negieren." - Joffe hätte folgendes hinzufügen können: Wer dergleichen ironisiert, gerät  in diesem unserem Lande heute in die Verdachtszone, es sei denn, dass die PC-Zensoren zu ignorant sind, die Ironie zu erkennen. Man geht nicht fehl in der Annahme, dass zur letzteren Kategorie die "in der Demokratie angekommenen" Kinder und Enkel der realsozialistischen SED gehören. Die Genossen (sc. Gen. + -innen) waren indes nicht gar so dämlich, nicht rechtzeitig zu erkennen, dass ihr politisches Überleben allein durch Übernahme der Denkgebote der Wessis zu gewährleisten sei.

Der "Zeit"-Chef Joffe wird noch deutlicher, indem er drei historisch-literarische Zeugen des in der PC hervortretenden Totalitären zitiert: Aus Lewis Carrolls  "Alice in Wonderland" die Figur des Humpty-Dumpty, der über die Macht der Wörter und ihrer beliebig zuteilbaren Bedeutung doziert: "Die Frage ist: Wer soll Herr darüber sein? Das ist alles." Sodann kommt der Dezernent aus dem "Wahrheitsministerium" in George Orwells "1984" zu Wort. Der warnt und fragt Winston Smith: "Kapierst du denn nicht endlich den eigentlichen Sinn von Neusprech?" Dessen Sinn sei, "Gedankenverbrechen unmöglich zu machen, weil es keine Wörter mehr gibt, um sie auszudrücken." Zuletzt erinnert Joffe an Alexis de Tocqueville, der in Amerika "vor fast 200 Jahren" das Phänomen der Tyrannei, den Verzicht auf Freiheit und Individualität, die freiwillige Unterwerfung unter den milden Zwang der moralischen Mehrheit beobachtete.

Zum Schluß erwähnt Joffe, dass Orwells "1984" derzeit die Hitliste bei Amazon.com anführt. Dürfen wir annehmen,  dass das urplötzlich gestiegene Lesebedürfnis einer wachsenden Sensibilität für die allenthalben institutionalisierte, vermeintlich "linke" Unfreiheit im Namen der Freiheit (und Gleichheit) entspringt? Falls ja, besteht noch - oder wieder - Hoffnung.

II.
Das Internet hat - ungeachtet allen Ärgers über junk news etc. - seine Vorzüge. Man erfährt mehr als sonst nur aus der Morgenzeitung zum Frühstück. Über die aktuelle Lage in Südafrika, über die  von Jakob Zumas ANC betriebene "Empowerment"-Politik und deren mögliche Folgen -  ein Kollaps des einstigen Apartheid-Staates mit globalen Auswirkungen - berichtet kenntnisreich im "Handelsblatt" Wolfgang Drechsler:
http://www.handelsblatt.com/politik/international/weltgeschichten/drechsler/rassenquote-in-suedafrika-weisse-techniker-unerwuenscht/19346120-all.html

III.
Zuletzt, in Ergänzung zu meinen - aus geographischer und politisch-moralischer Distanz zur vorherrschenden Sicht verfassten Artikeln zur Lage in Nahost - noch eine Leseempfehlung:
https://medium.com/opacity/the-syrian-war-condensed-a-more-rigorous-way-to-look-at-the-conflict-f841404c3b1d#.76ppr21gs

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