I.
Die Zivilreligion, id est die für Rousseaus république und insbesondere für die Bundesrepublik funktional unverzichtbaren Glaubensvorstellungen des Bürgers, bedarf eines dogmatischen Gerüsts, einer funktionstüchtigen Organisation sowie eines rituellen Rahmens. Das Ganze erinnert nicht zufällig an das ältere, jenseitsbezogene politische Vorbild: die Congregatio de propaganda fidei. Deren zeitgenössisch moderne Institutionalisierung erfährt der mündige Bürgerkonsument (sc. -e B-in) allabendlich in den TV-news sowie in den vermeintlich auf Pluralismus - einer der zentralen Glaubenssätze der religio civilis - ausgerichteten Talkshows.
Zweifel an der Zivilreligion - sie sichert im demokratischen Staatswesen den Einklang zwischen den Regierenden und den Regierten oder umgekehrt die Identität zwischen dem Souverän der Theorie und dem Souverän der Praxis - sind unerwünscht, bei Rousseau gar bei Todesstrafe verboten. Über derlei Praxis sind wir in der Bundesrepublik Gottseidank seit 1948/49 hinaus.
Ganz ohne Zuchtinstrumente zur Befestigung der Glaubenstreue der Bürger und -innen kommt indes auch Merkels Bundesregierung nicht aus. Dies geschieht durch die Verbreitung von staatsbürgerlichem Optimismus: "Wir schaffen das!" Wer an derlei Dogmen zweifelt, verfällt der demokratischen Verachtung. Die Einsamkeit des von der moralischen Mehrheit mit Ausschluß Bestraften erkannte bereits Tocqueville in seinem Werk über die Demokratie in Amerika.
II.
In einer Anzeige in der Ausgabe des FAZ am 20. Juli 2016 - und mutmaßlich in manch anderen Blättern - verbreitete die Bundesregierung ihren Appell zu staatsbürgerlichem Optimismus in ungewohnt patriotischem Tonfall: "Deutschland kann das." Was Deutschland kann, ist "Integration, die allen hilft". Eine junge Frau, die einem angejahrten, immerhin noch lächelnden Herrn im Rollstuhl an Schulter und Unterarm faßt, lächelt den Leser an. Darunter der Text: "Siba Wardeh kümmert sich als ´Bufdi´ liebevoll um Senioren in Hof/Bayern. Pflegeheim-Leiterin Sabine Dippold freut sich über die Hilfe der jungen Syrerin. Die Bundesregierung fördert neue Stellen im Bundesfreiwilligendienst zur Integration von Flüchtlingen. Erfahren Sie mehr darüber und über das neue Integrationsgesetz: www.deutschland-kann-das.de"
Der Betrachter der Werbeanzeige bekennt gewisse Zweifel bezüglich der Festigkeit seiner Zivilreligion: Wer war der im Dienste der Bundesregierung knipsende Werbefotograf, welcher PR-Fritze hat sich einen solchen Werbetext ausgedacht? Wie gelingt es in der politisch korrekten Massendemokratie, Zynismus, Moral, Hypokrisie, ein peinliches Bild und peinliche Prosa werbetechnisch zu kombinieren? Um zu demonstrieren, wie geschmacklos Propaganda sein muß, um die Fragwürdigkeit von Politik, zuletzt Merkels verhängnisvolle Einladung an alle Welt, zu kaschieren? - Die PR-Abteilung der Bundesregierung glaubt anscheinend, sie könne das - mit den dafür im Budget ausgewiesenen Steuergeldern.
Donnerstag, 21. Juli 2016
Freitag, 15. Juli 2016
14 Juillet: Säkularisten in der europäischen Zirkuskuppel ratlos
I.
Am gestrigen Abend, während des großen Feuerwerks auf der Promenade des Anglais in Nizza anläßlich des Festes der Großen menschheitsvereinenden Revolution, verkehrte ein 31jähriger Lkw-Fahrer, französischer citoyen nordafrikanischer Herkunft mit mutmaßlich spezifischen Glaubensüberzeugungen, den Nationalfeiertag am 14 Juillet in einen gedenkwürdigen Staatstrauertag. Von den allseits fälligen Solidaritäts- und Betroffenheitsbekundungen sei die Reaktion der deutschen Bundeskanzlerin, derzeit zu Staatsbesuchen und Gipfeltreffen im Fernen Osten, zitiert. Sie sprach für "alle Menschen in Deutschland", die zusammen "mit den Menschen in Frankreich" trauerten. Weiter: "Deutschland steht im Kampf gegen den [sc. begriffsneutralen] Terrorismus an der Seite Frankreichs, vereint mit vielen anderen." Ich bin sehr überzeugt, dass wir trotz aller Schwierigkeiten den Kampf gewinnen werden." (In Parenthese: Mit ähnlichen Worten eröffnete George W. Bush anno 2001 den "Krieg gegen den Terror mit allen bekannten Folgen.)
Merkel scheint wie stets, wenn schon sprachlich nicht sehr überzeugend, von ihrem politischen Agieren sehr überzeugt. Mit den Folgen ihrer Überzeugungen - "Wir schaffen das. Wir sind ein starkes Land" (dixit Merkel) - schlagen sich spätestens seit dem 5. September 2015 die deutschen Kommunen und die europäischen Nachbarn herum...
II.
Ebenfalls gestern, gewann eine Rechtsreferendarin muslimischen Glaubens vor dem Augsburger Verwaltungsgericht einen Rechtsstreit gegen den Freistaat Bayern, der das Tragen eines Kopftuches mit der Ausführung "hoheitlicher Tätigkeiten mit Außenwirkung" für unvereinbar erklärt hatte. Soweit das Urteil in der Presse zitiert wurde, ist daraus abzuleiten, dass der Dame nicht nur das Recht auf Vollendung ihrer juristischen Ausbildung, sondern auch der spätere Eintritt in den Staatsdienst nicht mehr zu verwehren sei. Denn, so die erfolgreiche Klägerin, es hänge alles doch nur von den Noten ab.
Aqilah Sandhu, gebürtig in Deutschland, beherrscht nicht nur das juristische Fachwissen fürs erste - und mutmaßlich auch fürs zweite - Staatsexamen, sondern- für bundesrepublikanische Integrationskonzepte unentbehrlich - auch den Jargon der Emanzipation: Musliminnen mit Kopftuch sollten "als vollwertige Persönlichkeiten, nicht als unterdrückte Wesen wahrgenommen werden, die für sich selbst sprechen und die nicht ferngesteuert sind." Die noch bestehenden staatlichen Einschränkungen bezüglich von Kopftuchträgerinnen beträfen "Frauen, die einen Beruf ergreifen wollen, die sich emanzipieren und auf eigenen Beinen stehen." (FAZ v. 15.07.2016, S.4).
Noch liegen der staatsdienlichen Karriere der kopftuchbewehrten Juristin ein paar Steine im Weg. Das bayerische Justizministerium hat Berufung gegen das Augsburger Urteil angekündigt. Falls der Freistaat in der Berufung obsiegen sollte, steht Aqilah (und ihren integrationspolitischen Förderern) noch ein längerer Weg durch die Instanzen - mutmaßlich bis nach Luxemburg - bevor. Derzeit setzt sie ihre Ausbildung zur Volljuristin als Referendarin im Auswärtigen Amt zu Berlin fort - mutmaßlich dank verständnisvoller Beamten (sc. -innen) aus der Ära Fischer (Joschka).
III.
Selbstverständlich haben wir aufgeklärten, kulturhistorisch bewanderten Bürger unseres säkularen Staates gelernt, begrifflich und inhaltlich sorgsam zu trennen zwischen der Religion des Propheten und den emotionalen Verirrungen seiner islamistischen Bekenner. Gewiss, dank endloser Wiederholung kennt man inzwischen den Text, auch einige Verfasser aus dem Olymp der Eliten und der "Zivilgesellschaft". Frei von Ironie sei konzediert, dass die Adepten von Al Quaida, IS und Nusra-Front, nicht zu vergessen einige Mullahs und deren Pasdaran, innerhalb der muslimischen Welt eine Minderheit darstellen, ja die Ausnahme bilden. Gleichwohl: Das Loblied auf die muslimische Toleranz im andalusischen Reich der Omajadaden klingt fern, allzu fern aus mittelalterlichen Zeiten, verfehlt überdies weithin die historische Wirklichkeit. (S. dazu etwa den Leserbrief "Die ganze Geschichte des Islams beachten" in der heutigen FAZ, 15.07.2016, S. 21, in Replik auf unkritische Stellungnahmen am 11.07.2016)
Das Grundproblem bezüglich der - soeben per Gesetz im Bundestag erneut bekräftigten - "Integration" - bleibt von der politisch korrekten Begriffsscheidung unberührt - und ungelöst: Wie gelingt es in den westlichen säkularen, religiös indifferenten, weithin offen atheistischen Gesellschaften mitsamt ihrem - existenziell eher dürftigen - zivilreligiösen, von Doppelmoral durchzogenem Überbau, eine wachsende Anzahl von "Migranten" mit grundsätzlich anderen, voraufklärerischen Glaubensvorstellungen und monistischen Überzeugungen - von allen sonstigen Kulturtraditionen abgesehen - in ihre vermeintlich universale, realiter spezifisch "westliche" Kultur einzubinden? Die von wohlmeinenden "Experten" oder Dialogpartnern besetzten "Diskurse" zum "interreligiösen Dialog" berühren selten die evidenten Phänomene kulturell-sozialer Differenz - von separat verfassten "Parallelgesellschaften" bis hin zu politischen Machtansprüchen diverser communities -, klammern insbesondere die Grundsatzproblematik aus:Wie kann der von existenzieller Sinnleere - materiell unter den Bedingungen der "Globalisierung", ideell im Zeichen der Postmoderne - gekennzeichnete "Westen" - das Abendland oder Europa - dem von ungebrochenem religiös-kulturellen Selbstbewusstsein geprägten Millionen Immigranten begegnen? Mit der Kampfansage gegen den "Terrorismus" und permanenten Proklamationen "unserer Werte" ist den Relitäten jedenfalls nicht beizukommen.
Dienstag, 5. Juli 2016
Politische Bildung mit Yahoo! (Forts.)
Dem Publikum ist meine an
eine Zwangsehe erinnernde e-mail & social media connection zu
Yahoo! bereits nachhaltig (!) bekannt. Aus ästhetischen Gründen und
moralischer Rücksicht auf die Reputation von Globkult stelle ich
meine Beziehung zu Yahoo! nicht auf der dortigen
Titelseite vor, sondern in aller gebotenen Zurückhaltung nur auf meinem
Blog.
Gleichwohl: Die auf Yahoo!
präsentierten news verdienen eine über Yahoo!-Nutzer/-innen/-xyz
hinausgehende breitere Aufmerksamkeit. Deshalb nachfolgend meine
heutigen Lesefrüchte in Schlagzeilen oder im Extrakt:
Unterhalb einer
Edeka-Reklame („Ran an den Grill!“) steht auf leuchtend rotem
Grund die besorgte „Eilmeldung: Ungarn will sich gegen
EU-Flüchtlingsquote stemmen“. Darunter kommen die mit Fotos
versehenen Flash-Meldungen des Tages: „Tweet von Justizminister
(darüber das Konterfei von Heiko Maas) begeistert DFB-Held. Während
Söder von der CSU ins Özil-Fettnäpfchen getreten ist, macht Maas
von der SPD alles richtig.“) Gut so. (Adnote zu deutscher
Rechtschreibung und Grammatik: Seit einiger Zeit fallen selbst in den Qualitätsmedien gewisse
Endungen nicht allein in Überschriften
weg. Beispiel: „Merkel ist sich mit dem Präsident Erdogan darin
einig, dass...“).
Es folgt die für alle Leser wichtige Frage:
"Wessen Frauenname ziert Özils Schuh?“ Sodann: „Nach heftiger
Kritik: Neumann redet Klartext.“ Neumann? Womöglich eine Politikerin? Will die Dame etwa die
Briten Mores lehren? In Parenthese: Für Elmar Brok („EU-Urgestein“
in Straßburg, CDU), so war gerade noch welt-online zu entnehmen, gibt es gar kein Problem, denn: das Mehrheitsvotum „Leave!“ der
Brexiteers gilt gar nicht. Es habe sich am am 23. Juni im UK um nichts anders gehandelt als um ein
„beratendes Referendum“. Richtig, so verfährt man als
überzeugter Verfechter der parlamentarischen Demokratie mit der vox
populi. Der Revolutionär
Thomas Jefferson, Sohn der Aufklärung, sah die Sache noch anders .
„The voice of the people ist the voice of God.“
Weiter mit Yahoo!
Deutschland: Gerade wird „die heißeste EM-Spielerfrau“
vorgestellt, schon flattern weitere Bilder und Meldungen vorbei: „So heiß ist
Fergie“. Fergie? - Fehlanzeige. Danach: „Dieses Sternzeichen gehen (sic!)
fremd“. Und wenn schon, auf den
Plural kommt es an! Danach eine andere Frage von Yahoo!
ans Publikum: „Übertreibt es
Heidi damit endlich?“. Heidi ? - Zur Beruhigung des Yahoo!-Konsumenten die nachfolgende Erfolgsmeldung: „Deutschland hat den
MacDonald´s der Zukunft“.
Dass die Republikaner Donald Trump nicht verhindern können/konnten und dadurch der ungeliebten Hillary zum Sieg verhelfen werden, ist die Meinung
selbst jener wohlgesitteten und wohlbetuchten amerikanischer citizens, die
gewöhnlich republikanisch wählen. Ähnlich empört zeigt sich
Yahoo! über Trumps
jüngste Rüpeleien: „US-Präsidentschaftskandidat Trump hat
Rivalin Hillary Clinton gleich doppelt und übelst beleidigt“.
Gleich doppelt und übelst – selbst in Berlin, wo inzwischen der
Wahlkampf für den September eingesetzt hat, geht es – ungeachtet
brennender Themen wie Rigaer Straße, Müllabfuhr, Fahrradwege und
Willkommensklassen – rein sprachlich gesehen weniger übel zu.
Freitag, 1. Juli 2016
Königgrätz: Notizen zu einem vergessenen Geschichtsdatum
I.
Wer in der Bundesrepublik Deutschland das Faktum konstatiert, dass sich - in Ergänzung zu politisch-permanenten Bekenntnissen zu dem gerade dank Brexit leicht erschütterten EU-Europa - die Pflege des historischen Selbstverständnisses des Landes auf die bilderreiche Erinnerung an die NS-Diktatur und die Nazi-Verbrechen reduziert, handelt sich Ärger ein. Gereizte Ablehnung seitens der Diskursverwaltung ist die mildeste Reaktion. Gefährlicher ist die damit einhergehende Suggestion, mit einer solchen - "natürlich völlig unzutreffenden" - Behauptung- solle der von den Deutschen exekutierte Zivilisationsbruch überspielt, ja verharmlost werden. Im übrigen könne von einem geschichtlichen Reduktionismus keine Rede sein.
In der Tat, es gibt Ausnahmen von der Regel. Das Gedenkjahr 2014 gehörte dazu, als Christopher Clark mit seinem ins Deutsche übersetzten Buch "The Sleepwalkers" unter den mit gewissen historischem Bildungsansprüchen Ausgestatteten Irritationen auslöste. Die Erschütterung des maßgeblich von Fritz Fischer 1959/1961 etablierten Geschichtsbildes der Bundesrepublik scheint mittlerweile überstanden. Unlängst hat Gerd Krumreich, der zuvor als gemäßigter Revisionist bezüglich 1914-18 und 1919 (Versailles) hervorgetreten war (s. http://herbert-ammon.blogspot.de/2014/07/kriegsschulddebatte-fortsgerd-krumeich.html), mit einer "Wieder lesen!" übertitelten Rezension in der FAZ (v.18.05.2016) einer von dem Clark-Antipoden John G.C.Röhl herausgegebenen Sammlung von Briefen Kurt Riezlers an seine Geliebte und spätere Frau Käthe Liebermann die durch Clark verschobene Perspektive wieder geradegerückt. Was Riezler aus dem im August/September 1914 - noch nach dem Rückzug an der Marne - von Siegeslaune und hochfliegenden Annexionsgelüsten beseelten kaiserlichen Hauptquartier berichtet, bestätige die aus dem "Septemberprogramm" abgeleiteten Fischer-Thesen. Der begründete Einwand, aus dem Septemberprogramm seien keine Rückschlüsse auf Ursprung und Verlauf der Julikrise 1914 zu ziehen, kommt in Krumreichs neuer (oder älteren) Sicht der Dinge nicht mehr vor.
II.
Die jüngste Ausnahme von der Regel ist die Erinnerung an ein in der Bundesrepublik gänzlich vergessenes Geschichtsdatum: an das Jahr 1866, genauer: an die Schlacht bei Königgrätz am 3. Juli 1866. Progammatisch betitelt Die Zeit (Nr.28/30.06.2016) einen lesenswerten Aufsatz von Hilmar Sack mit "Ein deutscher Vernichtungskrieg". Ging es auf preußischer und österreichischer Seite um einen klassischen Machtkonflikt der rivalisierenden Hegemonialmächte im Deutschen Bund, so wurden in der "öffentlichen Meinung" ideologisch-religiöse Schlachten geschlagen: Auf beiden Seiten beschwor man die Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg. In Preußen - die Ausnahme bildeten die altpreußischen Konservativen - ging es um den nachzuholenden Sieg der protestantischen Sache, in Österreich entdeckte man die alte katholisch-universal gefärbte Reichsidee wieder und warnte vor dem "Bruderkrieg". Die Nationalbewegung war seit 1848/49 gespalten, die bürgerlichen Liberalen neigten mehrheitlich zu Preußen, die großdeutschen Demokraten eher zu Österreich - dies zur Ergänzung.
Leicht befremdlich, von altbundesrepublikanischen Urteilen über den preußisch-deutschen Nationalstaat und dessen Verfehlungen geprägt, wirken Sacks Wertungen bezüglich der von "Tragikstolz" und nationalen Minderwertigkeitsfgefühlen, Nostalgie und Hybris insprierten Nationalbewegung: "Hier zeigt sich, wie nachhaltig sich die Erfahrungen extremer Gewalt und nicht verarbeiteter Schuld (sic! - Nonsens, H.A.) auf die politische Kultur in der nationalen Findungsphase auswirkten. Das offenbart insbesondere die konfessionelle Intonation der Kriegsauslegung." Die Kritik des Autors zielt auf die "erstaunliche religiöse Überfrachtung der Auseinandersetzung zwischen Österreich und Preußen". Daran knüpft er einen pädagogisch-kritisch gemeinten Schlußsatz: "Diesem Befund sollten wir uns gerade in heutiger Zeit stellen, da wir nicht selten mit einer Attitüde kultureller Überlegenheit auf andere Religionen und Weltregionen schauen." - Gewiß, Hybris ist unangebracht, nicht aber ein nüchterner Blick auf die real existierenden kulturellen Unterschiede und deren politische Manifestationen...
III.
In Kontrast zu dem skizzierten FAZ-Artikel entdeckt der aus dem Süddeutschen stammende Historiker und Publizist Eberhard Straub in seinem Aufsatz über den "Scheidungskrieg" (in der "Jungen Freiheit" nr. 27/01.07.2016, S.19) in der durch den "deutschen Bruderkrieg" revolutionierten mitteleuropäischen Geschichtslandschaft mancherlei ansprechende Züge. Dank Bismarcks auf Ausgleich mit dem besiegten Österreich bedachten Politik sei ein geradezu idealer Zustand begründet worden, in dem der Wechselbezug der Deutschen im neuen kleindeutschen Reich und der Deutschen im Vielvölkerstaat der Donaumonarchie eine kulturell ungemein fruchtbare Epoche hervorgebracht habe. Die auf ganz Europa ausstrahlende politisch-kulturelle Symbiose sei 1914 erschüttert worden, habe antithetisch - aufgespalten in (groß-)deutsch an Kant, Hegel und Marx geschulte Sozialisten und in einer älteren deutschen Reichsidee verpflichtete Legitimisten und/oder ständestaatlich orientierte Katholiken - noch nach dem Ende des Habsburgerreichs fortgewirkt. Ein Historiker wie Straub weiß, was hierzulande immer weniger - weniger als in der rot-weiß-roten Republik - wissen: Erst "nach 1945 schieden sich endgültig Deutsche und Österreicher".
Über die Österreicher von heute schreibt Straub: "Sie sind Österreicher ohne Heimweh nach einer fernen Geschichte, nicht einmal nach der Geschichte der Donaumonarchie. Sie genießen in ihren Bundesländern die Welt als Heimat. Denken sie sich an Feiertagen ins Weite, dann mit freundlichen Redensarten vom Westen und ´unserer´ europäischen ´Wertegemeinschaft´. Darin gleichen sie den Deutschen als Westdeutschen wie ein Zwilling."
Straub fährt fort: "Deutschland wiederum kommt sich sehr mondän vor, weltoffen und welthaltig. Doch es ist endgültig als Westdeutschland Provinz geworden. Mitteleuropa fehlt und wird nicht einmal vermißt. Die Deutschen schmoren im eigenen Saft, schecht gelaunt oder vorlaut, meist beides zur gleichen Zeit. Sie haben kein Hinterland mehr wie einst zusammen mit Österreich-Ungarn. Sie sind zu Fremden in Mitteleuropa, in Europa überhaupt geworden, seit sie etwas sein wollen, was sie nie waren, nämlich Westeuropäer und nur noch Westdeutsche." Treffender läßt sich der Bewußtseinszustand der Bundesrepublik nicht beschreiben. Auf historische Herausforderungen, die im Gefolge der Brexit-, EU- und Immigrationskrise unweigerlich auf sie zukommen, sind die Westdeutschen nicht vorbereitet.
Wer in der Bundesrepublik Deutschland das Faktum konstatiert, dass sich - in Ergänzung zu politisch-permanenten Bekenntnissen zu dem gerade dank Brexit leicht erschütterten EU-Europa - die Pflege des historischen Selbstverständnisses des Landes auf die bilderreiche Erinnerung an die NS-Diktatur und die Nazi-Verbrechen reduziert, handelt sich Ärger ein. Gereizte Ablehnung seitens der Diskursverwaltung ist die mildeste Reaktion. Gefährlicher ist die damit einhergehende Suggestion, mit einer solchen - "natürlich völlig unzutreffenden" - Behauptung- solle der von den Deutschen exekutierte Zivilisationsbruch überspielt, ja verharmlost werden. Im übrigen könne von einem geschichtlichen Reduktionismus keine Rede sein.
In der Tat, es gibt Ausnahmen von der Regel. Das Gedenkjahr 2014 gehörte dazu, als Christopher Clark mit seinem ins Deutsche übersetzten Buch "The Sleepwalkers" unter den mit gewissen historischem Bildungsansprüchen Ausgestatteten Irritationen auslöste. Die Erschütterung des maßgeblich von Fritz Fischer 1959/1961 etablierten Geschichtsbildes der Bundesrepublik scheint mittlerweile überstanden. Unlängst hat Gerd Krumreich, der zuvor als gemäßigter Revisionist bezüglich 1914-18 und 1919 (Versailles) hervorgetreten war (s. http://herbert-ammon.blogspot.de/2014/07/kriegsschulddebatte-fortsgerd-krumeich.html), mit einer "Wieder lesen!" übertitelten Rezension in der FAZ (v.18.05.2016) einer von dem Clark-Antipoden John G.C.Röhl herausgegebenen Sammlung von Briefen Kurt Riezlers an seine Geliebte und spätere Frau Käthe Liebermann die durch Clark verschobene Perspektive wieder geradegerückt. Was Riezler aus dem im August/September 1914 - noch nach dem Rückzug an der Marne - von Siegeslaune und hochfliegenden Annexionsgelüsten beseelten kaiserlichen Hauptquartier berichtet, bestätige die aus dem "Septemberprogramm" abgeleiteten Fischer-Thesen. Der begründete Einwand, aus dem Septemberprogramm seien keine Rückschlüsse auf Ursprung und Verlauf der Julikrise 1914 zu ziehen, kommt in Krumreichs neuer (oder älteren) Sicht der Dinge nicht mehr vor.
II.
Die jüngste Ausnahme von der Regel ist die Erinnerung an ein in der Bundesrepublik gänzlich vergessenes Geschichtsdatum: an das Jahr 1866, genauer: an die Schlacht bei Königgrätz am 3. Juli 1866. Progammatisch betitelt Die Zeit (Nr.28/30.06.2016) einen lesenswerten Aufsatz von Hilmar Sack mit "Ein deutscher Vernichtungskrieg". Ging es auf preußischer und österreichischer Seite um einen klassischen Machtkonflikt der rivalisierenden Hegemonialmächte im Deutschen Bund, so wurden in der "öffentlichen Meinung" ideologisch-religiöse Schlachten geschlagen: Auf beiden Seiten beschwor man die Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg. In Preußen - die Ausnahme bildeten die altpreußischen Konservativen - ging es um den nachzuholenden Sieg der protestantischen Sache, in Österreich entdeckte man die alte katholisch-universal gefärbte Reichsidee wieder und warnte vor dem "Bruderkrieg". Die Nationalbewegung war seit 1848/49 gespalten, die bürgerlichen Liberalen neigten mehrheitlich zu Preußen, die großdeutschen Demokraten eher zu Österreich - dies zur Ergänzung.
Leicht befremdlich, von altbundesrepublikanischen Urteilen über den preußisch-deutschen Nationalstaat und dessen Verfehlungen geprägt, wirken Sacks Wertungen bezüglich der von "Tragikstolz" und nationalen Minderwertigkeitsfgefühlen, Nostalgie und Hybris insprierten Nationalbewegung: "Hier zeigt sich, wie nachhaltig sich die Erfahrungen extremer Gewalt und nicht verarbeiteter Schuld (sic! - Nonsens, H.A.) auf die politische Kultur in der nationalen Findungsphase auswirkten. Das offenbart insbesondere die konfessionelle Intonation der Kriegsauslegung." Die Kritik des Autors zielt auf die "erstaunliche religiöse Überfrachtung der Auseinandersetzung zwischen Österreich und Preußen". Daran knüpft er einen pädagogisch-kritisch gemeinten Schlußsatz: "Diesem Befund sollten wir uns gerade in heutiger Zeit stellen, da wir nicht selten mit einer Attitüde kultureller Überlegenheit auf andere Religionen und Weltregionen schauen." - Gewiß, Hybris ist unangebracht, nicht aber ein nüchterner Blick auf die real existierenden kulturellen Unterschiede und deren politische Manifestationen...
III.
In Kontrast zu dem skizzierten FAZ-Artikel entdeckt der aus dem Süddeutschen stammende Historiker und Publizist Eberhard Straub in seinem Aufsatz über den "Scheidungskrieg" (in der "Jungen Freiheit" nr. 27/01.07.2016, S.19) in der durch den "deutschen Bruderkrieg" revolutionierten mitteleuropäischen Geschichtslandschaft mancherlei ansprechende Züge. Dank Bismarcks auf Ausgleich mit dem besiegten Österreich bedachten Politik sei ein geradezu idealer Zustand begründet worden, in dem der Wechselbezug der Deutschen im neuen kleindeutschen Reich und der Deutschen im Vielvölkerstaat der Donaumonarchie eine kulturell ungemein fruchtbare Epoche hervorgebracht habe. Die auf ganz Europa ausstrahlende politisch-kulturelle Symbiose sei 1914 erschüttert worden, habe antithetisch - aufgespalten in (groß-)deutsch an Kant, Hegel und Marx geschulte Sozialisten und in einer älteren deutschen Reichsidee verpflichtete Legitimisten und/oder ständestaatlich orientierte Katholiken - noch nach dem Ende des Habsburgerreichs fortgewirkt. Ein Historiker wie Straub weiß, was hierzulande immer weniger - weniger als in der rot-weiß-roten Republik - wissen: Erst "nach 1945 schieden sich endgültig Deutsche und Österreicher".
Über die Österreicher von heute schreibt Straub: "Sie sind Österreicher ohne Heimweh nach einer fernen Geschichte, nicht einmal nach der Geschichte der Donaumonarchie. Sie genießen in ihren Bundesländern die Welt als Heimat. Denken sie sich an Feiertagen ins Weite, dann mit freundlichen Redensarten vom Westen und ´unserer´ europäischen ´Wertegemeinschaft´. Darin gleichen sie den Deutschen als Westdeutschen wie ein Zwilling."
Straub fährt fort: "Deutschland wiederum kommt sich sehr mondän vor, weltoffen und welthaltig. Doch es ist endgültig als Westdeutschland Provinz geworden. Mitteleuropa fehlt und wird nicht einmal vermißt. Die Deutschen schmoren im eigenen Saft, schecht gelaunt oder vorlaut, meist beides zur gleichen Zeit. Sie haben kein Hinterland mehr wie einst zusammen mit Österreich-Ungarn. Sie sind zu Fremden in Mitteleuropa, in Europa überhaupt geworden, seit sie etwas sein wollen, was sie nie waren, nämlich Westeuropäer und nur noch Westdeutsche." Treffender läßt sich der Bewußtseinszustand der Bundesrepublik nicht beschreiben. Auf historische Herausforderungen, die im Gefolge der Brexit-, EU- und Immigrationskrise unweigerlich auf sie zukommen, sind die Westdeutschen nicht vorbereitet.
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